von Tobias Prüwer
Für eine bodenlose Philosophie? Leszek Kolakowski - eine Interpretationsskizze
[Mithin] stellt das Philosophieren einen außergewöhnlichen Beruf dar.
Es ist wahrlich erstaunlich, wieviel Mühe fast alle Meister, Gesellen und
Lehrlinge dieser Profession Überlegungen über Sinn, Berechtigung und
Bestimmung der eigenen Berufsfähigkeit opfern: ein klarer Beweis für
das unruhige Gewissen der Philosophen, die offenbar unaufhörlich erneuerter
Rechtfertigungen für sich und einer permanenten Selbstbestätigung bedürfen
und ihre schwankenden Positionen durch getarntes kollektives Selbstlob zu stützen
versuchen.[1]
Philosophie ist ein bedenkliches Unterfangen. Unermüdlich der Wahrheit
nachspürend und um abschließende Antworten bemüht, befindet
sie sich über ihren eigenen Status eher im Ungewissen. Damit ist dieses
investigative Abenteuer immer auch in Metaphilosophisches, in „Philosophie-Philosophie“[2]
verstrickt. Diese unentwegte Begründungsleistung und legitimatorische Mühsal
der Philosophierenden ist das zentrale Thema von Leszek Kolakowski. Der gebürtige
Pole nimmt in seinen Arbeiten das Projekt der Weisheitsliebe und das philosophische
Selbstverständnis aus vielen Winkeln in den Blick. Der nachfolgende Text
möchte den Denker in seiner Gelassenheit gegenüber Ungewissheit und
dem Fragwürdigen der Philosophie skizzieren. Die hierbei zur Anwendung
gekommene Freiheit in der Interpretation trägt nicht zuletzt dem essayistischen
Element in Kolakowskis Schriften Rechnung.

Auf der Suche nach der verlorenen Gewißheit
Geboren 1927 in Radom, promovierte Kolakowski nach einem Studium in Lodz an
der Warschauer Universität. Hier wurde er 1964 zum Professor berufen. Er
beteiligte sich an Diskussionen junger, linker Kreise, die Kritik an bestimmten
Doktrinen des Marxismus übten und für dessen Erneuerung eintraten.
Aufgrund seines Einflusses auf die Jugend und der Unterstützung oppositioneller
Studierender wurde er 1966 aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und
erhielt zwei Jahre später Lehrverbot. Daraufhin reiste er aus und nahm
ab 1970 die Lehrtätigkeit in Oxford wieder auf. Seine vornehmlich der Philosophiegeschichte
gewidmeten Arbeiten stießen in seiner Heimat trotz Druckverbots auf große
Resonanz. Als wichtigster lebender Philosoph Polens geltend, erhielt er zahlreiche
Auszeichnungen, darunter den „Friedenspreis des Deutschen Buchhandels“.
Obwohl oder aufgrund Kolakowskis vollzogenem intellektuell-politischen Wandel
vom pro-kommunistischen Reformer zum zurückhaltend-konservativen Liberalen
ist das zentrale Motiv seines Denkens stets das der Vermittlung geblieben.[3]
Dieses zwischen starren Positionen vermittelnde, sich gegen
Absolutsetzungen sträubende Moment ist für Kolakowski umso wichtiger,
erblickt er doch im antinomischen Denken einen Wesenszug der conditio humana,
der sich im philosophischen Diskurs radikal niederschlägt. Der unaufhebbare
Dualismus von Kontingenz und Transzendenz, dem empirisch-geworfenen Dasein und
die sich darüber hinaus entwerfende Sinnsuche, ist dem philosophischen
Denken Motor und Krisis zugleich. Hieraus resultiert „das peinliche Dilemma
des Wissens“, das scheinbar nur zwei Fluchtwege zur Option stellt:
...entweder konsequenter Empirismus mit seinen relativistischen, skeptizistischen
Resultaten (ein Standpunkt, den viele für entmutigend, unstatthaft und
in der Tat ruinös für die Kultur halten) oder transzendentalistischer
Dogmatismus, der sich nicht wirklich selbst rechtfertigen kann und am Ende willkürlicher
Entschluß bleibt.[4]
Angesichts dieses Dilemmas befindet sich die Philosophie unablässig auf
der „Suche nach der verlorenen Gewißheit“[5]. Das metaphysische
Fragen – jenes nach letzten Gründen Spüren – hat nichts
an Aktualität verloren. Schließlich sind alle Rückgriffe auf
Absolutes oder ein Ganzes bis dato systematisch gescheitert – haben vielleicht
eine Weile das skeptischen Mütchen gekühlt – und die seit dem
Projektstart umtriebigen Fragen haben noch keine zufriedenstellende Antwort
erfahren. Eine abschließende Lösung ist nach Kolakowski auch nicht
zu erwarten. Vielmehr werden permanent neue Antworten hervorgebracht, die sich
in ihrer Überzeugungskraft je nach historischem Kontext und philosophischem
Zeitgeist abwechseln. So ist es gerade jener „horror metaphysicus“[6],
welcher den philosophischen Diskurs so produktiv umtreibt und ihn nicht zur
Ruhe kommen läßt.[7] weshalb „die Philosophie – genau
wie Peter Pan – niemals reif wird.“[8] Derart charakterisiert, gewinnt
die Philosophie – ohne daß Kolakowski dies so genannt hätte
– eine prozedurale Eigenheit, und die Absenz der Letztbegründung
wird quasi zu ihrem legitimatorischen Prinzip.[9]
Diese nicht auf die Philosophie beschränkte Einsicht, die sich selbstredend
nicht als Schlußwort gibt, sollte nicht als Ausdruck von Entscheidungslosigkeit
oder faules Schulternzucken mißverstanden werden. Beliebigkeit ist Kolakowskis
Sache nicht.[10] Er versucht vielmehr sich in einer nicht resignativen Skepsis
fern von dogmatischen Setzungen zu halten und anerkennt, daß in Diskursen
durchaus alle streitenden Parteien gute Gründe anführen können.
Die jeweiligen Geltungsansprüche sind nicht immer gegeneinander aufzuwiegen
und zum allseitigen Einverständnis aufzulösen, wie Konsensfetischisten
gerne Glauben machen. Angesichts eines vorherrschenden Entscheidungsimperativs
ist Kolakowski daher bemüht um Gespräch und Diskussion, versucht Einseitigkeiten
zu hintergehen, sich im Dazwischen zu bewegen und Positionen ins Verhältnis
zu setzen. Findet Leben im Spannungsfeld statt, so ist für Kolakowski die
rationalistische Reduktion einseitig und verkürzend: Erst im vitalen Dualismus
von kritischer Vernunft und Mythos[11] entfaltet sich das Menschsein. Mag die
mythische Kategorie für Kolakowski selbst ein religiöser Rettungsanker
vor eigenem Sinnverlust sein, so ist sie groß genug, um für vielerlei
Platz zu halten und reduktionistischen Ansprüchen in Vielfalt zu entrinnen:
Es geht uns um die Vision einer Welt, in der die am schwersten zu vereinbaren
Elemente menschlichen Handelns miteinander verbunden sind, kurz, es geht uns
um Güte ohne Nachsicht, Mut ohne Fanatismus, Intelligenz ohne Verzweiflung
und Hoffnung ohne Verblendung. Alle anderen Früchte philosophischen Denkens
sind unwichtig.[12]
Folgerichtig zu solcherart sympathischen Pragmatismus charakterisiert Kolakowski
in dem vielbeachteten Aufsatz „Lob der Inkonsequenz“[13] diese als
Quelle der Toleranz und Grundlage eines oft gescholtenen Pluralismus[14]. Ist
gerade der unauflösbare Widerstreit eine produktive Instanz, dann ist natürlich
nur die Haltung eines inkonsequenten Inkonsequenzialismus vertretbar.[15] Angesichts
der Gleichrangigkeit konkurrierender Werte gilt es für Kolakowski, den
Diskurs offen zu halten und gerade das disharmonische Element zu stärken:
[E]s ist eher der Konflikt der Werte als deren Harmonie, was unsere Kultur
am Leben hält.[16]
Widerspruch gern und bewußt in Kauf nehmend, zeichnet Kolakowskis Betrachtungen
eine gewisse Leichtigkeit angesichts der großen philosophischen Plagen
und letzten Fragen aus. Seine Schriften sind getragen vom Ironischen –
Titel wie „Die großen und die kleinen Komplexe der Humanisten“
und „Erkenntnistheorie des Strip-tease“[17] kündigen dies bereits
an – und einem essayistischen Element, das zumeist pointiert trifft, manchmal
aber haarscharf am Trivialen vorbeischrammt, weil sich nicht jede Frage auf
einige Paragraphen verkürzen läßt.[18] Bestechend ist das Dialogische
in seinen Texten, was kein Zufall ist, sieht er doch in Sokrates den philosophischen
Archetypus: „Ein moderner Philosoph, der nie das Gefühl gehabt hat,
ein Scharlatan zu sein, ist dermaßen seicht, daß es wahrlich nicht
lohnt, seine Werke zu lesen.“[19] Das kann man von den Schriften des Leszek
Kolakowski nicht sagen. Im Gegenteil, gerade die affirmative Skepsis macht die
Lektüre so instruktiv und läßt sie verstehen als Plädoyer
für eine bedenkliche Philosophie ohne Netz und doppelten Boden, ein Projekt,
das um die eigene Abgründigkeit weiß.
Möglicherweise kommt in diesem Zweifel das schlechte Gewissen der Philosophie
zum Ausdruck; dieses schlechte Gewissen scheint immerhin fast ebenso alt zu
sein, wie die Philosophie selber. Ihr Fortdauern verdankt Philosophie aber dem
niemals endenden Sich-selbst-in-Frage-Stellen, und vielleicht bedarf sie, um
weiterzubestehen, die Unsicherheit ihres Legitimationsprinzips.[20]
Anmerkungen
[1] Kolakowskis Schriften werden hier wie im folgenden lediglich mit Jahres-
und Seitenangabe zitiert: 1967; 7.
[2] Der Terminus ist geborgt von Richard Raatzschs vorzüglicher
Schrift Philosophie-Philosophie. (Stuttgart 2000)
[3] Politische Einsicht oder gewisse Gelassenheit: „Ich bin der Ansicht,
daß wir entweder an eine vollkommene Gesellschaft denken können,
oder an eine Gesellschaft, in der das Leben erträglich ist.“ („Inkonsequenter
Geist“; in: DIE ZEIT vom 12. März 1971; 3)
[4] 1977a; 95
[5] 1977a
[6] 1989
[7] „Wir werden uns nie von der Versuchung befreien können, die Welt
als eine Geheimschrift zu sehen, zu der wir hartnäckig den Schlüssel
zu finden versuchen. Und warum sollten wir uns eigentlich von dieser Versuchung
befreien, die für alle Zivilisationen mit Ausnahme der unseren (oder zumindest
ihrer vorherrschenden Tendenz) die fruchtbarste Quelle gewesen ist?“ (1989;
146)
[8] 1989; 122
[9] „[O]ffenbar fühlt sich die Philosophie, wenn sie ein beständiges
Bedürfnis nach Rechtfertigung ihrer eigenen Existenz verspürt, nicht
wohl in der eigenen Haut und empfindet sich trotz allem als etwas Unnatürliches
[...] Das heißt, sofern die Philosophie eine >natürliche Sache<
ist, ist auch die Eigenschaft, sich selbst als etwas >Unnatürliches<
zu erleben, natürlich, denn sie realisiert das Bewußtsein der Welt,
deren Natur darin besteht, daß sie gegen die Natur aufgestanden ist.“
(1967; 32)
[10] Allerdings kann Kolakowskis Position für zu angestrengt Wahrheitssuchende
und darum Verzweifelnde „auf einen praktischen Ratschlag hinaus[...]laufen:
Kümmere dich nicht mehr um die Philosophie, und falls du unglücklicherweise
Philosoph bist, solltest du dich besser nach einem anständigeren Job umsehen
und Krankenpfleger, Priester, Klempner oder Zirkusclown werden“. (1989;
12)
[11] Hierunter fallen, um es salopp zu sagen, alle metaphysischen Versatzstücke,
bezüglich welcher die rationalen Register klemmen, seien es religiöse
Überzeugungen, naturästhetische Wallungen oder gewohnheitsmäßige
Macken.
[12] 1987; 44
[13] in: 1976; 238-49
[14] Hier ernsthaft verstanden, also nicht als jenes Label für soziale
Systeme, in denen noch immer Leitkulturen ausgerufen werden und Tradiertes zum
Strohhalm wird, weil hier Pluralismus eben doch kein Wert an sich ist.
[15] „Wir protestieren nämlich dagegen, die Inkonsequenz in vollendeter
Gewalt anzuwenden.“ (1976; 249)
[16] 1977a; 96
[17] beide in: 1967; 33-50 & 183-205
[18] Das ist insbesondere in den „Mini-Traktaten“ erfahrbar.
[19] 1989; 7
[20] 1977b; 7
Literatur
1963: Gespräche mit dem Teufel – Acht Diskurse über das Böse;
München 21975.
1967: Traktat über die Sterblichkeit der Vernunft – Philosophische
Essays; München.
1972: Die Gegenwärtigkeit des Mythos; München 21974.
1976: Der Mensch ohne Alternative – Von der Möglichkeit und Unmöglichkeit
Marxist zu sein, München.
1977a: Die Suche nach der verlorenen Gewißheit; Stuttgart & Berlin
& Köln & Mainz.
1977b: Zweifel an der Methode; Stuttgart & Berlin & Köln &
Mainz.
1987: Narr und Priester; Frankfurt / M.
1989: Horror metaphysicus – Das Sein und das Nichts; München &
Zürich.
2000: Mini-Traktate über Maxi-Themen; Leipzig.
2002: Neue Mini-Traktate über Maxi-Themen; Leipzig.