Wir stehen am Anfang einer Epoche, vor der mir graut - ein Gespräch mit Stanislaw Lem
Das Interview führte Florian Rötzer 1996 für das Online-Magazin
„Telepolis“ (www.telepolis.de)
Bekannt ist Lem mit seinen Science-Fiction-Büchern geworden, doch mit
der Gattung hat er seine Schwierigkeiten. Bekanntlich liest er kaum die Werke
anderer Kollegen. Immer wollte er dort sein, wo sich für ihn die brennenden
Fragen der Gegenwart befinden, denen er sich oft spielerisch, mit hintergründigem
Witz und erzählter Philosophie nähert, bei aller Phantastik aber nie
wirklich den Boden des Denkmöglichen verläßt. Schon lange hat
er das Erzählen eingestellt, auch die Futurologie interessiert ihn nicht
mehr. Lieber kondensiert er seine Gedanken in Essays, die wissenschaftliche
und politische Fragen behandeln, mehr von Skepsis als von Enthusiasmus gegenüber
dem Neuen zeugen, gleichwohl aber formal experimentieren, wenn er etwa Einleitungen
zu fiktiven Büchern, Rezensionen nie erschienener Werke, über die
evolutionäre Weltanschauung oder über die Welt aus der Perspektive
der Statistik schreibt.
Vielleicht ist der Rückzug aus der Zukunft eine Frage des Alters, bei dem
die Erdenschwere und die Weisheit wächst, vielleicht ist die Gegenwart
zu voll an Science-Fiction, vielleicht überschlagen sich Innovationen oder
Ankündigungen dessen, was gleich möglich sein wird, zu schnell, als
dass Exkursionen in die Zukunft noch reizvoll erscheinen. Vielleicht ist die
Zuwendung zu ganz praktischen und aktuellen wissenschaftlichen und politischen
Fragen aber auch eine Folge des Zusammenbruchs des kommunistischen Regimes.
Der Zensur konnte man mit Fabeln und dem Ausflug in die Zukunft besser entgehen,
seine Gedanken dort sicherer verstecken und zugleich zum Ausdruck bringen. Vielleicht
aber sind es die politischen und wirtschaftlichen Veränderungen in Polen,
die Lem nicht von der mittlerweile schon zum Markenzeichen gewordenen digitalen
Revolution schwärmen lassen, auch wenn sie vielleicht irgendwie damit verbunden
sein mögen, sondern ihn zur Auseinandersetzung mit der Gegenwart auffordern.
Wie auch immer: Stanislaw Lem, der 75jährige, sprudelt weiter vor Ideen,
seine Neugier ist ungebremst, sein moralischer Antrieb ungebrochen, seine Souveränität,
einfach das zu machen, was er will, beeindruckend.
RÖTZER: Warum schreiben Sie keine Science Fiction mehr?
LEM: Meine Laufbahn als Autor von Science-Fiction-Erzählungen ist schon
vorbei, aber ich hatte immer das Bewusstsein, dass man nur über das schreiben
und reden darf, was von der menschlichen Vorstellungskraft verstanden werden
kann. Es wäre ganz leicht, etwas total Unverständliches zu schreiben.
Das ist auch vielen postmodernen Autoren sehr lieb und geschieht nicht nur in
der Science-Fiction. Die Mannigfaltigkeit im Kosmos muss weit größer
sein, als wir imstande sind, sie zu verstehen und zu studieren. An einem Beispiel
kann ich das besser erklären. Das Spektrum der elektromagnetischen Wellen
ist gewaltig. Es reicht von Gamma- über Röntgen oder Infrarotstrahlen
bis zu jenen, die wir mit unseren Augen sehen können. Das ist aber nur
ein winziger Ausschnitt des elektromagnetischen Wellenspektrums.
Mit den Weltraumfahrten ist das ähnlich. Erst jetzt beginnt man allmählich
darüber zu sprechen, dass es nicht allein die Barriere der Kostenentwicklung
ist, die uns an Fahrten zu anderen Planeten oder an einem langen Aufenthalt
in einer orbitalen Station hindert. Es ist einfach so, dass der Mensch ein auf
der Erde durch und durch gestaltetes Lebewesen ist, das im schwerelosen Raum
nicht länger leben kann. Es ist grausam, wenn man liest, dass die Astronauten
schon auf der Nahe der Erde gelegenen Weltraumstation wegen der Strahlung sehr
schnell altern. Das wurde sogar an Ratten erprobt.
Bisher hat man hauptsächlich von den vielen Dollars gesprochen, die eine
Fahrt zum Mars kosten würde. Es ist ja Mode geworden, alles nur in Geld
zu berechnen. Wenn etwas eine Milliarde kostet, ist es schon ein schreckliches
Hindernis. Aber es gibt eben auch ganz andere, nicht monetäre Probleme,
die eine solche Fahrt unmöglich werden lassen. Es wird immer waghalsige
Menschen geben, denen es nichts ausmacht, wenn sie schnell alt und bald sterben
werden, und die dann solche Fahrten ausführen werden. Die durch irdische
Schwerkraft gestalteten Wesen verlieren bei einem langen Aufenthalt im schwerelosen
Raum die Knochensubstanz, die Knochen werden brüchig, die Muskeln leiden.
Man konnte schon sehen, dass der auf die Erde zurückkehrende Astronaut
auf einer Bahre getragen wurde, weil er nicht mehr stehen konnte. Das ist traurig,
aber wir sind nun einmal sehr stark erdgebunden. Würden auf anderen Planeten
andere Wesen entstehen, so müssen sie keineswegs uns Menschen gleichen.
Stanislaw Lem
RÖTZER: Sie sagten, dass Sie bereits seit einigen Jahren keine Science-Fiction-Erzählungen
mehr schreiben. Man kann sich zwar alles Mögliche vorstellen, aber man
weiß sehr wenig und meistens ist es anders, als man sich das vorgestellt
hat. Ist das ein Grund, warum Sie keine Geschichten mehr schreiben?
LEM: Nein, ich habe unlängst wieder für eine Zeitung eine Science-Fiction-Geschichte
geschrieben. Aber es macht mir keinen großen Spaß mehr. Ich habe
auch genug geschrieben. 40 Bücher reichen. Ich habe mich jetzt anders orientiert.
In Polen habe ich einen Bestseller über Informatik geschrieben. Überhaupt
habe ich immer das geschrieben, was mich zu einer bestimmten Zeit besonders
interessiert hat. Für eine polnische Wochenzeitschrift schreibe ich jetzt
kurze Artikel über die aktuelle politische Lage der Welt. Das konnte ich
während der Zeit der so genannten Volksrepublik Polen nicht machen, weil
man damals nicht alles schreiben durfte, was man wollte. Wenn man heute so eine
Freiheit hat, soll man sie auch nutzen. Es gibt auf der Welt recht interessante
Geschehnisse, besonders das kommende Informationszeitalter, über die ich
gerne als hausbackener Informatiker und nicht mehr als Poet schreiben will.
RÖTZER: Wird denn das Informationszeitalter tatsächlich unsere Welt
so tiefgreifend verändern, wie viele glauben? Man spricht von der digitalen
Revolution, die entweder alles besser macht oder uns der Katastrophe näherbringt.
Ist das nicht auch nur eine Wunschvorstellung, die vielleicht durch das Nahen
der Jahrtausendwende gefördert wird.
LEM: Seit dem Neolithikum hat jede neue Technologie eine positive und negative
Auswirkung für die Menschen gehabt. Es gibt keine Technologie, die nur
gut für die Menschen ist. Sogar mit einem Brotmesser kann man einem anderen
Menschen den Hals abschneiden. Meist kann man nicht sagen, was positiv und was
negativ ist. Von der nuklearen Energie hat man sich viel versprochen, aber sie
hat sich als recht peinliche Geschichte erwiesen. Man muss sich nur die Geschehnisse
um den Castor-Transport oder Tschernobyl ansehen, um zu verstehen, was nukleare
Energie bedeutet. Jetzt ist es schon wieder Mode, gegenüber dem Internet
oder World Wide Web Enthusiasmus entgegen zu bringen. Aus meiner Intuition heraus
meine ich, dass uns das Internet mehr schaden als Profit bringen wird. Es gibt
beispielsweise das deutsche Sprichwort: Was ich nicht weiß, macht mich
nicht heiß. Wahrscheinlich hat es Greuel und Völkermorde immer gegeben.
Nur wussten die Menschen in früheren Zeitaltern nichts davon. Was wussten
die Menschen in Europa schon im 16. Jahrhundert darüber, was im Fernen
Osten geschieht? Gar nichts. Jetzt weiß man mit der Geschwindigkeit des
Lichtes, mit den elektromagnetischen Wellen, alles. Man hat beispielsweise eine
solche Satellitenschüssel auf dem Dach, mit der man viele Sender aus der
ganzen Welt empfangen kann.
RÖTZER: Benutzen Sie eigentlich das Internet?
LEM: Nein, ich weigere mich, es zu benutzen. Man hat versucht, mich gewissermaßen
mit einer großen Schachtel von Schokoladenbonbons dazu zu bringen, einen
Zugang einzurichten. Ich hätte das ganz umsonst erhalten, aber ich will
nicht. Ich habe hier so viele wissenschaftliche Bücher und Journale, die
ich noch nicht lesen konnte. Ich fürchte mich vor der so genannten informatischen
Sintflut. Durch das Internet werden gewisse Pfeiler des Kapitalismus erodieren.
Das Copyright ist bereits jetzt schon in Gefahr geraten. Es ist fast unmöglich,
ein vollkommenes Eigentum des Copyright zu garantieren. Und dann gibt es beispielsweise
diese pädophilen Dinge im Internet. Man versucht, Schranken einzurichten,
um dies unterbinden, aber dann stellt sich heraus, dass diese Inhalte dann über
andere Länder ins Internet kommen. Das ganze Netz wurde ja mit der Absicht entworfen, um eine zentrale regulative
und kontrollierende Funktion zu umgehen, damit eventuelle Angriffe etwa durch
Atombomben nicht das ganze Netz zerstören können. Jetzt gibt es zwar
den Ost-West-Konflikt nicht mehr, dafür aber haben wir das Netz und muss
man sich Mittel ausdenken, wie man es kontrollieren kann. Die Eltern sollen
beispielsweise bestimmte Zugangsbeschränkungen für die Kinder einbauen.
Aber warum sollten die Eltern zu Wächtern werden, die immer mit diesen
technischen Mitteln hantieren? Als erstes werden die Kinder natürlich versuchen,
das zu umgehen und kurz zu schließen. Bekanntlich kann ein zehn- oder
zwölfjähriger Bursche besser mit einem Videogerät oder einem
Computer umgehen als die meisten Erwachsenen. Das sind Probleme, die nicht bewältigt wurden, und ich weiß auch
nicht, wie man sie bewältigen kann, um so mehr das Barbarische gegenwärtig
weiter zunimmt. Es gibt immer mehr Verbrechen. Lange vor dem Zweiten Weltkrieg
wurde das Kind von Lindbergh entführt. Das erschütterte damals die
ganze Welt. Heute gibt es schon so viele Entführungen, dass man sie alle
schon gar nicht mehr in den Nachrichten nennen kann. Es gibt diese Eskalation
der Gewalt. Das Internet wird dies weiter verstärken. Wenn man sich als
ruhiger Mensch wie ich vor den Fernseher setzt, Erdnüsse ißt und
ein Bier aus der Dose trinkt und dann bald 400 Programme zur Auswahl hat, kann
man lernen, wie man einen Schalldämpfer auf eine Pistole setzt, wie einfach
es ist, andere Leute umzubringen, und warum man dies macht - wegen der Diamanten,
wegen Heroin oder weil es um eine Erbschaft geht. Die ganze Palette des Verbrechens
wird uns als Instruktion geboten. Es gibt viele negative Aspekte der Medien
und des Internet.
RÖTZER: Andererseits gilt das Internet, weil es nicht von einzelnen Regierungen
und Staaten regulierbar ist, als ein Instrument zur Demokratisierung und, im
Gegensatz zu den herkömmlichen Massenmedien, zur Schaffung einer weltweiten
Öffentlichkeit auch für einzelne.
LEM: Das ist kein Mittel der Demokratisierung. Wenn man nach China sieht, das
letzte große kommunistische Imperium auf der Erde, wird die gesamte Kommunikation
streng kontrolliert. Wenn man die Freiheiten erwürgt, die das Internet
eröffnet, errichtet man sicher gleichzeitig große Hindernisse auf
dem Weg zur freien Kommunikation. Dann gibt es das ganze Gerede über die
Pornographie. Ein pornographisches Werk ist beispielsweise nicht nur das Alte
Testament oder jedes Buch über Gynäkologie. Ich sehe keine einzige
klare Methode, wie sich so etwas eindämmen lassen könnte, ohne dass
dies vielen Menschen, die tatsächlich Informationen benötigen, schaden
würde. Das ist alles sehr kompliziert und hat gar nichts mit dem Leben
auf dem Mars zu tun.
Tarkowskis Film nach Lems Roman
RÖTZER: Es werden ja von den Angehörigen der Cyberkultur große
Hoffnungen auf das Internet gesetzt, aus dem sich eine kollektive Intelligenz
entwickeln könnte. Man vergleicht es mit einem globalen Gehirn, weil es
nicht nur ungeheuer viel Informationen auf ihm gibt, sondern diese auch durch
viele Links oder Assoziationen verbunden sind. Wenn es zunächst durch die
Benutzer und dann durch virtuelle Agenten und Programme auch intelligent wird
und lernen kann, würde sich vielleicht ein globales Gehirn herausbilden,
dessen Teile dann unter anderem aus Menschen bestehen. Verbunden damit ist natürlich
oft der Glaube, dass die Menschen sich dadurch vereinen werden.
LEM: Mein Gott, wir sind ja nicht kleine Kinder. Als Sie mir die Vorstellungen
über das globale Gehirn erzählten, dachte ich an das Verhältnis
der Russen zu den Tschetschenen. Das Schicksal der Tschetschenen gleicht dem
der Polen vor 100 Jahren. Im Verhältnis zu Tschetschenien ist Russland
ein enormes Land. Was hat das Internet, was hat das Fernsehen damit zu tun?
Das einzige ist, dass es beispielsweise noch brave Fernsehjournalisten gibt,
die bereit sind zu sterben, um den Menschen Bilder vom Gemetzel der zivilen
Bevölkerung zu zeigen. Es gibt auf der ganzen Welt eine Unmenge solcher
Krisenherde. Keine technologische Entwicklung kann diese Konflikte löschen.
Wir wissen, wie schwach wir gegenüber der Natur sind. Man erzählt
uns Märchen etwa in der Klimatologie, dass das Klima angeblich immer wärmer
wird. Einen solchen kalten und verregneten Sommer wie diesen habe ich noch nie
in meinem ziemlich langen Leben erlebt. Was die Gelehrten sagen, was geschehen
oder was durch den Computer entstehen wird, stimmt oft nicht.
RÖTZER: Sie haben vor mehr als dreißig Jahren einmal geschrieben,
dass gegen eine Technologie immer nur eine andere helfen kann. Ist das noch
immer Ihre Meinung?
LEM: Natürlich geht das, aber mit Maßen. Wenn eine Arznei beispielsweise
unerwünschte Nebenwirkungen mit sich bringt, dann kann man diese mit einer
anderen lindern. Aber wenn diese andere Arznei wiederum andere Nebenwirkungen
hat, dann gibt es einen unendlichen Kreislauf und dann kann man Technologie
auf Technologie aufhäufen. Man wird an erster Stelle hier eine Kostenschwelle
bemerken, denn das kostet dann einfach zuviel. Wir hören sowieso von den
Ökonomen, dass uns alles zuviel kostet. Der Wohlfahrtsstaat kostet uns
zuviel. Deswegen ist ein Sparpaket notwendig, weil die Kosten davonlaufen. Immer
wieder hört man, dass sich die Deutschen übernommen haben. Meines
Erachtens hat die DDR damals etwas Kluges gemacht. Sie hat die Propagandamaschine
so gut entwickelt und so gut lügen können, dass alle glaubten, sie
sei wirklich ein blühendes Land. Nach dem Fall der Mauer zeigte sich, dass
die DDR ein grundloser Brunnen war, in den man Milliarden um Milliarden hineinwerfen
kann. Es gibt zwar eine gewisse Verbesserung, aber die kostet enorm viel. Es
gibt zwar noch Befürworter der Vereinigung bei den Deutschen aus dem Westen,
aber das ist eine immer kleiner werdende Schar. Das habe ich schon bemerkt,
wenn ich mit meinen Besuchern spreche. Wir in Polen hingegen hatten keinen so reichen Bruderstaat. Es gab kein reiches
Polen, das uns Subventionen in Milliardenhöhe geben konnte. Trotzdem geht
es irgendwie, während in Deutschland nichts recht vorankommt. Wenn man
nur die Ladenzeiten ein bisschen verlängern will, dann gibt es gleich ein
entsetzliches Geschrei. Bei uns gibt es jetzt die im Verhältnis zu Deutschland
schreckliche Freiheit. Wenn Sie ein Ladenbesitzer sind, dann können Sie
Ihr Geschäft 24 Stunden öffnen, wenn Sie das wollen. Sie müssen
sich nur mit Ihren Verkäufern verständigen. Wenn man zuviel von den
Gewerkschaften hält, ist dies vielleicht ein bisschen ungesund. Lady Thatcher
hat seinerzeit einen Krieg mit den Gewerkschaften geführt und ihn ziemlich
gut gewonnen. Allerdings sagt man, dass sie einen Scherbenhaufen hinter sich
gelassen hat. Das ist schon möglich. Ich bin kein Ökonom, sondern
das ist nur meine private Meinung. Wenn man bei uns sagen würde, Sie dürfen
Ihren Laden nur bis 18 Uhr öffnen, dann würde man dies nicht mehr
verstehen. Jeder soll es so machen, wie er will. Das ist die Freiheit.
RÖTZER: Aber eben das ist auch die Freiheit, die heute noch im Internet
möglich ist.
LEM: Das ist wieder etwas anderes. Die Polen waren schon immer ein bisschen
Anarchisten. Das hat uns in der kommunistischen Zeit sehr geholfen.
RÖTZER: Um noch einmal auf die Technik zu kommen, so spricht man heute
immer mehr von einer technischen Evolution. Überhaupt wird die Evolutionstheorie
zu einem beherrschenden Paradigma, In Ihrem futurologischen Buch "Summa
technologiae" haben Sie auch bereits die biologische Evolution mit der
technischen Evolution in Analogie gesetzt und ganz ernsthaft von einer Technoevolution
gesprochen. Wenn man von Evolution spricht, dann heißt das immer auch,
dass man von Konkurrenz und Auslese, aber auch von einem kaum steuerbaren und
vor allem nicht voraussagbaren Prozess spricht. Technoevolution hieße
so auch, dass die Menschen keine Gewalt über die Technik besitzen. Sehen
Sie das noch immer so? Und sehen Sie in der Technoevolution eine bestimmte Zielrichtung?
LEM: Ja, es gibt eine Technoevolution, die nach ähnlichen Gesetzen abläuft
wie die biologische. Früher hatte man geglaubt, dass es durch die Entwicklung
der Computertechnologie bald zur Realisierung einer Künstlichen Intelligenz
kommen wird. Aber man hat gesehen, dass dies sehr viel an Mühe und Geld
kosten wird und vor allem Fertigkeiten verlangt, die man noch nicht hat. Deswegen
geht diese Welle der technischen Entwicklung jetzt nicht in Richtung der Künstlichen
Intelligenz, sondern in die der technologischen Verbindungen, also hin zu Netzen.
Das ist billiger und bringt dem Kapital mehr Erträge ein.
Lems philosophischstes Buch
RÖTZER: Aus den technischen Verbindungen heraus entsteht aber jetzt doch
ein neuer Ansatz. Man versucht, mit neuronalen Netzen und eher unter der Perspektive
der Modellierung eines Insekts, nicht mehr unter der der höchsten menschlichen
Leistungen Roboter zu entwickeln, die durch Lernen, also von unten nach oben,
dann allmählich Intelligenz erwerben sollen.
LEM: Das rein Ökonomische reguliert die Entwicklung. Was einen hohen Preis
hat, ist nicht besonders beliebt, zumal wenn es nicht sofort erhebliche Profite
abwirft. Früher gab es natürlich auch Idealisten. Der Graf Zeppelin
war ein solcher. Oder die Gebrüder Wright dachten mit ihrem ersten Flugzeug
nicht in erster Linie daran, viel Geld zu verdienen. Aber wenn die Herstellung
von Flugzeugen in die Massenproduktion geht, dann erhalten die Kosten ein enormes
Gewicht. In der biologischen Evolution ist das ganz genauso. Einer der Hauptfaktoren
ist beispielsweise die Schwerkraft. Vor 60 Millionen Jahren haben die Dinosaurier
gelebt, die bis zu 100 Tonnen gewogen haben. Aber diese Entwicklung hat sich
nicht gelohnt. Man musste natürlich für diese Entwicklung nichts zahlen,
doch die natürliche Kontingenz, der Rahmen, in dem sich diese Evolution
vollzieht, ist durch die irdischen Umstände, durch die Schwerkraft, die
Atmosphäre usw., vorgegeben. Ähnliche Faktoren kann man auch in der
technischen Evolution bemerken. Es wird das gemacht, was dem Menschen, aber
zugleich, was dem großen und kleinen Kapital dient. Man kann keine Dinge
produzieren, die niemand braucht.
RÖTZER: Andererseits ist es in der technischen Entwicklung doch oft so,
dass man etwas für einen bestimmten Zweck herstellt, während es sich
später oft herausstellt, dass dieser Zweck ganz nebensächlich ist.
Es entstehen meist Folgen, an die man überhaupt nicht gedacht hat. Dadurch
verändern sich Technologien, aber auch die Welt, in der sie wirken.
LEM: Der Unterschied liegt darin, dass die Menschen denken, während die
biologische Evolution dies nicht tut. Und doch ist immer zu bemerken, dass man
im Voraus niemals weiß, was sich aus den Anfangsstadien später entwickeln
wird. Zwei Millionen Jahre vor unserer Gegenwart konnte niemals jemand voraussagen,
dass aus dem homo habilis in Südafrika der homo sapiens entstehen und unsere
Erde beherrschen wird. Als man die ersten Versuche machte, Computer miteinander
zu verbinden, wusste man noch nicht, dass ein Netz entstehen würde. Es
gibt gewisse tiefe Ähnlichkeiten zwischen diesen beiden Evolutionsformen.
RÖTZER: Das Kennzeichen von beiden wäre doch ihre Unsteuerbarkeit
und ihre Unvorhersehbarkeit? Es handelt sich um ein Spiel, das einen gewissen,
aber vermutlich nicht vorher ausmeßbaren Möglichkeitsraum ausschöpft,
der sich mit jeder weiteren Entwicklung verändert.
LEM: Die Technoevolution kann man ebenso wenig steuern wie die biologische.
Wir können die biologische Evolution zumindest jetzt noch nicht steuern.
Aber das könnte durch die Gentechnologie noch kommen. Wir stehen am Anfang
einer Epoche, vor der mir ein bisschen graut.
RÖTZER: Es gibt nicht nur die Gentechnologie, sondern auch Entwicklungen
in der Neurotechnologie und überhaupt in der medizinischen Technik, so
dass man den Menschen immer mehr mit Prothesen ergänzen, in ihn immer mehr
Maschinen einbauen kann, ihn also zu einem Cyborg machen kann. Vielleicht wird
man auch, wovon Hans Moravec immer gern erzählt, das kognitive System des
Menschen auf eine andere Hardware speichern und dort laufen lassen können.
Davon haben Sie ja auch schon früh in Ihren Dialogen gehandelt. Wenn man
diese ganze Entwicklung im Bereich der Computer- und Biotechnologien ansieht,
die Hand in Hand gehen, dann geht es offenbar um einen Umbau des Menschen, vielleicht
auch um eine Restrukturierung der Ökosphäre. Genau dies könnte
es möglich werden lassen, ein Leben außerhalb der Erde und ihrer
Bedingungen zu führen.
LEM: Das ist schon möglich, aber meines Erachtens ist dies wirklich nicht
wünschenswert. Der Mensch eignet sich nur zum Leben auf der irdischen Oberfläche.
Solange man sich nicht auf dem Mond befand, konnte man sich noch vorstellen,
dass es dort sehr interessante Landschaften gibt. Nein, das ist eintönig,
das ist wirklich eine Wüste. Wer wird schon für 10 oder 20 Jahre oder
gar für das ganze Leben in der Wüste und dazu noch in einem geschlossenen
Gefängnis leben?
RÖTZER: Dafür gibt es dann vielleicht die Virtuelle Realität
oder die Phantomologie. So ließe sich vielleicht das Leben in einem Gefängnis
aushalten.
LEM: Das ist schon etwas anderes. Aber auch wenn man phantomologisch das Beste
zum Essen bekommt, so wird man davon nicht satt.