von Franziska Herbst
Es war einmal... ein Jahr Erasmus in Krakau.
Polen war eine fixe Idee. So eine Entscheidung, die sich von
selber trifft und der man die Gründe erst nachträglich mühsam
zufügt. Eine gute Entscheidung also. Mich verband mit dem Land nichts,
außer Neugierde auf den lange ignorierten Nachbarstaat und vielleicht
eine gewisse gemeinsame Geschichtserfahrung.
Und so begegnet man in Polen vielen Diskursen, die an hierzulande bekannte
Debatten anknüpfen, aber doch noch brach und offen liegen. In Polen ist
die Gleichstellung der Geschlechter noch ebenso eine Baustelle wie die Minderheitenrechte
und die viel kritisierte Macht der Kirche in der Öffentlichkeit. In Polen
lebt der Rock noch als alternative Musik! Aber um mal von diesem noch, das leicht
zu einer Verniedlichung der Dringlichkeit dieser Debatten führt, abzusehen:
die Geschichte Polens gibt diesen Diskursen einen ganz anderen Rahmen, dessen
Bedingungen sich von den unsrigen oft gravierend unterscheiden. Das Spannende
an der fremden Sicht auf die Geschichte ist eben auch das Hinterfragen der eigenen.
Hauptgebäude der Jagiellonien-Universität (Collegium Novum)
Die Sicht vieler Polen auf die eigene Geschichte ist leider meist die des Verlierers,
der in wichtigen weltpolitischen Fragen übergangen wurde und wird. So lässt
sich jedenfalls der überzogen beleidigte Aufschrei der polnischen Regierung
bei den jüngsten russisch-deutschen Verhandlungen über eine von Polen
unabhängige Gaspipeline, bei der Polen eben nicht gefragt wurde, erklären.
Dieser "Minderwertigkeits-komplex" paart sich aber kurioserweise oft
mit einem Nationalstolz auf z.B. große Vorkämpfer eines befreiten
polnischen Staates. Für Polen ist der eigene, souveräne Nationalstaat
eine relativ neue Angelegenheit – von den glorreichen Zeiten vor der Besetzung
und Aufteilung im 18.Jh. mal abgesehen, als das Land das toleranteste, demokratischste
und heroischste ganz Eurasiens war. Und so trug, als der „polnische Papst“
letztes Jahr starb, unser Geschichtsprofessor noch drei Monate später Buttons
mit dem Emblem Polens von einer Trauerfahne umrahmt an seinem Jacket. Jan Pawel
der Zweite stand nämlich einerseits jahrzehntelang für eine Präsenz
Polens im internationalen Politikfeld und hat andererseits das Land nicht nur
zu Solidarnosc-Zeiten aktiv unterstützt.
Ein verträumtes Nationalgefühl kam mir auch in einigen Zeitschriften
der Philosophie in der Frage entgegen, ob es eine eigene polnische Philosophie
gäbe. Mal abgesehen davon, ob es eine national geprägte Philosophie
überhaupt geben kann und ob die Lwow-Warschau-Schule [1] nicht ausreichendes
Beispiel einer „eigenen Traditionslinie“ wäre, scheint diese
Frage paradigmatisch für die polnische Situation heute. Denn als Erasmus-Neuankömmling
wurde ich des öfteren verwundert gefragt, was mich denn ausgerechnet nach
Polen verschlagen hätte – wo es doch so wunderbare Länder wie
die USA oder Frankreich gäbe. Solche Länder sind denn auch die Ziele
der jungen, gut ausgebildeten und auswanderungswilligen Polen – den Älteren
bleibt dann vielleicht auch nur Patriotismus.
In Polen wird man also mit Geschichte konfrontiert. Und mit Geschichten. Nicht
nur mit so anheimelnden Kindergeschichten wie dem Drachen unter der Wawelburg,
der von einem cleveren Bauernsohn ermordert wird und dafür auch noch die
Prinzessin abkriegt. Oder die von dem Kirchturmtrompeter, der das nahende Feindesheer
erspähend, die eigenen Mannen benachrichtigen will und dafür einen
Pfeil in den Hals gebohrt bekommt – woraufhin das Lied nun schon seit
Jahrhunderten zu jeder vollen Stunde nur bis zu diesem dramatischen Moment gespielt
wird. Krakow ist bisher von Kriegen, Erdbeben oder anderen Katastrophen weitgehend
verschont geblieben. Und so kann man ganze Architekturzeitalter in der städtischen
Gebäudesubstanz zurückverfolgen – wenn sie nicht, von gigantischen
Werbeplakaten behängt, durch Wind und Wetter heruntergerissen werden, wie
vor einigen Jahren mit der wundervollen Sukiennice-Markthalle auf dem Rynek
(Marktplatz) geschehen.
Es gibt natürlich auch religiöse Geschichten, die sich um Krakow
ranken. So wird behauptet, dass einer der Chakra-Punkte der Welt sich unter
einem Krakower Schloßstein befände. Pilgernde wurden hier schon durch
Schilder erboster katholischer Priester mit der Aufschrift „There is no
chakra-point here“ von ihrer Suche nach „kosmischer Energie“
abgehalten.
Trotzdem: eine gewisse Tiefe des Erlebens grassiert in dieser Stadt. Es scheint,
als werden die Bilder der Realität selbst zu Metaphern und Symbolen für
eine Welt, die einen ständig angeht. Vielleicht liegt das aber auch daran,
dass die Menschen überall in Kontakt kommen, miteinander reden und sich
was zu sagen haben in rumpelnden Straßenbahnen, überfüllten
Arbeiterküchen (die berühmten bar mlekos), lahmen Postämtern
oder ....eben in der Kirche.
Zum Tod des Papstes Jan Pawel II versammelten sich im April die trauernden Massen zum Gedenkmarsch durch die Innenstadt.
In Krakow sind die Kirchen einfach immer voll. Sie sind auch schön. Nur
kann man sie in ihrer bloßen architektonischen Ästhetik selten genießen,
da man meist unverhofft in einen Gottesdienst, eine Hochzeit oder gar in eine
der Warteschlangen vor den Beichtstühlen gerät. In Polen wird viel
geheiratet. Heterosexuell, versteht sich. So schön der gesellschaftliche
„Wertekonsens“ – der sich der/dem Außenstehenden aber
evtl. auch erst durch diese Perspektive so erschließt – auch auf
den ersten Blick erscheint: er wird immer noch kirchlich bestimmt und geformt.
Und soweit die Gleichung Pole gleich Katholik aufgeht, soweit reicht meist auch die
Ungleichung Pole ungleich Homosexueller, Jude, Muslim, Schwarzer, Roma oder whatever.[2]
Wer die Auseinandersetzungen um den CSD in Warschau Mitte Juni mit verfolgt
hat, kennt diese Geschichten. Eine alternative Öffentlichkeit im europäischen
Rahmen ist für viele Andersdenkende und Anderswollende in Polen daher eine
wichtige Motivations- und Kraftquelle. Und auf diese Weise kann die EU für
Polen vielleicht etwas mehr als marktwirtschaftliche Liberalisierung, Privatisierung
und Agrarreformen bedeuten. In diesem Sinne ist es auch gut, dass in Deutschland
mittlerweile, angesichts des polnischen politischen Rechtsrucks auch mal ein
so unsympathisches Phänomen wie das christlich-fundamentalistische und
antisemitische Radio Marija thematisiert wird. Denn dieses schafft es sogar
eine antisemitische Polemik mit dem alljährlich und eben ausnahmsweise
mal nicht kirchlich organisierten Spendengelderkonzert ”Orchester des
Herzens” zu verbinden, das vor ungefähr zehn Jahren von privater
Initiative ins Leben gerufen wurde und sich seitdem zu einem Großevent
entwickelt hat, an dem Tausende Freiwillige in allen größeren Städten
Polens teilnehmen, um Gelder für Kinderkliniken zu sammeln.
Die relative Homogenität der polnischen Arbeiterschaft,
deren generelle Situation im ökonomischen Sinne eher desolat ist, könnte
eine weitere Quelle eines sogenannten Wertekonsenses in der polnischen Öffentlichkeit
sein. Die Gehälter eines Lehrers oder Universitätsprofessors reichen
gerade so zum Überleben, wie die des Bauarbeiters oder der Bäckersfrau
von nebenan. Natürlich ist Polen auch unheimlich billig, für eine
deutsche BAFöG-Empfängerin ebenso, wie für die vielen Konsumtouristen.
Aber mit einem polnischen Lehrergehalt könnte man sich hierzulande auch
noch nicht mal ein Zugticket von Berlin nach Hamburg und zurück leisten.
Die Universität blickt auf eine lange Geschichte: Sie wurde 1364 gegründet.
Rektoren und Professoren ziehen jedes Jahr in traditioneller Kleidung zu Semesterbeginn
vor den Inaugurationsfeierlichkeiten durch die Altstadt Krakows.
Doch zurück nach Krakow: Zum Studieren war und ist Krakow
eine gute Wahl. Die Stadt ist relativ international und die Universität
vermittelt ein recht reichhaltiges Angebot an englischen Kursen – vielleicht
in umsichtiger Anteilnahme an Nicht-Muttersprachler, die versuchen dieser schwierigen
Sprache Herr zu werden. Sprachunterricht wird auch gleich in den Studienablauf
integriert. Über polnische Philosophie habe ich leider wenig gelernt. Einerseits
war ich eher auf religionswissenschaftlicher Mission. Andererseits war der einzige
polnische Professor, der auf Englisch lehrte begeisterter Anhänger des
französischen Existenzialismus und Strukturalismus und zog es vor in unbändigen
Tafelbildern Satre zu porträtieren, statt uns Krakower Phänomenologie
à la Roman Ingarden oder das katholisch geprägte Denken eines Leszek
Kolakowski näherzubringen.[3] Auch Stanislaw Lem habe ich nicht besucht,
obwohl der ja bis zu seinem Tod im März diesen Jahres in Krakow gelebt
hat. Eine gute Wahl ist die Stadt auch deswegen, weil in Krakow eine sehr aktive
Kulturszene sich in Filmfestivals, ständigen Jazzkonzerten und vielen kleineren
und größeren Theaterhäusern kräftig verausgabt. Dazu gehört
auch eine jüdische Kulturszene, die mit Galerien, restaurierten Synagogen,
Klezmermusikfestivals oder jüdischen Markttagen eine große Anzahl
Touristen in die Stadt lockt – natürlich auch als Kontrapunkt zum
etwas "anderen Reiseziel" der Massen ganz in der Nähe: Auschwitz.
Dabei lebt in Krakow derzeit nur noch eine kleine, um die hundert Köpfe
zählende jüdische Gemeinde – bei einem ehemaligen Bevölkerungsanteil
von ungefähr einem Drittel. In vielen Orten Polens ist der Umgang mit dem
verlassenen Erbe jüdischer Kultur denn auch ein ganz anderer als in Krakow:
oft weiß niemand etwas anzufangen mit verlassenen Grabsteinen und Friedhöfen
oder verfallenden Synagogen. Sie werden meist sich selbst überlassen und
ignoriert.
Aber vielleicht noch ein bisschen Unkultur: die Fußballspiele im Krakower
Stadion! Es gibt zwei rivalisierende Fußballclubs in Krakow: Cracovia
und Wisla. Diese beiden spalten die ganze Region in Pro-isten und Contra-isten,
was sich in unzähligen Bombings bis in den entferntesten Kleinstädten
manifestiert. Selbst Karol Woytila war, bevor er Jan Pawel der Zweite wurde
– Anhänger einer der beiden. Als dieser Papst im April 2005 starb,
gab es ein kurzes Happy-end zwischen den Clubs, die sich ein Woche Waffenruhe
versprachen und ein gemeinsames Rockkonzert anläßlich des Trauerfalls
organisierten. Dieser Zeitplan wurde rigoros eingehalten und so kam es beim
Trauermarsch der Massen durch die Stadt glücklicherweise zu keinen Zwischenfällen.
Pünktlich nach Wochenende flogen jedoch schon wieder Steine. Es rock-t
also in Krakow!
Anmerkungen
[1] Der logisch-analytischen Ausrichtung dieser Schule verschrieben sich Denker
wie Jan Lukasiewicz, Stanislaw Lesniewski und auch Alfred Tarski. Sie wurde
zwischen den Weltkriegen von Kazimierz Twardowski gegründet und erzielte
innerhalb weniger Jahre internationale Bedeutung
[2] Die katholische Kirche zählt immer noch rund 90%
Mitglieder unter der polnischen Bevölkerung, mit leicht rückgängigem
Trend. Danach kommen prozentual noch vor den Protestanten die Orthodoxen und
die Zeugen Jehovas.
[3] Wer sich ein bisschen informieren möchte sei auf diese umfassende
Webseite verwiesen: www.fmag.unic.it/~polphil/PolHome.html