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Erschienen in: Ausgabe #5 vom Januar 2006


von Marcus Steinweg

Warum Nietzsche?

Achtzehn Gründe für Nietzsche

Marcus Steinweg

1. Weil Gott tot ist, und dass für das philosophische Subjekt bedeutet, endgültig für sich, für seine Entscheidungen und Handlungen, verantwortlich zu sein. Nietzsche hat das in aller Deutlichkeit gesehen. Nietzsches Philosophie ist eine Philosophie der Verantwortung. Sie denkt die Einsamkeit des Subjekts. Das Subjekt als Subjekt ist einsam. Es ist einsam, weil es niemanden gibt, vor dem es schuldig werden kann. Kein Gott, kein Gewissen. Das Subjekt ist in diesem Sinn unendlich unschuldig. Das bedeutet nicht, dass es nicht verantwortlich wäre. Im Gegenteil: dass Subjekt ist unendlich verantwortlich, weil es unendlich unschuldig ist. Nietzsche denkt diese Unschuld des Werdens als Bedingung der Möglichkeit der Verantwortlichkeit des Subjekts. Nietzsches Philosophie ist eine ethische Philosophie. Sie entwirft den Grundriss einer neuen Verantwortung und einer neuen Ethik. Ethik ist nicht das gleiche wie Moral. Deleuze hat die Unterscheidung von Ethik und Moral im Anschluss an Nietzsche mit großer Strenge gedacht. Der Gott ist immer der Gott der Moral. „Gott ist tot“ bedeutet, dass die Moral mit ihm tot ist. Die Erzählung vom tollen Menschen zeigt, dass die Moral sich seit dem Tod Gottes mit ihm zu sterben geweigert hat. Die Moral hat den Tod überlebt und mit ihr das Gewissen und die Schuld. Obwohl Gott tot ist – und Gott ist zunächst der Wächter über die Moral – bleibt das Subjekt befangen in Gewissensnöten und Schuld. Das Subjekt flieht die Verantwortung in die Moral. Es weigert sich verantwortlich zu sein. Es entzieht sich der Notwendigkeit, eine eigene Ethik auszubilden, die es für seine Handlungen verantwortlich macht.

2. Weil Nietzsches Ontologie eine Ontologie der Verantwortung ist, die sich der Realität und ihrer Grausamkeit nicht entzieht. Nietzsche hielt Plato für einen Feigling. Thukydides war sein Gegengift. Nietzsche bestand darauf sich mit der Realität zu konfrontieren. Er weigerte sich die Realität zu entschärfen. Seine Philosophie ist eine Philosophie der Tatsachen. Sie ist gefährlich, weil sie sich der Gefährlichkeit des Tatsächlichen stellt. Es ist ein Denken der Gefahr in Gefahr. Für jeden, der mit ihm in Berührung kommt. Nietzsches Politik ist keine Politik des Relativen oder des Illusorischen. Es ist eine Politik der Wahrheit. Nietzsche ist ein Denker der Wahrheit. Die Wahrheit ist nichts anderes als das Reale wie es dem verantwortlichen Subjekt erscheint. Das ethische Subjekt ist das Subjekt der Wahrheit.

3. Weil er sich gegen Ungerechtigkeit empört. Nietzsche will Gerechtigkeit. Seine Attacken gegen das Christentum, die Kirche, die Universität und ihre Professoren, usw. sind Ausdruck dieser Empörung. Nietzsche wurde nicht müde, empört zu sein. Die letzten Bücher beschleunigen diese Empörung, verdichten und verdeutlichen sie. Die Empörung Nietzsches hat nichts mit Moral zu tun. Nietzsche ist zu keinem Zeitpunkt Moralist. Im Gegenteil, worüber er sich empört ist die Moral. Im Namen einer zu erfindenden Gerechtigkeit. Nietzsche ist in dem Ausmaß, indem er der Denker der Wahrheit ist, der Denker der Gerechtigkeit. Er weiß, dass Gerechtigkeit nichts mit Gleichheit zu tun hat. Nietzsche will Ungleichheit, indem er Gerechtigkeit und Wahrheit will. Nietzsche vertritt eine Politik der Differenz. Eine Politik der Vielheit und der Unterschiede, die sich der moralischen Einebnung faktischer Differenzen entzieht. Mit Badiou könnte man sagen, dass Nietzsches Denken und seine Verantwortlichkeit von einem neuen und unbestimmten Gerechtigkeitsaxiom abhängen, welches das Subjekt als Subjekt zu sich befreit. Nietzsches Philosophie ist eine Philosophie der Freiheit.

4. Weil Nietzsche ein Krieger ist. Er weigert sich den Meinungen seiner Zeit zuzustimmen: Nietzsche ist Antimilitarist. Aber er ist ein Krieger. Nietzsche wollte im Wahnsinn unter anderem den Kaiser erschießen lassen. Aber er vertraute mit Goethe auf Napoleon.

5. Weil sein Denken heiter, lustvoll und lebensbejahend ist. Nietzsches Philosophie bekämpft alle Formen des Ressentiments. Sich rächen wollen, bedeutet unfrei und abhängig zu sein. Nietzsche verwirft die Abhängigkeit, weil er die Freiheit liebt. Daher der Gedanke der ewigen Wiederkehr. Die ewige Wiederkehr des Gleichen bejahen können heißt, die Zukunft in ihrer Unvorhersehbarkeit bejahen. Es heißt, die Zukunft von der Vergangenheit befreien. Aus Verantwortung. Denn die Zukunft des ressentimentalen Subjekts ist keine Zukunft mehr. Nietzsches Subjekt ist kein Subjekt der Schuld.

6. Weil Nietzsche einen der unnachgiebigsten emanzipatorischen Diskurse entwirft. Nietzsches Denken verlangt vom Subjekt verantwortlich zu sein. Es verlangt von ihm, dass es über sich selbst bestimmt und sich keiner fremden Autorität unterstellt. Nietzsches Angriffe auf Wagner sind zunächst Angriffe auf den Wagner-Kult. Nietzsche verachtet in Wagner das pompöse feierliche Bayreuth. Nietzsche ist kein Kitschist. Seine Philosophie ist mit keiner Diktatur oder Führerpolitik vereinbar. Sie entzieht sich den Forderungen der Politik seiner Zeit. Sie ist nicht demokratisch, aber mit der Demokratie in einem radikalisierten Sinn vereinbar. Nietzsche verurteilt die demokratische Vereinfachung von Realität. Er weiß um die Unhintergehbarkeit einer gewissen Differenz. Die Realität Nietzsches ist differenziell. Die Differenzialität des Realen ist unhintergehbar. Sie lässt sich demokratisch nicht adäquat vermitteln. Nietzsche misstraut allen Formen mäßiger Diplomatie. Er misstraut der Idee, selbst der Mäßigung. Das ist sein Konzept einer allgemeinen Ökonomie: Nietzsche ist der Denker einer gewissen Maßlosigkeit.

7. Weil Nietzsche ein riskanter, schneller und maßloser Denker ist.

8. Weil Nietzsche die Philosophie auf die Meteorologie, auf das Klima von Sils Maria, auf die Wüste Zarathustras und das Meer seiner Einsamkeit überschritten hat. Nietzsche ist der Protagonist einer bestimmten Geophilosophie. Nietzsche stellt die Frage der Ernährung, der Jahreszeiten, der italienischen und deutschen Küche. Nietzsche besteht auf der Relevanz dieser Fragen für die Philosophie.

9. Weil Nietzsche das Mitleid verachtet. Nietzsche weiß, dass Mitleid Verachtung und Erniedrigung einschließt. Er weigert sich, den Anderen zu erniedrigen. Nietzsche ist der Philosoph des ungeteilten Respekts.

10. Weil Nietzsche ein großer Erfinder ist. Der Übermensch ist zunächst eine bedeutende Erfindung. Nietzsche erfindet einen neuen Menschen. Es ist der Mensch der Instinkte. Ein von allen Kleinigkeiten und Bösartigkeiten befreiter Mensch. Nietzsche ersehnt sich diesen Menschen. Er träumt von ihm als vom Vertreter einer neuen großen Politik. Nietzsche ist der Denker des Großen und des Übergroßen. Er ist der Denker einer bestimmten Großzügigkeit. Er hat nichts mit der Kleinlichkeit seiner Zeit zu tun.

11. Weil Heidegger, Bataille, Foucault, Derrida und Deleuze seine Schüler sind. Nietzsche ist der Philosoph der Philosophen. Er ist dies als Anti-Philosoph. Nietzsche erwartet von der Philosophie einen nichtphilosophischen Effekt.

12. Weil Nietzsche ein unbekanntes Subjekt aufrichtet. Ein Subjekt, das sich weigert, seine eigene Unzulänglichkeit zu zelebrieren. Ein sinnliches, aber unsentimentales Subjekt. Ein Subjekt großer Leidenschaften, das die Fähigkeit zur Selbstüberwindung in sich trägt.

13. Weil Nietzsche der Denker der Leidenschaften, des Begehrens und des Schmerzes ist. Nietzsche zu denken bedeutet einen gewissen Schmerz zu denken. Nietzsche wollte sich nicht anmerken lassen, dass sein Denken ihn schmerzt. Nietzsche ist das Subjekt seines Schmerzes. Er versucht Verantwortung zu übernehmen für seinen Schmerz. Über dem Abgrund dieses Schmerzes schweben auch die leichtesten seiner Gedanken. Nietzsche ist der Denker der Leichtigkeit. Die Leichtigkeit im Umgang mit den Schmerzen empfindet er als Zeugnis einer menschlichen Kraft.

14. Weil Nietzsche mit dem Willen zur Macht den Willen zur Verantwortung denkt.

15. Weil Nietzsche allen reaktiven und reaktionären Kräften den unbedingten Willen zur Handlung entgegensetzt. Nietzsche entwirft eine praktische Philosophie. Er benutzt die Philosophie. Die Philosophie ist für ihn ein Werkzeug. Sie soll den Menschen verändern. Sie soll ihn überfordern. Sie soll aus dem Menschen ein Subjekt machen. Sie soll ihn aufrichten und nicht entmutigen. Philosophie gibt es für Nietzsche nur jenseits einer gewissen krankhaften Verletzlichkeit, jenseits der Giftmischerei, der falschen Toleranz und des Ressentiments. Nietzsche ist einem starken Sinn intolerant. Sein unbedingter Wille zur Verantwortung zwingt ihn dazu. Nietzsche verweigert sich der Diktatur der Empfindsamkeit und ihrer entmündigenden Toleranz.

16. Weil Nietzsche ein unerhörter Psychologie der Geschlechterdifferenz ist. Nietzsche weigert sich, die Frau zu viktimisieren. Er denkt die Frau in ihrer Verantwortung. Nietzsche will die Differenz der Geschlechter emanzipieren.

17. Weil Nietzsche das wirksamste Gegengift zu Zynismus, Moralismus, Nihilismus, Narzissmus ist. Nietzsches Denken stabilisiert die Unterscheidung zwischen dem narzisstischen und dem verantwortlichen Subjekt. Das narzisstische Subjekt ist kein Subjekt. Es ist narzisstisch-depressiv. Es bietet sich an. Es macht keine Erfahrungen. Es schützt sich vor jeder echten Erfahrung. Es spielt an sich rum. Es leckt seine Wunden. Das narzisstische Subjekt will kein verantwortliches Subjekt sein.

18. Weil Nietzsche einen starken Humor erfindet, der es ihm möglich macht, über sich selbst zu lachen. Nietzsche ist, wie Deleuze sagt, das Subjekt seines neuen Humors.


[Referat, gehalten am 13. August 2002, Bataille-Monument, Kassel]

Marcus Steinweg, geb. 1971, lebt in Berlin als freischaffender Philosoph. Er veröffentlichte unter anderen:

Autofahren mit Lacan. Koblenz 2001. – Bataille Maschine. Berlin 2002. – Subjektsingularitäten. Berlin 2005.