von Christina Unger
Die Ideologie trennt Menschen, die Logik bringt sie zusammen - Ein kurzer Ausschnitt polnischer Logik
Als Polen 1918 seine Unabhängigkeit zurückgewann, war in Warschau
gerade erst die Universität wiedereröffnet worden und die polnischen
Gelehrten begannen damit, ein nationales akademisches Leben aufzubauen. In den
darauffolgenden zwei Jahrzehnten entwickelte sich Polen zu einem der Logikzentren
der Welt.
Als Vater der polnischen Logik gilt Kazimierz Twardowski, der bei Franz Brentano
in Wien Philosophie studiert hatte und 1895 auf den Lehrstuhl für Philosophie
der Universität in Lwow berufen wurde. Er verfolgte ehrgeizig den Plan,
eine organisierte, wissenschaftliche Philosophie in Polen aufzubauen –
ein Ziel, dem er sogar seine eigene Forschung unterordnete. Anfangs lehrte Twardowski
vor fast leeren Hörsälen. Aber dank seiner außergewöhnlichen
Lehrbegabung und seiner charismatischen Persönlichkeit zog er immer mehr
Studierende zur Philosophie, bis schließlich etwa 200 Studierende an seinen
Seminaren und ungefähr 2000 an seinen Vorlesungen teilnehmen wollten und
er aus Platzmangel außerhalb der Universität lehren musste.
Kazimierz Twardowski
Zu seinen Schülern zählten neben Lukasiewicz auch Ajdukiewicz (einer
der Logiker, auf die die Kategorialgrammatik zurückgeht) und Kotarbinski
(der u.a. zur Erkentnnistheorie arbeitete). Ab 1910 war auch Lesniewski (der
ein formales Ontologiesystem als Alternative zur Mengentheorie entwickelte)
in Lwow und als er und Lukasiewicz wenige Jahre später eine Professur in
Warschau annahmen, war die Achse Lwow-Warschau aufgemacht und die Lwow-Warschau-Schule
zum Leben erweckt. Diese zeichnete sich v.a. durch die enge Verbindung von Philosophie
und Mathematik aus. Twardowski forderte einen Philosophiestil, der Ideen klar
und eindeutig formuliert, präzise analysiert und die Ergebnisse durch eine
klare Argumentation rechtfertigt. Für die Umsetzung dessen wurde in der
Lwow-Warschau-Schule die Logik das grundlegende Werkzeug. Twardowski war zwar
selbst kein Logiker, er schuf aber eine Atmosphäre, die aufgeschlossen
und fördernd war für alle, die Logik als die wichtigste Quelle methodologischer
Kriterien ansahen und philosophische Probleme mit den Methoden der Logik und
Mathematik untersuchen und lösen wollten. In Polen wurde die mathematische
Logik längst als eigenständiger Forschungszweig angesehen und einer
derjenigen, der sich ihr voll und ganz widmete, war Jan Lukasiewicz.
Lukasiewicz war Twardowskis erster Schüler in Lwow. Er schrieb 1902 seine
Doktorarbeit, war dann einige Zeit in Berlin und Louvain, kehrte 1906 als Dozent
nach Lwow zurück und wurde schließlich Professor für Logik und
Philosophie in Warschau, wo er die ersten polnischen Kurse über mathematische
Logik hielt. Zwei sehr bekannte Errungenschaften von ihm sind die Polnische
Notation und mehrwertige Logiken.
Die Polnische Notation ist eine sehr ökonomische, klammerfreie
Notation logischer Formeln, in der logische Konstanten vor ihre Argumente geschrieben
werden. Statt , , , und für die logischen Operationen verwendete
Lukasiewicz die Buchstaben N (für Negation), K (für
Konjunktion), A (für Disjunktion), C (für Implikation)
und E (für Äquivalenz). Jede Formel der Aussagenlogik beginnt
mit einem solchen Großbuchstaben, der das Hauptverknüpfungszeichen
der Formel ist und von Variablen gefolgt wird oder von Formeln, die ihrerseits
auch wieder aus Konstanten und Variablen bestehen. Z.B. enthält Lukasiewiczs
Axiomensystem für die Aussagenlogik (zusammen mit der Substitutionsregel
und dem Modus Ponens) drei Axiome, die in polnischer Notation folgendermaßen
aussehen: CCpqCCqrCpr, CCNppp, CpCNpq. Einmal soll
es vorgekommen sein, dass Lukasiewicz über eine Fomeln, die mit CCCKCCKCKKKKCCCKC...
anfing, freudig sagte: "Wie schön und offensichtlich wahr es doch
ist!"
Mit der Entwicklung mehrwertiger Logiken geht auf Lukasiewicz
außerdem das erste nicht-klassische Logikkalkül zurück. Ausgangspunkt
dafür war, dass kein möglicher Funktor der klassischen Logik als "es
ist möglich, dass" interpretiert werden kann. Die Formel Mp
(für "es ist möglich, dass p") soll trotzdem extensional
sein, ihr Wahrheitswert also nur vom Wert von p abhängen. Lukasiewiczs
Lösung bestand darin, einen dritten Wahrheitswert zuzulassen. So ist z.B.
der Satz "Robert Förster wird die Tour de France gewinnen" weder
wahr noch falsch, sondern möglich, und bekommt genauso wie seine Negation
den Wahrheitswert 1/2 zugewiesen. Lukasiewicz verallgemeinerte diese dreiwertige
Logik zu mehrwertigen Logiken mit bis zu abzählbar unendlichen vielen Werten
zwischen 0 und 1. Die Wahrheitswertfunktionen sind dann allgemein angegeben,
die Negation z.B. durch Np=1-p (wobei 0 =< p =<
1). Lässt man nur die zwei Werte 0 und 1 zu, ergibt sich daraus die klassische
Negation. Die Ansicht, dass eine dieser Logiken eine korrekte Beschreibung der
tatsächlichen Welt liefert, gab Lukasiewicz im Laufe der Zeit auf, trotzdem
glaubte er, dass mehrwertige Logiken eine wichtige Rolle für die Grundlagen
der Mathematik spielen würden.
Zu den Schülern von Lukasiewicz in Warschau gehörte
Alfred Tarski, der heute zusammen mit Aristoteles, Frege und Gödel zu den
größten Logikern gezählt wird. Eines seiner Ziele war, eine
präzise Definition für den Begriff der Wahrheit und der logischen
Folgerung zu geben. Eines seiner Kriterien an eine Definition von Wahrheit in
einer formalen Sprache war, dass die Sätze, die das Wahrheitsprädikat
erfüllen, genau die sind, die wir intuitiv als die wahren Sätze der
Sprache ansehen. Diese Intuition kann dadurch erfasst werden, dass für
jeden Satz das T-Schema „True('S') genau dann, wenn S“
beweisbar sein soll, wobei 'S' der Satz in der Objektsprache und S
seine Entsprechung in der Metasprache ist. Tarski zeigte, dass das Wahrheitsprädikat
nicht in der Objektsprache, sondern in der Metasprache definiert sein muss.
Denn sobald die Objektsprache über ihre eigene Semantik reden kann, lassen
sich Sätze wie "Dieser Satz ist nicht wahr" formulieren. Ausgehend
von einem Begriff der Erfüllbarkeit definierte Tarski Wahrheit dann wie
folgt:
Ein Satz S ist wahr genau dann, wenn S von jeder Variablenbelegung erfüllt
wird.
Seine Wahrheitsdefinition für formale Sprachen war der erste Schritt hin
zur Modelltheorie und ist heute genauso Standard wie auch seine Definition der
logischen Folgerung:
Ein Satz S folgt logisch aus einer Menge von Sätzen genau dann, wenn
jedes Modell von auch ein Modell von S ist.
Tarski arbeitete u.a. auch zu Entscheidungproblemen, zur Mengenlehre, zur Axiomatisierung
von Algebra und Geometrie, und zusammen mit dem polnischen Mathematiker und
Logiker Adolf Lindenbaum zur Algebraisierung der Logik.
Alfred Tarski
Der hereinbrechende zweite Weltkrieg hatte katastrophale Auswirkungen für
die polnische Logik. Strukturen zwischen wissenschaftlichen Institutionen wurden
zerstört und die Judenverfolgung kostete mehreren Logikern, Philosophen
und Mathematikern das Leben. Tarski, der sich weit mehr als Pole denn als Jude
fühlte und schon vor Jahren zum Katholizismus konvertiert war, war sich
dem Ernst der Lage nicht bewusst und entkam nur sehr knapp dem Schicksal, dem
viele seiner jüdischen Kollegen zum Opfer fielen. Er hatte eine Einladung
zur "Unity of Science"-Tagung in den USA und in der festen Überzeugung,
nur zwei Wochen weg zu sein, ließ er Frau und Kinder in Warschau zurück
und verließ Polen mit dem letzten Schiff, bevor es keinen legalen Weg
mehr gab, das Land zu verlassen. Die Logikerin Janina Hosiasson-Lindenbaum wollte
an derselben Konferenz teilnehmen und mit dem nächsten Schiff nach Nordamerika
aufbrechen, aber ihr wurde das Visum verwehrt. Sie und ihr Mann Adolf Lindenbaum
wurden 1941 im Ghetto in Vilnius ermordet.
Lukasiewicz wanderte 1946 wegen Unzufriedenheit mit dem politischen System nach
Dublin aus, während Tarski in Berkeley ein Forschunsgzentrum ausbaute.
Sie und andere Anhänger der Lwow-Warschau-Schule führten deren Ideen
zwar außerhalb von Polen weiter, als organsierte Schule war sie aber vollständig
auseinandergebrochen.