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Erschienen in: Ausgabe #5 vom Januar 2006



Ein Gespräch mit Volker Caysa.

EiGENSiNN: Herr Caysa, Sie beschäftigen sich derzeit intensiv mit einer Ausarbeitung der Grundbegrifflichkeiten für eine Anthropologie des Körpers, bei der die Theorie des Empraktischen im Mittelpunkt steht. Sie haben zusammen mit dem Berliner Philosophieprofessor Gunter Gebauer den Arbeitskreis „Anthropologie des Körpers“ ins Leben gerufen. Womit beschäftigt sich dieser?

Caysa: Der Arbeitskreis „Anthropologie des Körpers“ innerhalb der Nietzsche-Gesellschaft hat den Anspruch, eine moderne Körperphilosophie zu entwickeln, um die Tendenzen der gegenwärtigen Körperkultur und deren Revolutionierung zu analysieren. Gleichzeitig wollen wir die mit der bioethischen Krise verbundenen neuen Themen auch in die Philosophie einbringen; wir wollen Ernst machen mit Nietzsches Forderung, am „Leitfaden des Leibes“ zu philosophieren.

Volker Caysa
Volker Caysa

EiGENSiNN: In Ihren Überlegungen schließen Sie an der Philosophie Nietzsches an, der ein radikaler Denker des existenziellen Individualismus ist. Diesem Kontext entspringt der Begriff des „Übermenschen“. Wie könnte eine gegenwartsrelevante Konzeption dessen aussehen? Welche Züge zeichnen ihn im Jetzt und Hier unserer Gesellschaft aus?

Caysa: Man muß Nietzsches Begriff des „Übermenschen“ säkularisieren und das heißt, man sollte den „Übermenschen“ in einem schwachen Sinne bestimmen: als Mensch, der sich selbst überwindet. Und wenn man den „Übermenschen“ in diesem schwachen Sinne deutet, ist er sogar den „letzten Menschen“, die nach dem Glück streben, möglich. Neu ist allerdings bei der Thematisierung des „Übermenschen“ in unserer Zeit, im Anschluß an Nietzsche, daß wir nun heute tatsächlich die Illusion haben können, den „Übermenschen“ technologisch zu gestalten, und das bedeutet wiederum, daß wir unsere Züchtungsphantasien per Biotechnologie umsetzen können. Gerade in Bezug auf diese neuen technologischen Selbstverhältnisse muß sich der Mensch neu selbst bestimmen. Das scheint mir eines der Hauptprobleme, wenn nicht das Kernproblem der Selbstüberwindung des Menschen durch sich selbst. Man könnte auch sagen, durch den biotechnologischen Fortschritt sind wir in eine neue Phase der Autoevolution eingetreten, und ich denke, Nietzsche versuchte durchaus mit der Idee des „Übermenschen“ diese Autoevolution zu thematisieren.

EiGENSiNN: Kann man von einer Sinnsuche in sowohl aktiven, wie auch passiven Wahnsinn sprechen, wenn ersterer den Aufbau eigener, und das heißt individuell selbst gesetzter Rauschwelten und damit Lebenswelten, und letzterer ausschließlich vor-gesetzte gesellschaftliche Strukturen impliziert?

Caysa: Ich denke, die Rauschsuche oder die Sinnsuche im aktiven und passiven Wahnsinn realisiert sich auf verschiedenste Art und Weise über Selbstbestimmung und Vorgegebenheiten. Man kann nicht sagen, Sinnsuche sei allein absolute Selbstbestimmung, sondern Sinnsuche bewegt sich immer im Spannungsfeld von Autonomie und Heteronomie. Natürlich streben wir nach Autonomie, aber das ist eben nur möglich vor dem Hintergrund der Erfahrung von Heteronomie und so, denke ich, wird der aktive Wahnsinn nur möglich im Gegensatz, in Konfrontation mit dem passiven Wahnsinn. Eine absolute Dominanz nur der einen Seite wird es nicht geben. Das Wichtigste scheint mir aber zu sein, daß man sowohl beim aktiven wie auch beim passiven Wahnsinn die damit verbundenen Sehnsüchte, Wünsche und Triebe der Menschen nicht als Trivialkultur und damit als nicht-philosophisch abtut, sondern daß man das „Triviale“, dieses „Nicht-Philosophische“ in unser aller Existenz endlich ernst nimmt.

EiGENSiNN: Der Rausch ist seit jeher eine grundlegende gemeinschaftsstiftende Komponente des menschlichen Lebens. Welche Bedeutung hat er für unser Zeitalter, das Zeitalter der Individuation? Anders gefragt: Welchen gemeinschaftlichen Kern trägt Nietzsches „Zarathustra“ in sich?

Caysa: Den Gemeinschaft bildenden Kern des „Zarathustra“ sehe ich darin, daß er uns zu radikaler Selbstgestaltung aufruft. Dieses könnte das neue Gemeinschaftliche, das Verbindende, das Ein-Bindende im „Zarathustra“-Konzept sein. Man muß aber auch ganz klar sagen, daß dieser Aufruf zu radikaler Selbstgestaltung auch Gemeinschaft verhindern könnte. Er kann zu einem extremen Individualismus führen, der als solcher natürlich auch Gemeinschaft verhindern kann. Die Frage ist also, wie weit sich dieser radikale Individualismus als Selbstgestaltung selbst begrenzen können muß und eben nicht nur entgrenzen um zu funktionieren.

EiGENSiNN: Wie kann man im Anschluß an Nietzsche vom Individualismus zu einem neuen Konzept von Gemeinschaft gelangen?

Caysa: Ich glaube, man kann Nietzsches „Zarathustra“-Projekt auch als ein Utopieprojekt lesen, und dann stellt sich die Frage: Wie wird in dieser Utopie Gemeinschaftlichkeit hergestellt? Wie wird eine Wir-Utopie im „Zarathustra“-Projekt möglich? Meines Erachtens auf der Basis einer Ich-Utopie. Man kann aber nicht sagen, daß es entweder um die Verwirklichung von Ich-Utopien, oder von Wir-Utopien geht, sondern es geht dabei vor allem darum, das Begründungsverhältnis von Ich- und Wir-Utopien neu zu bestimmen. Der Mangel der alten Wir-Utopien besteht vor allem darin, daß die Ich-Utopie vernachlässigt wurde und das Ich sich radikal dem Wir unterzuordnen hatte, so daß das Ich in der Wir-Utopie verloren ging. Dieser Zustand muß aufgehoben werden. Deshalb muß das Verhältnis von Ich- und Wir-Utopien in der Begründung von Utopien neu bestimmt werden. Dafür steht für mich Nietzsches radikaler Individualismus, der als solcher aber nicht schlechthin antigemeinschaftlich zu verstehen ist, sondern als Gemeinschaftskonzept auf der Basis von gemäßigter Selbstgestaltung.

EiGENSiNN: Welchen philosophischen Zusammenhang sehen Sie zwischen dem Begriff des Empraktischen und dem des Rausches?

Caysa: Der Rausch ist für uns eine elementare Erlebnisform des Empraktischen als einem gelingenden Funktionieren von Handeln – ohne Nachdenken und ohne metastufige Reflexion. Das Empraktische kann auch in anderen Formen auftreten. Vor allem aber geht uns das Empraktische als Rauschzustand an. Dabei ist aber nicht jeder Rauschzustand als Empraktisches zu bestimmen. Das Empraktische fasziniert uns, wenn wir es als Art und Weise des Rausches erleben. Aber es kann noch in anderen Formen auftreten, wie zum Beispiel in Form von instinktivem Handeln, von triebhaftem Handeln, von schweigendem Handeln. Es müssen also nicht unbedingt Rauschformen sein, in denen das Empraktische auftritt – aber alle seine Erscheinungsformen können in ihrer Steigerung zu Rauschformen werden.

EiGENSiNN: Kann man von einer neuen Theorie des Empratischen sprechen oder trifft das Wort „Theorie“ beim Empraktischen nicht wirklich den Sinn der Sache?

Caysa: Wenn man sich erst einmal fragt, wie der Begriff des Empraktischen in die Philosophie gewandert ist, dann wird man feststellen, daß ihn Karl Bühler in seiner Sprachphilosophie erstmals philosophisch verwendet hat. Es ist das Verdienst von Pirmin Stekeler-Weithofer, diesen Begriff aufgenommen zu haben und, wie ich denke, erst einmal im strengen Sinne auch wirklich zu einem Begriff gemacht zu haben. Jetzt stellt sich die Frage, was für eine Idee in diesem Begriff enthalten ist, was der Begriff für Möglichkeiten hat, um die Vorgängigkeitsstrukturen unserer Praxisverhältnisse zu thematisieren. Wenn es gelingen soll, aus diesem abstrakten Begriff des Empraktischen wirklich eine konkrete Theorie zu entwickeln, dann muß man ihn daraufhin abklopfen, was er für Möglichkeiten bietet, Lebens- und Existenzprobleme in einer säkularisierten Form zu reformulieren. Die Frage ist in welchem Maße er etwas neu, tiefer und klarer beschreiben könnte, wie es bisher eben noch nicht möglich war oder wozu man bisher Gedankenformen nutzen mußte, die nicht mehr der Rationalität unserer technisch-wissenschaftlichen Welt entsprechen, wie zum Beispiel mystische Gedankenformen.

EiGENSiNN: Sehen Sie in einer möglichen Theorie des Empraktischen eine neue funktionale Erkenntnisstruktur von Politik? Wenn ja, was für eine Form von Politik ist das?

Caysa: Im Empraktischen zeigt sich, daß man auch Politik in einem anscheinend unpolitischen Sinne machen kann: Indem zum Beispiel Körper rauschhaft funktionieren, realisieren sie menschliche Selbstverhältnisse, die auf neue Art und Weise Gemeinschaft stiften und sich aufeinander gemeinschaftlich beziehen. In diesem Sinne sind sie politisch. Man kann also sagen, daß der Begriff des Politischen in seiner Fixierung auf das Staatliche und institutionell Vergemeinschaftete aufgebrochen werden könnte, hin auf die Selbstgestaltungsmöglichkeiten für die Individuen und deren neue Ideen von Gemeinschaftlichkeit in ihrem Körpergebrauch – ohne daß sie das jetzt schon explizit wüßten.

EiGENSiNN: Herr Caysa, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Gespräch führte Konstanze Schwarzwald.


Volker Caysa, lehrt derzeit Philosophie an den Universitäten Lódz und Leipzig. Zu seinen Publikationen gehören:

Körperutopien. Eine philosophische Anthropologie des Sports. Frankfurt a. Main 2003.

Kritik als Utopie der Selbstregierung. Über die existenzielle Wende der Kritik nach Nietzsche. Berlin 2005.