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Erschienen in: Ausgabe #6 vom Juli 2006


von Franziska Herbst

Es war einmal... ein Jahr Erasmus in Krakau.

Polen war eine fixe Idee. So eine Entscheidung, die sich von selber trifft und der man die Gründe erst nachträglich mühsam zufügt. Eine gute Entscheidung also. Mich verband mit dem Land nichts, außer Neugierde auf den lange ignorierten Nachbarstaat und vielleicht eine gewisse gemeinsame Geschichtserfahrung.

Und so begegnet man in Polen vielen Diskursen, die an hierzulande bekannte Debatten anknüpfen, aber doch noch brach und offen liegen. In Polen ist die Gleichstellung der Geschlechter noch ebenso eine Baustelle wie die Minderheitenrechte und die viel kritisierte Macht der Kirche in der Öffentlichkeit. In Polen lebt der Rock noch als alternative Musik! Aber um mal von diesem noch, das leicht zu einer Verniedlichung der Dringlichkeit dieser Debatten führt, abzusehen: die Geschichte Polens gibt diesen Diskursen einen ganz anderen Rahmen, dessen Bedingungen sich von den unsrigen oft gravierend unterscheiden. Das Spannende an der fremden Sicht auf die Geschichte ist eben auch das Hinterfragen der eigenen.

Collegium Novum

Hauptgebäude der Jagiellonien-Universität (Collegium Novum)

Die Sicht vieler Polen auf die eigene Geschichte ist leider meist die des Verlierers, der in wichtigen weltpolitischen Fragen übergangen wurde und wird. So lässt sich jedenfalls der überzogen beleidigte Aufschrei der polnischen Regierung bei den jüngsten russisch-deutschen Verhandlungen über eine von Polen unabhängige Gaspipeline, bei der Polen eben nicht gefragt wurde, erklären. Dieser "Minderwertigkeits-komplex" paart sich aber kurioserweise oft mit einem Nationalstolz auf z.B. große Vorkämpfer eines befreiten polnischen Staates. Für Polen ist der eigene, souveräne Nationalstaat eine relativ neue Angelegenheit – von den glorreichen Zeiten vor der Besetzung und Aufteilung im 18.Jh. mal abgesehen, als das Land das toleranteste, demokratischste und heroischste ganz Eurasiens war. Und so trug, als der „polnische Papst“ letztes Jahr starb, unser Geschichtsprofessor noch drei Monate später Buttons mit dem Emblem Polens von einer Trauerfahne umrahmt an seinem Jacket. Jan Pawel der Zweite stand nämlich einerseits jahrzehntelang für eine Präsenz Polens im internationalen Politikfeld und hat andererseits das Land nicht nur zu Solidarnosc-Zeiten aktiv unterstützt.


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Fotostrecke Krakow, Polen


Ein verträumtes Nationalgefühl kam mir auch in einigen Zeitschriften der Philosophie in der Frage entgegen, ob es eine eigene polnische Philosophie gäbe. Mal abgesehen davon, ob es eine national geprägte Philosophie überhaupt geben kann und ob die Lwow-Warschau-Schule [1] nicht ausreichendes Beispiel einer „eigenen Traditionslinie“ wäre, scheint diese Frage paradigmatisch für die polnische Situation heute. Denn als Erasmus-Neuankömmling wurde ich des öfteren verwundert gefragt, was mich denn ausgerechnet nach Polen verschlagen hätte – wo es doch so wunderbare Länder wie die USA oder Frankreich gäbe. Solche Länder sind denn auch die Ziele der jungen, gut ausgebildeten und auswanderungswilligen Polen – den Älteren bleibt dann vielleicht auch nur Patriotismus.

In Polen wird man also mit Geschichte konfrontiert. Und mit Geschichten. Nicht nur mit so anheimelnden Kindergeschichten wie dem Drachen unter der Wawelburg, der von einem cleveren Bauernsohn ermordert wird und dafür auch noch die Prinzessin abkriegt. Oder die von dem Kirchturmtrompeter, der das nahende Feindesheer erspähend, die eigenen Mannen benachrichtigen will und dafür einen Pfeil in den Hals gebohrt bekommt – woraufhin das Lied nun schon seit Jahrhunderten zu jeder vollen Stunde nur bis zu diesem dramatischen Moment gespielt wird. Krakow ist bisher von Kriegen, Erdbeben oder anderen Katastrophen weitgehend verschont geblieben. Und so kann man ganze Architekturzeitalter in der städtischen Gebäudesubstanz zurückverfolgen – wenn sie nicht, von gigantischen Werbeplakaten behängt, durch Wind und Wetter heruntergerissen werden, wie vor einigen Jahren mit der wundervollen Sukiennice-Markthalle auf dem Rynek (Marktplatz) geschehen.

Es gibt natürlich auch religiöse Geschichten, die sich um Krakow ranken. So wird behauptet, dass einer der Chakra-Punkte der Welt sich unter einem Krakower Schloßstein befände. Pilgernde wurden hier schon durch Schilder erboster katholischer Priester mit der Aufschrift „There is no chakra-point here“ von ihrer Suche nach „kosmischer Energie“ abgehalten.

Trotzdem: eine gewisse Tiefe des Erlebens grassiert in dieser Stadt. Es scheint, als werden die Bilder der Realität selbst zu Metaphern und Symbolen für eine Welt, die einen ständig angeht. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass die Menschen überall in Kontakt kommen, miteinander reden und sich was zu sagen haben in rumpelnden Straßenbahnen, überfüllten Arbeiterküchen (die berühmten bar mlekos), lahmen Postämtern oder ....eben in der Kirche.

Gedenkmarsch durch die Innenstadt

Zum Tod des Papstes Jan Pawel II versammelten sich im April die trauernden Massen zum Gedenkmarsch durch die Innenstadt.

In Krakow sind die Kirchen einfach immer voll. Sie sind auch schön. Nur kann man sie in ihrer bloßen architektonischen Ästhetik selten genießen, da man meist unverhofft in einen Gottesdienst, eine Hochzeit oder gar in eine der Warteschlangen vor den Beichtstühlen gerät. In Polen wird viel geheiratet. Heterosexuell, versteht sich. So schön der gesellschaftliche „Wertekonsens“ – der sich der/dem Außenstehenden aber evtl. auch erst durch diese Perspektive so erschließt – auch auf den ersten Blick erscheint: er wird immer noch kirchlich bestimmt und geformt. Und soweit die Gleichung Pole gleich Katholik aufgeht, soweit reicht meist auch die Ungleichung Pole ungleich Homosexueller, Jude, Muslim, Schwarzer, Roma oder whatever.[2] Wer die Auseinandersetzungen um den CSD in Warschau Mitte Juni mit verfolgt hat, kennt diese Geschichten. Eine alternative Öffentlichkeit im europäischen Rahmen ist für viele Andersdenkende und Anderswollende in Polen daher eine wichtige Motivations- und Kraftquelle. Und auf diese Weise kann die EU für Polen vielleicht etwas mehr als marktwirtschaftliche Liberalisierung, Privatisierung und Agrarreformen bedeuten. In diesem Sinne ist es auch gut, dass in Deutschland mittlerweile, angesichts des polnischen politischen Rechtsrucks auch mal ein so unsympathisches Phänomen wie das christlich-fundamentalistische und antisemitische Radio Marija thematisiert wird. Denn dieses schafft es sogar eine antisemitische Polemik mit dem alljährlich und eben ausnahmsweise mal nicht kirchlich organisierten Spendengelderkonzert ”Orchester des Herzens” zu verbinden, das vor ungefähr zehn Jahren von privater Initiative ins Leben gerufen wurde und sich seitdem zu einem Großevent entwickelt hat, an dem Tausende Freiwillige in allen größeren Städten Polens teilnehmen, um Gelder für Kinderkliniken zu sammeln.


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Fotostrecke Katholisches Polen


Die relative Homogenität der polnischen Arbeiterschaft, deren generelle Situation im ökonomischen Sinne eher desolat ist, könnte eine weitere Quelle eines sogenannten Wertekonsenses in der polnischen Öffentlichkeit sein. Die Gehälter eines Lehrers oder Universitätsprofessors reichen gerade so zum Überleben, wie die des Bauarbeiters oder der Bäckersfrau von nebenan. Natürlich ist Polen auch unheimlich billig, für eine deutsche BAFöG-Empfängerin ebenso, wie für die vielen Konsumtouristen. Aber mit einem polnischen Lehrergehalt könnte man sich hierzulande auch noch nicht mal ein Zugticket von Berlin nach Hamburg und zurück leisten.

Rektoren und Professoren

Die Universität blickt auf eine lange Geschichte: Sie wurde 1364 gegründet. Rektoren und Professoren ziehen jedes Jahr in traditioneller Kleidung zu Semesterbeginn vor den Inaugurationsfeierlichkeiten durch die Altstadt Krakows.

Doch zurück nach Krakow: Zum Studieren war und ist Krakow eine gute Wahl. Die Stadt ist relativ international und die Universität vermittelt ein recht reichhaltiges Angebot an englischen Kursen – vielleicht in umsichtiger Anteilnahme an Nicht-Muttersprachler, die versuchen dieser schwierigen Sprache Herr zu werden. Sprachunterricht wird auch gleich in den Studienablauf integriert. Über polnische Philosophie habe ich leider wenig gelernt. Einerseits war ich eher auf religionswissenschaftlicher Mission. Andererseits war der einzige polnische Professor, der auf Englisch lehrte begeisterter Anhänger des französischen Existenzialismus und Strukturalismus und zog es vor in unbändigen Tafelbildern Satre zu porträtieren, statt uns Krakower Phänomenologie à la Roman Ingarden oder das katholisch geprägte Denken eines Leszek Kolakowski näherzubringen.[3] Auch Stanislaw Lem habe ich nicht besucht, obwohl der ja bis zu seinem Tod im März diesen Jahres in Krakow gelebt hat. Eine gute Wahl ist die Stadt auch deswegen, weil in Krakow eine sehr aktive Kulturszene sich in Filmfestivals, ständigen Jazzkonzerten und vielen kleineren und größeren Theaterhäusern kräftig verausgabt. Dazu gehört auch eine jüdische Kulturszene, die mit Galerien, restaurierten Synagogen, Klezmermusikfestivals oder jüdischen Markttagen eine große Anzahl Touristen in die Stadt lockt – natürlich auch als Kontrapunkt zum etwas "anderen Reiseziel" der Massen ganz in der Nähe: Auschwitz. Dabei lebt in Krakow derzeit nur noch eine kleine, um die hundert Köpfe zählende jüdische Gemeinde – bei einem ehemaligen Bevölkerungsanteil von ungefähr einem Drittel. In vielen Orten Polens ist der Umgang mit dem verlassenen Erbe jüdischer Kultur denn auch ein ganz anderer als in Krakow: oft weiß niemand etwas anzufangen mit verlassenen Grabsteinen und Friedhöfen oder verfallenden Synagogen. Sie werden meist sich selbst überlassen und ignoriert.

Aber vielleicht noch ein bisschen Unkultur: die Fußballspiele im Krakower Stadion! Es gibt zwei rivalisierende Fußballclubs in Krakow: Cracovia und Wisla. Diese beiden spalten die ganze Region in Pro-isten und Contra-isten, was sich in unzähligen Bombings bis in den entferntesten Kleinstädten manifestiert. Selbst Karol Woytila war, bevor er Jan Pawel der Zweite wurde – Anhänger einer der beiden. Als dieser Papst im April 2005 starb, gab es ein kurzes Happy-end zwischen den Clubs, die sich ein Woche Waffenruhe versprachen und ein gemeinsames Rockkonzert anläßlich des Trauerfalls organisierten. Dieser Zeitplan wurde rigoros eingehalten und so kam es beim Trauermarsch der Massen durch die Stadt glücklicherweise zu keinen Zwischenfällen. Pünktlich nach Wochenende flogen jedoch schon wieder Steine. Es rock-t also in Krakow!

Anmerkungen

[1] Der logisch-analytischen Ausrichtung dieser Schule verschrieben sich Denker wie Jan Lukasiewicz, Stanislaw Lesniewski und auch Alfred Tarski. Sie wurde zwischen den Weltkriegen von Kazimierz Twardowski gegründet und erzielte innerhalb weniger Jahre internationale Bedeutung

[2] Die katholische Kirche zählt immer noch rund 90% Mitglieder unter der polnischen Bevölkerung, mit leicht rückgängigem Trend. Danach kommen prozentual noch vor den Protestanten die Orthodoxen und die Zeugen Jehovas.

[3] Wer sich ein bisschen informieren möchte sei auf diese umfassende Webseite verwiesen: www.fmag.unic.it/~polphil/PolHome.html