logo logo

Erschienen in: Ausgabe #6 vom Juli 2006


von Eva Mahnke

Philosophie auf Sparflamme in Budapest

Fotostrecke Fotostrecke

Fotostrecke Budapest, Ungarn


Zum Philosophiestudieren sollte man lieber nicht nach Budapest gehen, es sei denn, man spräche schon Ungarisch oder man hätte seinen deutschen Abschluss schon in der Tasche und hätte das Glück für ein Postgraduate-Studium an der Central European University aufgenommen worden zu sein. Dann ist es wohl möglich am philosophischen Diskurs dieser Stadt und dieses Landes teilzunehmen. Ist dies nicht der Fall und geht man dennoch nach Budapest, zum Beispiel als Erasmus-Student, und studiert man eigentlich Philosophie, so muss man stark improvisieren. Als Rückzugsort für das Unternehmen ist die Bibliothek besagter University, die man auch als nicht-ordentlicher Student benutzen darf, ein vortrefflicher Platz. Noch für das Studium in Deutschland ausstehende Hausarbeiten lassen sich an diesem Ort, der sich durch eine intensiv flirrende Arbeitsatmosphäre auszeichnet, angenehm anfertigen.

Central European University

Haupteingang der Central European University

Einzige Bedingung ist die Beantragung des guest status, welcher nur mit Hilfe der Autorität und Bürgschaft eines ungarischen Professors oder Dozenten sowie unter Angabe des Forschungsvorhabens erfolgen kann. Ist dieser genehmigt, erhält man Zugang zur Philosophie und allen weiteren Geistes- und Sozialwissenschaften, reichhaltig in Papier- und in elektronischer Form. Umgeben von Postgraduierten vor allem osteuropäischer Staaten versucht man dann während seines Aufenthaltes Kontakt zur Philosophie zu halten. Der stillen Rückzugsorte stehen viele zur Verfügung in Budapest und dem Bibliotheksfetischisten hat die Stadt einiges zu bieten. Absolute Krönung ist die Stadtbibliothek, welche eher einem Museum gleicht, die bequemsten Philosophensessel bereit hält, die man sich denken kann (siehe Photo) und deutsche Philosophen in Originalsprache in den Regalen beherbergt.

Stadtbibliothek

Die Philosophensessel in der Stadtbibliothek

Doch ist man ja zum Studium und nicht Selbst-Studium ins Ausland gegangen. Eine der größten Universitäten der Stadt und des Landes[1] ist die Eötvös-Loránd-Egyetem, für die man nach stundenlangem Anstehen inmitten von unheimlich geduldig wartenden ungarischen Studenten vor einem kleinen Büro und nach Einzahlung von 500 Forint (2 Euro) am Schalter der Postbank einen Studentenausweis erhält. Bevor man jedoch versuchen kann, philosophisch aktiv zu werden, müssen noch einige Hindernisse überwunden werden. Hat man nämlich seinen Erasmus-Platz über ein anderen deutschen Fachbereich bekommen, sagen wir, den der Geographie, so ist man – offiziell - in Ungarn auch nur in diesem eingeschrieben und dürfte – offiziell – auch nur an der entsprechenden Fakultät studieren. Um nicht nur an der Naturwissenschaftlichen, sondern auch an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät legal auftreten zu können, sind argumentative Fähigkeiten erforderlich, die das Vorhaben, ohne jegliche Sprachkenntnisse an den rein ungarischsprachigen Kursen teilnehmen zu wollen, als ansatzweise vernünftig erscheinen lassen.[2] Ist die Überzeugung gelungen, so findet man folgende Verhältnisse vor: Das Vorlesungsverzeichnis, welches als Liste, die lediglich die Veranstaltungstitel erwähnt, im Institut aushängt, erscheint auf den ersten Blick ungeheuer umfangreich. Dieser Eindruck relativiert sich allerdings, sobald man erfährt, dass das gesamte Angebot des Instituts Semester für Semester vollständig wiederholt wird. Es ist stark kanonorientiert und lässt die Studenten leider wenig teilhaben an der aktuellen Forschungsarbeit der Lehrenden. Zwar bestehen für die Studenten hinsichtlich ihrer Seminare und Vorlesungen Wahlmöglichkeiten, nicht jedoch so weitreichend wie dies in Deutschland der Fall ist. Die Seminare sind übersichtlich; es kommt vor, dass, selbst wenn Klassiker wie die Nikomachische Ethik behandelt werden, nur drei Studenten hieran teilnehmen. Referate werden kaum gehalten, die Debatten verlaufen recht zivilisiert und mit sehr großem Redebeitrag des Lehrenden. Zu Semesterende müssen die Studenten kleine Essays zu selbst gewählten Themen schreiben. Diese Aufgabe verschont sie teilweise davor, in jedem einzelnen Kurs am Ende jeden Semesters eine Prüfung ablegen zu müssen. Im Gegensatz zu der übrigen ungarischen Studentenschaft, die jedes halbe Jahr vier bis sechs Wochen lang Prüfungen hat[3], haben die Philosophen also ein etwas ruhigeres Leben.

Parlamentsgebäude

Budapest hat einiges zu bieten: Blick über die Donau auf das Parlamentsgebäude

Hat man sich während des ersten Semesters bei den Magyaren vor allem der Sprache gewidmet, kann man während seines zweiten Semesters bei entsprechender Aufbereitung des nötigen Vokabulars den Veranstaltungen einigermaßen folgen. Ein wirklich effizientes Philosophiestudieren würde jedoch wahrscheinlich erst im dritten Semester möglich. In jedem Fall gilt: man ist froh über jeden englischen Sprachfetzen, der dem Hirn Entspannung gönnt. Große Neuerung des Sommersemesters 2005 war das Angebot eines englischsprachigen Seminars, welches abwechselnd von drei Studenten der schon erwähnten Central European University gehalten wurde und die „Introduction to Analytical Philosophy“ zum Thema hatte. Zu ein wenig Einblick in das philosophische Treiben der Ungarn kann einem überraschenderweise auch ein niederländischer Philosoph verhelfen, welcher eigens von der Magyar Tudomány Akadémia (die Ungarische Akademia der Wissenschaften) bestellt wurde, um sich mit der ungarischen Philosophie zu beschäftigen (Als ich ihn in einem Kavéház traf, las er allerdings gerade Feuerbach.) Neben solchen überraschenden Angeboten empfiehlt es sich allerdings interdisziplinär zu studieren und über die weit gestreute Erasmus-Community einige englischsprachige Seminare in Erfahrung zu bringen und nach Überwindung der bürokratischen Hürden zu besuchen (die Juristenfakultät zum Beispiel hatte einiges Interessantes zu bieten).

Wie sehr einem, so stark man vielleicht versucht, sie in Deutschland zu umgehen, die englische Sprache als ein Kommunikation auf sehr leichte Weise ermöglichendes Medium ans Herz wächst, ist in jedem Fall bemerkenswert. Bemerkenswert jedoch auch die ungarische Sprache, die während der ersten Begegnungen noch wie ein Murmeln erscheint und kaum die Vereinzelung einzelner Worte erlaubt. Nach einer Weile aber lernt man sie zu bändigen, lernt ihren agglutinierenden Charakter zu schätzen, der bisweilen die Stammworte durch Anfügen diverser für die Kommunikation bestimmter Sachverhalte notwendiger Endungen doppelt so lang werden lässt (a barát = der Freund, a barátaimhoz = zu meinen Freunden hin) und hinsichtlich der Bestimmung der Gesamtzahl ungarischer Fälle für reichlich Verwirrung sorgt. Zwischen 16 und 24 Fällen werden gezählt. Von Zeit zu Zeit kommt die Sprache einem aber auch entgegen: „Pech“ und „schlagfertig“ zum Beispiel sind waschechte ungarische Vokabeln, die man nicht noch einmal extra zu lernen braucht. Angenehm und eselsbrückengeeignet ist die Magyarensprache zudem, wie folgende Worte belegen: wurstiges Brot (Wurstbrot) und milchiger Kaffee (Milchkaffee), Körperblut (Bruder oder Schwester), Geldsachen (Finanzsektor), Marktreichtum (Marktwirtschaft).

Donaubrücke

Eine der zahlreichen schicken Donaubrücken bei Nacht, im Hintergrund die angestrahlte Burg

Die Improvisation des Philosophiestudiums kostet natürlich eine Menge Energie. Um diesem Problem zu begegnen, stehen den Studenten jedoch, verglichen mit deutschen Verhältnissen, von universitärer Seite nur ungenügende Nahrungsquellen zur Verfügung. Hinter „büfé“ versteckt sich die Cafeteria einer Universität: hier gibt es Tiefkühlpizza, notdürftig belegte Brötchen, manchmal ein paar „Spalt-Kartoffeln“ (so die Bezeichnung für Pommes frites), natürlich Kaffee. Mensen sind eher selten. Äußerst empfehlenswert daher die fozelék-Bars. Fozelék gibt es mit den unterschiedlichsten Gemüsen und meint das Servieren derselben in sehr weich gekochtem Zustand in einer dicken mehlschwitzenartigen Sauce. Zum Nachtisch und auch sonst bei allen Gelegenheit sei einem turórudi (Quark-Rudi) ans Herz gelegt: hierbei handelt es sich um pur oder mit unterschiedlichen Fruchtzusätzen versehene, gekühlte Quarkstangen, welche mit Schokolade umhüllt sind und die Ungarn mit Stolz erfüllen. Stolz, das sind die Ungarn im Allgemeinen sehr – ob es sich nun um ihre Sprache, ihre Geschichte oder Kultur handelt. Kein Ungar, so schien es, der nicht detailreich und enthusiastisch über die wechselhafte und die Ungarn noch immer mit Bedauern erfüllende Geschichte zu berichten wüsste. Ungarn, so sagen sie, sei das einzige Land auf der Welt, welches von sich selbst umgeben sei. 4 Millionen Ungarnstämmige leben, nachdem das Land 1918 zwei Drittel seiner Gebiete abtreten musste, in den angrenzenden Staaten. (Ungarn selbst hat 10 Millionen Einwohner.) So ist ihr Stolz ein wenig gekennzeichnet von ihrer einstigen Größe innerhalb der österreichisch-ungarischen Monarchie, teilweise jedoch auch von dem Gefühl sich behaupten zu müssen. Wie berechtigt ihr Stolz in Bezug auf die ungarischen Philosophen wie z.B. György Lucács ist, konnte das Provisorium Philosophiestudium leider nicht mehr ans Licht bringen.

Anmerkungen

[1] In den meisten Fällen lohnt es kaum, diese Unterscheidung zu treffen, da Budapest ein Fünftel der ungarischen Einwohnerschaft auf sich vereinigt und unbestreitbares Zentrum des Landes ist. Fast alles, was von gesellschaftlicher Bedeutung ist, findet hier statt. Spürbar ist dies – allerdings nur, wenn man einen kundigen Ungarn an seiner Seite hat – an der Dichte der Persönlichkeiten aus Politik und Medien, die man auf der Strasse zu Gesicht bekommt.

[2] Zur Erklärung: Ausgegangen wurde bei dieser Argumentation von der Annahme, dass erstens ein Philosoph sich nicht ganze zehn Monate außerhalb seines Faches aufhalten sollte, dass zweitens die Teilnahme an solchen Seminaren die Chance darauf erhöht, angehende ungarische Philosophen zu treffen und dass drittens die Maximierung der Zeit der täglichen Beschallung mit der anfangs noch kryptischen Sprache die Wahrscheinlichkeit, diese bald in befriedigender Weise sprechen zu können, erhöht.

[3] Dies ist insofern bemerkenswert, als das in dieser Zeit die Stadt vom Bild der dauergestressten Studenten geprägt ist, die keine anderen Gesprächsthemen als ihre Prüfungen mehr kennen.