von Eva Mahnke
Philosophie auf Sparflamme in Budapest
Zum Philosophiestudieren sollte man lieber nicht nach Budapest gehen, es sei
denn, man spräche schon Ungarisch oder man hätte seinen deutschen
Abschluss schon in der Tasche und hätte das Glück für ein Postgraduate-Studium
an der Central European University aufgenommen worden zu sein. Dann ist es wohl
möglich am philosophischen Diskurs dieser Stadt und dieses Landes teilzunehmen.
Ist dies nicht der Fall und geht man dennoch nach Budapest, zum Beispiel als
Erasmus-Student, und studiert man eigentlich Philosophie, so muss man stark
improvisieren. Als Rückzugsort für das Unternehmen ist die Bibliothek
besagter University, die man auch als nicht-ordentlicher Student benutzen darf,
ein vortrefflicher Platz. Noch für das Studium in Deutschland ausstehende
Hausarbeiten lassen sich an diesem Ort, der sich durch eine intensiv flirrende
Arbeitsatmosphäre auszeichnet, angenehm anfertigen.

Haupteingang der Central European University
Einzige Bedingung ist die Beantragung des guest status, welcher nur mit Hilfe der Autorität und
Bürgschaft eines ungarischen Professors oder Dozenten sowie unter Angabe
des Forschungsvorhabens erfolgen kann. Ist dieser genehmigt, erhält man
Zugang zur Philosophie und allen weiteren Geistes- und Sozialwissenschaften,
reichhaltig in Papier- und in elektronischer Form. Umgeben von Postgraduierten
vor allem osteuropäischer Staaten versucht man dann während seines
Aufenthaltes Kontakt zur Philosophie zu halten. Der stillen Rückzugsorte
stehen viele zur Verfügung in Budapest und dem Bibliotheksfetischisten
hat die Stadt einiges zu bieten. Absolute Krönung ist die Stadtbibliothek,
welche eher einem Museum gleicht, die bequemsten Philosophensessel bereit hält,
die man sich denken kann (siehe Photo) und deutsche Philosophen in Originalsprache
in den Regalen beherbergt.

Die Philosophensessel in der Stadtbibliothek
Doch ist man ja zum Studium und nicht Selbst-Studium ins Ausland
gegangen. Eine der größten Universitäten der Stadt und des Landes[1]
ist die Eötvös-Loránd-Egyetem, für die man nach stundenlangem
Anstehen inmitten von unheimlich geduldig wartenden ungarischen Studenten vor
einem kleinen Büro und nach Einzahlung von 500 Forint (2 Euro) am Schalter
der Postbank einen Studentenausweis erhält. Bevor man jedoch versuchen
kann, philosophisch aktiv zu werden, müssen noch einige Hindernisse überwunden
werden. Hat man nämlich seinen Erasmus-Platz über ein anderen deutschen
Fachbereich bekommen, sagen wir, den der Geographie, so ist man – offiziell
- in Ungarn auch nur in diesem eingeschrieben und dürfte – offiziell
– auch nur an der entsprechenden Fakultät studieren. Um nicht nur
an der Naturwissenschaftlichen, sondern auch an der Geisteswissenschaftlichen
Fakultät legal auftreten zu können, sind argumentative Fähigkeiten
erforderlich, die das Vorhaben, ohne jegliche Sprachkenntnisse an den rein ungarischsprachigen
Kursen teilnehmen zu wollen, als ansatzweise vernünftig erscheinen lassen.[2]
Ist die Überzeugung gelungen, so findet man folgende Verhältnisse
vor: Das Vorlesungsverzeichnis, welches als Liste, die lediglich die Veranstaltungstitel
erwähnt, im Institut aushängt, erscheint auf den ersten Blick ungeheuer
umfangreich. Dieser Eindruck relativiert sich allerdings, sobald man erfährt,
dass das gesamte Angebot des Instituts Semester für Semester vollständig
wiederholt wird. Es ist stark kanonorientiert und lässt die Studenten leider
wenig teilhaben an der aktuellen Forschungsarbeit der Lehrenden. Zwar bestehen
für die Studenten hinsichtlich ihrer Seminare und Vorlesungen Wahlmöglichkeiten,
nicht jedoch so weitreichend wie dies in Deutschland der Fall ist. Die Seminare
sind übersichtlich; es kommt vor, dass, selbst wenn Klassiker wie die Nikomachische
Ethik behandelt werden, nur drei Studenten hieran teilnehmen. Referate werden
kaum gehalten, die Debatten verlaufen recht zivilisiert und mit sehr großem
Redebeitrag des Lehrenden. Zu Semesterende müssen die Studenten kleine
Essays zu selbst gewählten Themen schreiben. Diese Aufgabe verschont sie
teilweise davor, in jedem einzelnen Kurs am Ende jeden Semesters eine Prüfung
ablegen zu müssen. Im Gegensatz zu der übrigen ungarischen Studentenschaft,
die jedes halbe Jahr vier bis sechs Wochen lang Prüfungen hat[3], haben
die Philosophen also ein etwas ruhigeres Leben.

Budapest hat einiges zu bieten: Blick über die Donau auf das Parlamentsgebäude
Hat man sich während des ersten Semesters bei den Magyaren vor allem der
Sprache gewidmet, kann man während seines zweiten Semesters bei entsprechender
Aufbereitung des nötigen Vokabulars den Veranstaltungen einigermaßen
folgen. Ein wirklich effizientes Philosophiestudieren würde jedoch wahrscheinlich
erst im dritten Semester möglich. In jedem Fall gilt: man ist froh über
jeden englischen Sprachfetzen, der dem Hirn Entspannung gönnt. Große
Neuerung des Sommersemesters 2005 war das Angebot eines englischsprachigen Seminars,
welches abwechselnd von drei Studenten der schon erwähnten Central European
University gehalten wurde und die „Introduction to Analytical Philosophy“
zum Thema hatte. Zu ein wenig Einblick in das philosophische Treiben der Ungarn
kann einem überraschenderweise auch ein niederländischer Philosoph
verhelfen, welcher eigens von der Magyar Tudomány Akadémia (die
Ungarische Akademia der Wissenschaften) bestellt wurde, um sich mit der ungarischen
Philosophie zu beschäftigen (Als ich ihn in einem Kavéház
traf, las er allerdings gerade Feuerbach.) Neben solchen überraschenden
Angeboten empfiehlt es sich allerdings interdisziplinär zu studieren und
über die weit gestreute Erasmus-Community einige englischsprachige Seminare
in Erfahrung zu bringen und nach Überwindung der bürokratischen Hürden
zu besuchen (die Juristenfakultät zum Beispiel hatte einiges Interessantes
zu bieten).
Wie sehr einem, so stark man vielleicht versucht, sie in Deutschland zu umgehen,
die englische Sprache als ein Kommunikation auf sehr leichte Weise ermöglichendes
Medium ans Herz wächst, ist in jedem Fall bemerkenswert. Bemerkenswert
jedoch auch die ungarische Sprache, die während der ersten Begegnungen
noch wie ein Murmeln erscheint und kaum die Vereinzelung einzelner Worte erlaubt.
Nach einer Weile aber lernt man sie zu bändigen, lernt ihren agglutinierenden
Charakter zu schätzen, der bisweilen die Stammworte durch Anfügen
diverser für die Kommunikation bestimmter Sachverhalte notwendiger Endungen
doppelt so lang werden lässt (a barát = der Freund, a barátaimhoz
= zu meinen Freunden hin) und hinsichtlich der Bestimmung der Gesamtzahl ungarischer
Fälle für reichlich Verwirrung sorgt. Zwischen 16 und 24 Fällen
werden gezählt. Von Zeit zu Zeit kommt die Sprache einem aber auch entgegen:
„Pech“ und „schlagfertig“ zum Beispiel sind waschechte
ungarische Vokabeln, die man nicht noch einmal extra zu lernen braucht. Angenehm
und eselsbrückengeeignet ist die Magyarensprache zudem, wie folgende Worte
belegen: wurstiges Brot (Wurstbrot) und milchiger Kaffee (Milchkaffee), Körperblut
(Bruder oder Schwester), Geldsachen (Finanzsektor), Marktreichtum (Marktwirtschaft).

Eine der zahlreichen schicken Donaubrücken bei Nacht, im Hintergrund die
angestrahlte Burg
Die Improvisation des Philosophiestudiums kostet natürlich eine Menge Energie.
Um diesem Problem zu begegnen, stehen den Studenten jedoch, verglichen mit deutschen
Verhältnissen, von universitärer Seite nur ungenügende Nahrungsquellen
zur Verfügung. Hinter „büfé“ versteckt sich die
Cafeteria einer Universität: hier gibt es Tiefkühlpizza, notdürftig
belegte Brötchen, manchmal ein paar „Spalt-Kartoffeln“ (so
die Bezeichnung für Pommes frites), natürlich Kaffee. Mensen sind
eher selten. Äußerst empfehlenswert daher die fozelék-Bars.
Fozelék gibt es mit den unterschiedlichsten Gemüsen und meint das
Servieren derselben in sehr weich gekochtem Zustand in einer dicken mehlschwitzenartigen
Sauce. Zum Nachtisch und auch sonst bei allen Gelegenheit sei einem turórudi
(Quark-Rudi) ans Herz gelegt: hierbei handelt es sich um pur oder mit unterschiedlichen
Fruchtzusätzen versehene, gekühlte Quarkstangen, welche mit Schokolade
umhüllt sind und die Ungarn mit Stolz erfüllen. Stolz, das sind die
Ungarn im Allgemeinen sehr – ob es sich nun um ihre Sprache, ihre Geschichte
oder Kultur handelt. Kein Ungar, so schien es, der nicht detailreich und enthusiastisch
über die wechselhafte und die Ungarn noch immer mit Bedauern erfüllende
Geschichte zu berichten wüsste. Ungarn, so sagen sie, sei das einzige Land
auf der Welt, welches von sich selbst umgeben sei. 4 Millionen Ungarnstämmige
leben, nachdem das Land 1918 zwei Drittel seiner Gebiete abtreten musste, in
den angrenzenden Staaten. (Ungarn selbst hat 10 Millionen Einwohner.) So ist
ihr Stolz ein wenig gekennzeichnet von ihrer einstigen Größe innerhalb
der österreichisch-ungarischen Monarchie, teilweise jedoch auch von dem
Gefühl sich behaupten zu müssen. Wie berechtigt ihr Stolz in Bezug
auf die ungarischen Philosophen wie z.B. György Lucács ist, konnte
das Provisorium Philosophiestudium leider nicht mehr ans Licht bringen.
Anmerkungen
[1] In den meisten Fällen lohnt es kaum, diese Unterscheidung
zu treffen, da Budapest ein Fünftel der ungarischen Einwohnerschaft auf
sich vereinigt und unbestreitbares Zentrum des Landes ist. Fast alles, was von
gesellschaftlicher Bedeutung ist, findet hier statt. Spürbar ist dies –
allerdings nur, wenn man einen kundigen Ungarn an seiner Seite hat – an
der Dichte der Persönlichkeiten aus Politik und Medien, die man auf der
Strasse zu Gesicht bekommt.
[2] Zur Erklärung: Ausgegangen wurde bei dieser Argumentation von der
Annahme, dass erstens ein Philosoph sich nicht ganze zehn Monate außerhalb
seines Faches aufhalten sollte, dass zweitens die Teilnahme an solchen Seminaren
die Chance darauf erhöht, angehende ungarische Philosophen zu treffen und
dass drittens die Maximierung der Zeit der täglichen Beschallung mit der
anfangs noch kryptischen Sprache die Wahrscheinlichkeit, diese bald in befriedigender
Weise sprechen zu können, erhöht.
[3] Dies ist insofern bemerkenswert, als das in dieser Zeit die Stadt vom Bild
der dauergestressten Studenten geprägt ist, die keine anderen Gesprächsthemen
als ihre Prüfungen mehr kennen.