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Erschienen in: Ausgabe #6 vom Juli 2006


von Vladimir Malachov

Über Kontinuität und Diskontinuität der russischen Geistesgeschichte

VORBEMERKUNG DER REDAKTION: Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um die gekürzte Zweitveröffentlichung eines gleichnamigen Aufsatzes aus „Dialektik“ 1998/1 mit dem Titelthema „Die Idee der Tradition“. Dort werden vom Autor die Probleme eines bestimmten (hermeneutischen) Ansatzes zur Frage der Tradition am Beispiel der russischen Geistesgeschichte gezeigt. Für die neue Veröffentlichung ist aber gerade jener kulturgeschichtliche Teil thematisch interessant, der im Originaltext als Illustration gedient hat. Den Kürzungen durch die Redaktion sind daher in erster Linie die methodologischen Bemerkungen und die Darstellung der hermeneutischen Begrifflichkeiten bezüglich des Problems der Tradition zum Opfer gefallen. Als roten Faden der folgenden Abschnitte können wir die Frage ansehen, inwiefern sich die russische Geistesgeschichte des 20.Jahrhunderts als eine einheitliche Tradition verstehen lässt.

Der Mythos der „Rückkehr“

Bei näherer Betrachtung sehen wir sehr deutlich, daß die Einheit des „Russischen“ von Historikern erst zu einer (systematischen) Einheit gemacht worden ist, die eine Fülle von sehr verschiedenen Komponenten aufweist. So wird der „mainstream“ der russischen Philosophie durch Vladimir Solovev, die Brüder Evgenij und Nicolaj Trubeckoj, Pavel Florenskij, Nicolaj Berdjaev und andere repräsentiert. In der Literatur sind es die großen Realisten Gogol, Dostoevskij, Tolstoj und Tschekov, im politischen Denken Kireevskij, Chomjakov und Leontev. In der Kunst gelten als repräsentativ Surikov, Repin und Kramskoj. Dagegen ist einzuwenden, dass es etwa in der russischen Philosophie neben den Systemen des religiösen Idealismus auch antisystematische und anarchistische Denker wie Vassilij Rozanov gab, dass es in der russischen Literatur zugleich mit der Tradition des moralischen Rigorismus eines Tolstoj oder heutzutage eines Soltschenicyn auch konsequente Amoralisten wie Vladimir Nabokov und eine Reihe zeitgenössischer Schriftsteller gab und gibt, die sich insgesamt von der erwähnten großen Tradition absetzen. Auch in der Kunst gibt es viele Künstler, die mit dem Bild einer russischen Kunst als Quintessenz religiöser Schöngeisterei und Schwärmerei nichts am Hut haben. Im Bereich des politischen Denkens gibt es so ziemlich alle Formen des 20. Jahrhunderts: Liberalismus und Faschismus, nationalistischer Fundamentalismus und Anarchismus, Marxismus und Trotzkismus. So scheint es mehr als angemessen zu sein, nicht von einer Tradition in einer Sprache zu sprechen und stattdessen von mehreren Traditionen darin.

Am Ende der von Gorbatschov eingeleiteten Zeit der Perestrojka lautete die meistgebrauchte Metapher, womit man alle Vorgänge in der Sowjetunion auf einmal erklären wollte: „Rückkehr“. Diese Metapher gehört mit ihren Derivaten Neugeburt, Neubelebung, Renaissance, Grundfinden, Suche nach der Wurzel etc. zum Gedanken der Tradition mit großem „T“. Jeder glaubt sich mit ihr verbunden, schon nur allein aufgrund einer Beschäftigung damit. Die Rückbeziehung scheint eine Sache der persönlichen Anbindung zu sein. Aber wenn es sich um Rückkehr handelt, wozu genau will man zurückkehren? Zum Zeitpunkt von 1917, der Revolution oder (in traditionalistischer Sicht) dem „Staatsstreich“, oder nach 1922, als die führenden Intellektuellen ins Exil gingen? Zielt man auf das Jahr 1831, als Tschaadajevs Philosophische Briefe geschrieben wurden, oder auf das von 1874, als Vladimir Solovev sein erstes Buch veröffentlichte? Der edle Glaube daran, die „Tradition zu ehren“, ist jedenfalls mit der Illusion ihrer Fortführung verbunden. Wer heute über Solovev oder andere klassische russische Denker schreibt, ist meist zutiefst überzeugt, dass er durch sein Schreiben selbst sich in einen Angehörigen dieser Tradition verwandelt. Die Kommentatoren der Tradition sehen sich selbst als deren Vehikel.

Man kann also sagen, dass diese russischen Autoren, die sich in die russische Tradition versenken, tatsächlich hermeneutisch vorgehen, ohne dass man ihnen eine Kenntnis deutscher oder französischer Hermeneutik unterstellen muss. Sie mythologisieren ihre Vergangenheit, ähnlich wie es die Anhänger der Hermeneutik in Deutschland auf philosophischer Ebene tun. In Russland versucht man erfolgreich, den Bruch in der Tradition zu ignorieren. Im Kommentieren wird so getan, als bestehe keine Kluft zwischen den Texten der vor-revolutionären Epoche und der Gegenwart, obwohl diese Kluft ein sehr sichtbares und erfahrbares Faktum ist. Übrigens ist diese Kluft keineswegs leer. Sie enthält einen spezifischen Inhalt, der in der Interpretation der Tradition einbezogen werden muss.

Es gibt noch ein anderes Verhältnis zur „Rückkehr“: Man versteht sie nicht als Rückkehr zur (nationalen) Geschichte, sondern als Rückkehr zur (internationalen) Zivilisation. Die Vertreter dieses Ansatzes sind westlich orientierte Intellektuelle, Buch- und Zeitschriftenherausgeber, die sich als Ziel gesetzt zu haben scheinen, ihren Lesern die Dinge zurückzugeben, die ihnen im Lauf von Jahrzehnten vorenthalten wurden. Kann aber diese Aufgabe erfüllt werden? Kann man im kulturhistorischen Bereich überhaupt etwas zurückgeben?

Die vor 30 oder 40 Jahren verlegten Bücher haben ihr eigenes Leben gelebt, sie wurden zitiert, diskutiert, kritisiert. Andere Bücher wurden unter ihrem Einfluss geschrieben oder richteten sich gegen sie. Es steht also eine lange Geschichte hinter ihnen, ein bestimmtes kulturelles Klima hat sie geprägt bzw. wurde durch sie geprägt. Wenn diese Bücher nun erneut verlegt oder ins Russische übersetzt werden, fehlt beides. Man kann die über Jahre nachwirkenden Entstehungsumstände nicht in wenigen Jahren ersetzen. Die auf eine Füllung der Kluft abzielende kulturelle Geste scheint mir darum nicht fruchtbar, nicht produktiv. Sie ist auch überflüssig, denn jede Kultur lebt ihre eigene Zeit.

Auch wenn es auf den ersten Blick paradox erscheint, ist die Zeit der russischen Kultur im 20. Jahrhundert fast genau mit der Zeit der westlichen Kultur parallel. Um sich davon zu überzeugen, muss man sich nur sowjetische Filme der dreißiger oder fünfziger Jahre anschauen oder sich die Musik dieser Jahrzehnte anhören. Der sowjetische Jazz der dreißiger Jahre (Leonid Utesov und andere) unterscheidet sich kaum vom mainstream-Jazz in den USA oder in Europa. Auch die russisch-sowjetische Ästhetik zur Mitte dieses Jahrhunderts war weitgehend dieselbe wie die amerikanische oder westeuropäische, wenn man etwa an die Architektur, an Straßenfestivals oder Massensportveranstaltungen denkt.

Der eiserne Vorhang erwies sich als nicht vollständig undurchlässig. In den fünfziger Jahren gab es eine russische Version der Beatniks - Nonkonformisten wurden „stiljagi“ genannt - und in den Siebzigern auch Hippies. Die Atmosphäre der sechziger Jahre war in Moskau und Leningrad schwanger mit Existentialismus, gerade so wie in den großen Städten des Westens. Dennoch handelte es sich nicht um bloße Imitation. Stimmungen lassen sich schlecht nachschaffen, sie entstehen gewissermaßen „trotzdem“. Etwas liegt in der Luft, das an verschiedenen Orten des Planeten gleichzeitig und ohne wechselseitige Verbindung durchbricht. Was in der Kultur, oder, genauer gesagt: in der Subkultur der Sowjetunion, ans Tageslicht trat, war den westlichen Kulturen parallel. Manchmal fielen die Ereignisse zeitlich zusammen, manchmal ging eine Seite der anderen voran. Mir kommt es hier darauf an festzustellen, dass es in Russland ein Phänomen der Basis war, das hier zu beobachten ist, keines der Imitation oder des Imports.

Nehmen wir das Beispiel von Vladimir Vyssockij, dem Sänger, Dichter und Schauspieler, der die russische Kultur der sechziger und der siebziger Jahre prägte. Er ähnelt westlichen Songschreibern und Musikern und ist doch ganz anders. Seine Lieder entstanden nicht als Ergebnis einer Übertragung von westlichen Mustern, sondern als Ausdruck einer spezifischen sozialen Erfahrung. Diese Erfahrung war im russischen Kontext sicher einzig, zugleich aber auch verwandt mit der Erfahrung vergleichbarer westlicher Künstler: Es ging um den zweiten Weltkrieg, den Atombombenabwurf über Hiroshima und die Entfremdung der Gesellschaft vom Staat, die komplexen Prozesse der Selbstfindung im Großstadtleben.

Andere Beispiele bieten die Geisteswissenschaften. Claude Levi-Strauss stieß erst nach der Veröffentlichung seines Werks über die strukturale Anthropologie auf das Werk von Vladimir Propp, Die Morphologie des Märchens (1938). Propp konnte als Strukturalist avant la lettre entdeckt werden. Ein anderes Beispiel ist Michail Bachtin, dessen Arbeiten auf dem Gebiet der Ästhetik zur Mitte des Jahrhunderts durchaus mit westlichen Arbeiten mithalten konnten und so ja auch etwas später rezipiert worden sind. So stieß bereits in den sechziger Jahren die Philosophin Julia Kristeva auf Bachtin und hielt in Paris über ihn ein Seminar. Bachtins Einsichten in die polyphone Struktur von Dostoevskijs Romanen lassen Anklänge an die Dialogphilosophie etwa eines Martin Buber oder Emmanuel Levinas erkennen. Über zwei Jahrzehnte hinweg führten die Mitglieder der Semiotischen Schule in Moskau und Tartu Untersuchungen auf dem Feld der Linguistik und der Literaturgeschichte durch, die im internationalen Zusammenhang durchaus mithalten konnten.

In den sechziger Jahren gab es im Westen die Studentenbewegung und ein Aufblühen des Neomarxismus. Klarerweise konnte das so in der Sowjetunion unter den Bedingungen einer Einparteiendiktatur nicht stattfinden. Ein Echo dieser Bewegungen und Veränderungen aber war auch in Russland zu hören, wenn man etwa an die Philosophie der Praktik denkt, die von einigen Denkern in Moskau entwickelt wurde und derjenigen von Louis Althusser oder derjenigen der Zagreber Praxis-Schule zur Seite stehen kann. Als man in den achtziger Jahren von der Postmoderne zu sprechen begann, war das in Russlands großen Städten jedenfalls keine Überraschung. Die russischen Diskussionen um die Postmoderne rekapitulierten nicht einfach Lyotard, Baudrillard oder Jameson, sie reflektierten vielmehr eigene Probleme. So wie wir in Russland die Massenmedien aushalten müssen, so stehen wir auch allen Problemen der sogenannten Postmoderne gegenüber. Das „Verschwinden des Sozialen“ ist keine Erfindung Baudrillards, sondern eine tatsächliche Entwicklung, die im heutigen Russland erfahren wird.

Zur Situation der Philosophie

Jede Kultur hat ihren eigenen Kontext, und die Kulturprodukte können nur diesem Kontext entsprechend „gelebt“ werden. An diesem Kontext liegt es, wenn heute Heidegger in Russland aktiv rezipiert wird, die analytische Philosophie dagegen kaum. Die russische Situation ist ganz offenbar für eine Rezeption des Poststrukturalismus günstig, nicht aber für eine des Marxismus oder der kritischen Theorie. Versuchen wir zu klären, woran das liegt. Bleiben wir beim Beispiel Heidegger. Für das vielfach zu beobachtende enthusiastische Verhältnis zu Heideggers Philosophie in Russland können meines Erachtens mehrere Voraussetzungen geltend gemacht werden. Erstens eine historische Voraussetzung: Die philosophische Sprache hat sich in Russland im Laufe des 19. Jahrhunderts unter dem starken Einfluss des deutschen klassischen Idealismus herausgebildet: Hegel und insbesondere Schelling. Im 20. Jahrhundert, d. h. vom Anfang der zwanziger bis zum Ende der fünfziger Jahre, wurde eine beinahe vollständige russische Ausgabe von Hegels Werken herausgegeben. Diese Bücher in glänzender Übersetzung haben enorm zur Ausbildung der Sprache der gegenwärtigen russischen Philosophie beigetragen.[1] Diese gründliche Arbeit der philosophischen Übersetzung aus dem Deutschen wurde in den sechziger und siebziger Jahren fortgesetzt: so gab es Kant in sechs Bänden, ausgewählte Schriften von Schelling u. a. Eine zweite, damit zusammenhängende Voraussetzung ist linguistischer Natur: Es lässt sich zumindest teilweise eine Affinität zwischen den Strukturen der russischen und der deutschen philosophischen Sprache behaupten. Die Menge von Substantiven, die man durch den Genitiv miteinander verknüpfen kann – im Unterschied zum Englischen oder Französischen, wo das Verb herrscht – macht das Russische für die Übertragung von deutschen philosophischen Konstruktionen empfänglich, gerade auch für die bei Heidegger häufige Arbeit an Prä- und Suffixen.

Eine literaturhistorische Voraussetzung für die starke Heidegger-Rezeption ist darin zu sehen, dass die Schreibweise Heideggers in vielen Hinsichten gleichklingend mit der poetischen und literarischen Tradition Russlands ist - man denke an den Symbolismus, an Andrej Platonov u. a. Man findet hier sowohl als dort dieselbe Achtung gegenüber dem Wort und eine Neigung zum sprachlichen Experimentieren. Deswegen vielleicht sind unsere Heidegger-Übersetzer echte Meister auf diesem Gebiet (Vladimir Bibichin, Tatjana Vasileva und Aleksandr Michajlov). Nach zwanzig Jahre strenger Arbeit ist es ihnen gelungen, ein einmaliges Phänomen zu schaffen: einen „russischen Heidegger“. Eine weitere Voraussetzung liegt darin, dass im Vordergrund der russischen Rezeption Heideggers (mit wenigen Ausnahmen) nicht seine Phänomenologie und Ontologie, sondern die Metaphysik der Sprache steht, d. h. Heidegger nicht als Nachfolger der klassischen philosophischen Tradition gesehen wird, sondern vielmehr als Dichter und Prophet. Die Wendung zu Heidegger haben in großem Maße auch die intensiven Antike-Studien der russischen Denker ermöglicht, und das ist eine zusätzliche Bedingung. Für Anatolij Achutin, Dobrochotov und Vasileva ist Heidegger vor allem als Vermittler zwischen dem antiken und dem modernen Denken wichtig.[2] Zuletzt rührt die Sympathie für Heidegger in Russland besonders in der Provinz auch von einem konservativ-romantischen Charakter seines Denkens her, einer „Mythologie der Erde“, gepaart mit der Missachtung des Liberalismus und der Verachtung der Demokratie.

Als Gründe für den prominenten Stellenwert, den heute in Russland die Philosophie der 'Dekonstruktion' und der Poststrukturalismus insgesamt besitzt, kann man wenigstens zwei nennen, einen kulturgeschichtlichen und einen gesellschaftlichen. Der erste Grund liegt in der Tradition der strukturellen Linguistik und der strukturellen Literaturwissenschaft. Roman Jakobson etwa begann seine Arbeiten in Russland und veröffentlichte erste Ergebnisse auf Russisch; wir können auch an den so genannten „Russischen Formalismus“ denken oder an die semiotische Schule in Moskau-Tartu, deren bedeutendster Vertreter Jurij Lotman war. Der zweite Grund liegt in der „condition postmoderne“ des gegenwärtigen Lebens in Russland, was ich bereits angesprochen habe.

Im Gegensatz zum Interesse an Heidegger und an der „Dekonstruktion“ steht der Mangel an Interesse für die analytische Philosophie und jegliche kritische Philosophie der Gesellschaft. Vielleicht wird es einmal russische Autoren geben, die Wittgenstein oder Russell fortsetzen, aber im Augenblick ist das nicht wahrscheinlich. Was die neomarxistische Gesellschafstheorie angeht, sieht es noch düsterer aus. Es gibt noch keine oder wenige Übersetzungen von Louis Althusser, Ernst Bloch, Max Horkheimer - in starkem Kontrast zu Heidegger, Deleuze und Foucault. Theodor W. Adorno ist so gut wie nicht präsent; Geschichte und Klassenbewusstsein von Georg Lukacs ohne Übersetzung. Der Grund dafür scheint die in Jahrzehnten der sowjetischen Herrschaft ausgebildete Allergie gegen jeglichen Marxismus und verwandte Theorien gesellschaftlicher Veränderung zu sein. Die Menschen sind der Utopien müde.

Die interessantesten philosophischen Versuche im gegenwärtigen Russland haben nichts mit der Bewahrung der Tradition oder ihrer polemischen Überschreitung zu tun.[3] Diejenigen Autoren, die mit Recht als Philosophen angesehen werden können, machen sich keine Sorgen darum, welcher Tradition sie „angehören“. In Vladimir Biblers Arbeit lassen sich Einflüsse von Bachtin und Marx feststellen. Biblers Schüler Achutin stützt sich in gleicher Weise auf die Tradition der Dialogphilosophie wie auf den russischen Idealismus der Jahrhundertwende und auf eine existentielle Phänomenologie Heideggerscher Prägung. In den Reden und Gesprächen von Merab Mamardasvili sind die Stimmen von Descartes und Husserl, Hegel und Kojsve zu hören.[4] Mamardaschvilis Schüler Valerij Podoroga und Michail Ryklin nähren sich aus verschiedenen Quellen. Podoroga versucht, die Postulate des Poststrukturalismus (v. a. Deleuze) und der französischen Phänomenologie (Merleau-Ponty) mit den Einsichten von Flerenskij und Andrej Belyj zu verbinden. Ryklin erweist sich als konsequenter Nachfolger der Sprachmetaphysik und ist auch von Heideggers Fundamentalontologie inspiriert, kaum weniger ist er von den Kirchenvätern der Ostkirche beeinflusst.[5]

Schlussbemerkung

Die Auseinandersetzung mit der Tradition russischen Denkens im heutigen Russland habe ich natürlich vereinfacht dargestellt, indem ich nur zwei Ansätze unterschieden habe. Der eine, den man den russozentrischen nennen kann, arbeitet für die Wiederkehr einer nationalen Tradition. Der andere, nicht weniger konventionelle Ansatz, den man den „westlerischen“ nennen kann, zielt auf die Wiederherstellung einer supranationalen, eben westlichen Kultur. Mit diesem Schema sollte aber eigentlich nur die methodische Affinität beider Richtungen betont werden, und damit die Verwandtschaft im Umgang mit Tradition. Bei allen Unterschieden können beide hermeneutisch genannt werden, denn beide betrachten Tradition unter dem Gesichtspunkt der Kontinuität. Diskontinuität wird in beiden Ansätzen entweder verschleiert oder ignoriert, nicht aber durchdacht. Ein verletztes Kontinuum an Tradition soll hier wie dort ganz einfach wiederhergestellt werden. Daraus folgt die implizite „Hermeneutik“, die beide male das Bild der Ideengeschichte als kontinuierlicher bestimmt und an der Widersprüchlichkeit der realen Kulturgeschichte vorbeigeht. Wie bereits gesagt, handelt es sich um eine gewisse Mythologisierung der Tradition.

Je nach Ideal konstruieren russische Intellektuelle das phantastische Bild einer ununterbrochenen Geschichte des russischen Geistes, vor allem auf dem Gebiet der Philosophie- und der Literaturgeschichte. Sie versuchen, die Sowjetzeit nicht als Bruch zu sehen, oder aber deren geistige Produktion abzuwerten, zu ignorieren, um diese Periode ihrer Geschichte aus dem Gedächtnis zu löschen. Mir scheint ein absichtliches Vergessenwollen aber ebenso künstlich wie die absichtliche Wiederaufrichtung einer reinen Tradition. Nur diejenige intellektuelle Arbeit ist produktiv, welche die Kulturgeschichte nicht zugunsten einer idealen Tradition vergewaltigt.

Literatur

ACHUTIN, A. 1997 „Schvatka o bytij“ (Der Streit über das Sein), Moskau

BIBICHIN, V., 1995 „Mir“ (Welt), Tomsk

BIBLER, V., 1991a „Ot naukoutsch enija k logike kultury“ (Von der Wissenschaftslehre zur Logik der Kultur), Moskau

BIBLER, V. 1991b mit A.Achutin und E.Vokova „XVII vek ili spor logitscheskich natschal“ (Das XVII. Jahrhundert oder der Streit um logische Begründungen), Moskau

DOBROCHOTOV, A., 1986 „Kategorija bytija v klassitscheskoj i sovremennoj zapadnoevropeiskoj filosofii“ (Der Begriff des Seins in der klassischen und in der gegenwärtigen westeuropäischen Philosophie), Moskau

MALACHOV, Vladimir, 1995, „Ist Philosophie auf Russisch möglich?“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 1995/1.

ders., 1996, „Über 'russische postmoderne' Philosophie“, in: Russische Philosophie im 20. Jahrhundert, hg. v. Klaus-Dieter Eichler und U. J. Schneider, Leipzig 1996.

MAMARDASCHVILI, M., 1993 „Karteziankije razmysschlenija“ (Cartesianische Meditationen), Moskau

MAMARDASCHVILI, M., 1995 „Lekzii u Pruste“ (Vorlesungen über Marcel Proust), Moskau

NETHERCOTT, Frances, 1996, „Philosophieren unter Stalin und unter Nikolaj I.“, in: Russische Philosophie im 20. Jahrhundert, hg. v. Klaus-Dieter Eichler und U. J. Schneider, Leipzig 1996.

RYKLIN, M., 1997, „Iskusstvo kak prepjatstvie“ (Kunst als Hindernis), Moskau

VAN DER ZWEERDE, Evert, 1994, Soviet Philosophy - the Ideology and the Handmaid. A Historical and Critical Analysis of Soviet Philosophy, Nijmegen 1994.

VASILEVA, T., 1986 „Filosofskij jasyk Platona I Aristotelja” (Die philosophische Sprache von Platon und Aristoteles), Moskau

Anmerkungen

[1] Vgl. dazu MALACHOV 1995, S. 63 - 73.

[2] Vgl. VASILEVA 1986, ACHUTIN 1997, BOBROCHOTOV 1986

[3]Vgl. MALACHOV 1995, BIBLER 1991a, 1991b, BIBICHIN 1995, MAMARDASCHVILI 1993, 1995, PODOROGA 1995, RYKLIN 1997

[4] Mamardaschvili schrieb selbst so gut wie nichts und zog es vor, seine Gedanken mündlich mitzuteilen. Seine Vorträge wurden aber von Hunderten von begeisterten Zuhörern aufgenommen und nach seinem Tod (1991) in Büchern dokumentiert, welche die Atmosphäre des nichtoffiziellen Philosophierens der Sowjetzeit gut wiedergeben. Vgl. auch NETHERCOTT 1996, S. 23 - 34 und VAN DER ZWEERDE 1994.

[5] Zu Podoroga und Ryklin vgl. MALACHOV 1996, S. 58 - 76.

Vladimir Malachov ist leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Philosophie der Russischen Akademie der Wissenschaften.