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Erschienen in: Ausgabe #2 vom Januar 2004



Interview mit Henning Tegtmeyer

EiGENSiNN: Wer oder was hat Sie dazu bewogen Philosophie zu studieren?

TEGTMEYER: Zunächst einmal gab es jemanden, der mich bewogen hat, nicht Philosophie zu studieren. Das war Schopenhauer. Mit 18 habe ich zufällig eine leicht gekürzte Ausgabe der Welt als Wille und Vorstellung bekommen und gelesen. Den größten Teil des Buches fand ich dann so abstoßend, dass ich mit Philosophie nie wieder etwas zu tun haben wollte. Ich unterstellte stillschweigend, dass alle Philosophen so denken und schreiben wie Schopenhauer – oder noch schlimmer. Das hat sich erst geändert, als ich im Verlauf meines Germanistikstudiums mit Kants Kritik der Urteilskraft und mit Foucault zu tun bekam. Das Philosophiestudium habe ich deshalb auch erst mit 24 angefangen.

Henning Tegtmeyer
Henning Tegtmeyer

EiGENSiNN: Wie lautete das Thema Ihrer Magisterarbeit?

TEGTMEYER: Gegenstandsbereich und Geltungsanspruch ästhetischer Urteile. Das war ein Thema, das mich letztlich schon vor meinem Studium beschäftigt hat, auch wenn ich es damals noch nicht hätte formulieren können. Es beschäftigt mich auch weiterhin. Die Magisterarbeit war da nur ein Durchgangsstadium.

EiGENSiNN: Was hat Sie dazu bewogen, sich für den Fachbereich Theoretische Philosophie zu entscheiden?

TEGTMEYER: Eigentlich entschieden habe ich mich gar nicht für diesen Fachbereich, sondern eine Verkettung bestimmter Umstände und Zufälle hat mich dorthin befördert. Das hat auch etwas mit der unklaren Stellung der Ästhetik als philosophischer Disziplin zu tun, die ja irgendwo zwischen theoretischer und praktischer Philosophie angesiedelt ist. Das macht die Ästhetik zugleich so spannend, dass hier 'theoretische‘, also sprachphilosophische oder ontologische Fragen genauso bedeutsam werden wie ‚praktische‘, also kulturphilosophische, werttheoretische und selbst ethische Fragen. Mindestens ebenso kompliziert wie das Verhältnis der Ästhetik zu den anderen philosophischen Disziplinen sind die Beziehungen zwischen Ästhetik einerseits und den Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaften andererseits. Selbst zur Theologie steht die Ästhetik in einer gewissen Beziehung, auch wenn das etwas extravagant klingt. Um die Dinge noch mehr zu komplizieren: In der Ästhetik selbst wird noch immer darum gestritten, was Hauptgegenstand der Ästhetik ist. Ist es eher das Wahrnehmen oder eher das Schöne oder vielmehr die Kunst? Oder ist Ästhetik eine besondere Spielart philosophischer Selbstkritik? Dass all dies Themen und Probleme der Ästhetik sind, ist unbestritten; der Streit dreht sich darum, was im Zentrum stehen muss. Ferner geht es um Fragen der richtigen Methode. Da es in der theoretischen Philosophie immer auch darum geht, einen gewissen Überblick über das gesamte Feld philosophischer Disziplinen zu bewahren, fühle ich mich dort aber ganz gut aufgehoben.

EiGENSiNN: Nach welcher Ästhetik des Lebens richten Sie sich?

TEGTMEYER: Nach gar keiner. Ich weiß nämlich gar nicht, was das ist.

EiGENSiNN: Wie würden Sie die heutige Stellung und Aufgabe der Philosophie in Deutschland bezeichnen?

TEGTMEYER: Die Philosophie hat ähnliche Probleme wie die meisten Geisteswissenschaften, nicht nur in Deutschland. Leider sind das zu einem großen Teil auch Probleme des Selbstverständnisses. Zwar arbeitet die Philosophie, soweit ich das überblicke, nicht im gleichen Maß an ihrer Selbstabschaffung wie manche andere Geisteswissenschaft. Dennoch gibt es eine zähe und lang anhaltende Krise im Selbstverständnis der Philosophie. Wenn man einen sehr freundlichen Namen dafür finden wollte, könnte man das Selbstbild der Philosophie als ‚allzu bescheiden‘ bezeichnen – oder als depressiv. Viele, auch einflussreiche Philosophen glauben nicht mehr so recht an Bedeutsamkeit und Leistungsfähigkeit der Philosophie. Sachlich gesehen gibt es überhaupt keinen Grund für derartig grundlegende Selbstzweifel. Philosophie ist und bleibt die Mutter der Wissenschaften und zugleich ihre koordinierende und kritische Begleiterin. Als solche ist sie so lange unverzichtbar, wie es überhaupt Wissenschaft gibt. Ist die Philosophie in schlechter Verfassung, bedeutet das immer auch eine Krise der Wissenschaften. In einer solchen befinden wir uns wohl derzeit. Dazu mag die institutionelle Abschottung der Wissenschaften gegeneinander mit beigetragen haben. Interdisziplinarität ist zwar der Idee nach ein Korrektiv. Die Fragen, Probleme und Resultate kommen aber, soweit ich das beurteilen kann, sehr oft noch zufällig und unsystematisch zustande.

EiGENSiNN: Wie stehen Sie zu den in Bologna abgesegneten Neuerungen hinsichtlich Ba/Ma?

TEGTMEYER: Die Zielsetzung, berufsqualifizierende Studien zu straffen, zu beschleunigen und auf europäischer Ebene so zu vereinheitlichen, dass ein Studium an verschiedenen europäischen Hochschulen erleichtert wird, finde ich richtig. Auch dass Überlegungen zur Studierbarkeit eines Faches jetzt einen hohen Stellenwert bekommen sollen, ist aus meiner Sicht zu begrüßen. Studierende der Geisteswissenschaften werden davon profitieren, dass sie schneller als bisher zu einem Hochschulabschluss gelangen können und dass dieser Abschluss dann auch bekannt ist und anerkannt wird. Was die Reformen für die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses bedeuten, wird zur Zeit noch zu wenig diskutiert, aber das wird sich ändern, wenn die Beteiligten sich wieder daran erinnern, dass an Universitäten nicht nur gelehrt, sondern auch geforscht wird. Die Probleme stecken in der Durchführung der guten Idee. Das beginnt mit den Schlüsselqualifikationen. Was sich manche Politiker darunter vorstellen, ist einfach grotesk. Sicher täte es einigen hochspezialisierten Studiengängen ganz gut, wenn es dort ein Korrektiv gäbe, wenn dort allgemeinere methodische Kompetenzen auch noch gefragt und gepflegt würden. Aber eher generalistische Fächer wie die Philosophie haben dieses Problem gar nicht. Eigentlich ist ja Philosophie die Schlüsselqualifikation schlechthin, zumindest für wissenschaftliche und wissenschaftsnahe Berufe. Uns HTML- oder Powerpoint-Kurse als Schlüsselqualifikation aufdrängen zu wollen ist einfach nur lächerlich. Auch sonst sehe ich noch zu viele Zielvorstellungen der verschiedenen Akteure, die nicht gut zueinander passen. Da sollen die Studierenden zu Flexibilität und Mobilität ermuntert oder sogar angehalten werden. Gleichzeitig träumen manche Planer von ganz neuen, innovativen‘ Studiengängen, die man dann letztlich nur an einer einzigen europäischen Hochschule studieren kann. Oder es heißt, die Zahl der Hochschulabsolventen in Deutschland solle erhöht und die dozentische Betreuung jedes und jeder Studierenden intensiviert werden. Gleichzeitig sollen die Bildungs- und Wissenschaftsetats durch Studienreformen entlastet und gesenkt werden. Durch welches Wunder sollen denn diese drei Dinge zugleich möglich sein? Man spricht davon, dass Studierende 'endlich‘ an den Kosten ihres Studiums beteiligt werden müssten, übersieht aber, dass viele Studierende u.a. deshalb so lange studieren, weil sie gezwungen sind, sich ihren Lebensunterhalt zum Teil selbst zu verdienen. Schon jetzt gibt es hier eine Kluft zwischen Arm und Reich, nämlich zwischen Bafög-Empfängern, die wegen der nach wie vor niedrigen Sätze neben dem Studium arbeiten müssen und obendrein nach dem Studium viel Geld an den Staat zurückzahlen müssen, und solchen, die auf Bafög nicht angewiesen sind oder sich ihr Studium selbst verdienen, obwohl sie einen Anspruch auf Bafög hätten. An derartige Zustände haben wir uns so gewöhnt, dass darüber gar nicht mehr diskutiert wird. Es macht mich ziemlich nervös, wenn ich Bildungspolitiker sagen höre, dass die Einführung von Studiengebühren gar kein Problem sei, weil Stipendien dann soziale Härten ausgleichen würden. Fallen die Stipendien denn vom Himmel? De facto gehen wir da den Weg der schleichenden Privatisierung der deutschen Hochschulen, ohne dass auch nur diskutiert wird, was das bedeutet. Das alles hat mit dem Bologna-Prozess unmittelbar nichts zu tun. Aber es sind Rahmenbedingungen, die uns alle dazu anhalten, auf unangenehme Nebeneffekte bestimmter Reformen gefasst zu sein.

Wir Danken Herrn Tegetmeyer fü die Beantwortung unserer Fragen.


Henning Tegtmeyer ist Doktorand und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für theoretische Philosophie an der Universität Leipzig