von Marcus Steinweg
Warum Nietzsche?
Achtzehn Gründe für Nietzsche
Marcus Steinweg
1.
Weil Gott tot ist, und dass für das philosophische Subjekt bedeutet,
endgültig für sich, für seine
Entscheidungen und Handlungen,
verantwortlich zu sein. Nietzsche hat das in aller Deutlichkeit gesehen. Nietzsches
Philosophie ist eine Philosophie der Verantwortung. Sie denkt die Einsamkeit
des Subjekts. Das Subjekt als Subjekt ist
einsam. Es ist einsam, weil es niemanden
gibt, vor dem es schuldig werden kann. Kein Gott, kein Gewissen. Das Subjekt
ist in diesem Sinn unendlich unschuldig. Das bedeutet nicht, dass es nicht verantwortlich
wäre. Im
Gegenteil: dass Subjekt ist unendlich verantwortlich, weil es
unendlich unschuldig ist. Nietzsche denkt diese Unschuld
des Werdens als Bedingung
der Möglichkeit der Verantwortlichkeit des Subjekts. Nietzsches Philosophie
ist
eine ethische Philosophie. Sie entwirft den Grundriss einer neuen Verantwortung
und einer neuen Ethik. Ethik ist nicht
das gleiche wie Moral. Deleuze hat die
Unterscheidung von Ethik und Moral im Anschluss an Nietzsche mit großer
Strenge gedacht. Der Gott ist immer der Gott der Moral. „Gott ist tot“
bedeutet, dass die Moral mit
ihm tot ist. Die Erzählung vom tollen Menschen
zeigt, dass die Moral sich seit dem Tod Gottes mit ihm zu sterben
geweigert
hat. Die Moral hat den Tod überlebt und mit ihr das Gewissen und die Schuld.
Obwohl Gott tot ist
– und Gott ist zunächst der Wächter über
die Moral – bleibt das Subjekt befangen in
Gewissensnöten und Schuld.
Das Subjekt flieht die Verantwortung in die Moral. Es weigert sich verantwortlich
zu sein. Es entzieht sich der Notwendigkeit, eine eigene Ethik auszubilden,
die es für seine Handlungen
verantwortlich macht.
2. Weil Nietzsches Ontologie eine Ontologie der Verantwortung ist, die sich
der Realität und ihrer Grausamkeit nicht entzieht. Nietzsche hielt Plato
für einen Feigling. Thukydides
war sein Gegengift. Nietzsche bestand darauf
sich mit der Realität zu konfrontieren. Er weigerte sich die
Realität
zu entschärfen. Seine Philosophie ist eine Philosophie der Tatsachen. Sie
ist gefährlich,
weil sie sich der Gefährlichkeit des Tatsächlichen
stellt. Es ist ein Denken der Gefahr in Gefahr. Für
jeden, der mit ihm
in Berührung kommt. Nietzsches Politik ist keine Politik des Relativen
oder des
Illusorischen. Es ist eine Politik der Wahrheit. Nietzsche ist ein
Denker der Wahrheit. Die Wahrheit ist nichts anderes
als das Reale wie es dem
verantwortlichen Subjekt erscheint. Das ethische Subjekt ist das Subjekt der
Wahrheit.
3. Weil er sich gegen Ungerechtigkeit empört. Nietzsche will Gerechtigkeit.
Seine Attacken gegen das Christentum, die Kirche, die Universität und ihre
Professoren, usw. sind Ausdruck dieser
Empörung. Nietzsche wurde nicht
müde, empört zu sein. Die letzten Bücher beschleunigen diese
Empörung, verdichten und verdeutlichen sie. Die Empörung Nietzsches
hat nichts mit Moral zu tun. Nietzsche
ist zu keinem Zeitpunkt Moralist. Im
Gegenteil, worüber er sich empört ist die Moral. Im Namen einer zu
erfindenden Gerechtigkeit. Nietzsche ist in dem Ausmaß, indem er der Denker
der Wahrheit ist, der Denker der
Gerechtigkeit. Er weiß, dass Gerechtigkeit
nichts mit Gleichheit zu tun hat. Nietzsche will Ungleichheit, indem
er Gerechtigkeit
und Wahrheit will. Nietzsche vertritt eine Politik der Differenz. Eine Politik
der Vielheit und
der Unterschiede, die sich der moralischen Einebnung faktischer
Differenzen entzieht. Mit Badiou könnte man sagen,
dass Nietzsches Denken
und seine Verantwortlichkeit von einem neuen und unbestimmten Gerechtigkeitsaxiom
abhängen, welches das Subjekt als Subjekt zu sich befreit. Nietzsches Philosophie
ist eine Philosophie der
Freiheit.
4. Weil Nietzsche ein Krieger ist. Er weigert sich den Meinungen seiner Zeit
zuzustimmen: Nietzsche ist Antimilitarist. Aber er ist ein Krieger. Nietzsche
wollte im Wahnsinn unter anderem den
Kaiser erschießen lassen. Aber er
vertraute mit Goethe auf Napoleon.
5. Weil sein
Denken heiter, lustvoll und lebensbejahend ist. Nietzsches Philosophie
bekämpft alle Formen des Ressentiments.
Sich rächen wollen, bedeutet
unfrei und abhängig zu sein. Nietzsche verwirft die Abhängigkeit,
weil er die Freiheit liebt. Daher der Gedanke der ewigen Wiederkehr. Die ewige
Wiederkehr des Gleichen bejahen
können heißt, die Zukunft in ihrer
Unvorhersehbarkeit bejahen. Es heißt, die Zukunft von der
Vergangenheit
befreien. Aus Verantwortung. Denn die Zukunft des ressentimentalen Subjekts
ist keine Zukunft mehr.
Nietzsches Subjekt ist kein Subjekt der Schuld.
6. Weil Nietzsche einen der unnachgiebigsten
emanzipatorischen Diskurse entwirft.
Nietzsches Denken verlangt vom Subjekt verantwortlich zu sein. Es verlangt von
ihm, dass es über sich selbst bestimmt und sich keiner fremden Autorität
unterstellt. Nietzsches
Angriffe auf Wagner sind zunächst Angriffe auf
den Wagner-Kult. Nietzsche verachtet in Wagner das pompöse
feierliche Bayreuth.
Nietzsche ist kein Kitschist. Seine Philosophie ist mit keiner Diktatur oder
Führerpolitik vereinbar. Sie entzieht sich den Forderungen der Politik
seiner Zeit. Sie ist nicht demokratisch,
aber mit der Demokratie in einem radikalisierten
Sinn vereinbar. Nietzsche verurteilt die demokratische Vereinfachung
von Realität.
Er weiß um die Unhintergehbarkeit einer gewissen Differenz. Die Realität
Nietzsches
ist differenziell. Die Differenzialität des Realen ist unhintergehbar.
Sie lässt sich demokratisch nicht
adäquat vermitteln. Nietzsche misstraut
allen Formen mäßiger Diplomatie. Er misstraut der Idee, selbst
der
Mäßigung. Das ist sein Konzept einer allgemeinen Ökonomie: Nietzsche
ist der Denker einer
gewissen Maßlosigkeit.
7. Weil Nietzsche ein riskanter, schneller und maßloser Denker
ist.
8. Weil Nietzsche die Philosophie auf die Meteorologie, auf das Klima von Sils
Maria,
auf die Wüste Zarathustras und das Meer seiner Einsamkeit überschritten
hat. Nietzsche ist der Protagonist
einer bestimmten Geophilosophie. Nietzsche
stellt die Frage der Ernährung, der Jahreszeiten, der italienischen und
deutschen Küche. Nietzsche besteht auf der Relevanz dieser Fragen für
die Philosophie.
9. Weil Nietzsche das Mitleid verachtet. Nietzsche weiß, dass Mitleid
Verachtung und
Erniedrigung einschließt. Er weigert sich, den Anderen
zu erniedrigen. Nietzsche ist der Philosoph des
ungeteilten Respekts.
10. Weil Nietzsche ein großer Erfinder ist. Der Übermensch ist
zunächst
eine bedeutende Erfindung. Nietzsche erfindet einen neuen Menschen. Es ist der
Mensch der
Instinkte. Ein von allen Kleinigkeiten und Bösartigkeiten befreiter
Mensch. Nietzsche ersehnt sich diesen
Menschen. Er träumt von ihm als vom
Vertreter einer neuen großen Politik. Nietzsche ist der Denker des
Großen
und des Übergroßen. Er ist der Denker einer bestimmten Großzügigkeit.
Er hat
nichts mit der Kleinlichkeit seiner Zeit zu tun.
11. Weil Heidegger, Bataille, Foucault, Derrida
und Deleuze seine Schüler
sind. Nietzsche ist der Philosoph der Philosophen. Er ist dies als Anti-Philosoph.
Nietzsche erwartet von der Philosophie einen nichtphilosophischen Effekt.
12. Weil Nietzsche ein
unbekanntes Subjekt aufrichtet. Ein Subjekt, das sich
weigert, seine eigene Unzulänglichkeit zu zelebrieren. Ein
sinnliches,
aber unsentimentales Subjekt. Ein Subjekt großer Leidenschaften, das die
Fähigkeit zur
Selbstüberwindung in sich trägt.
13. Weil Nietzsche der Denker der Leidenschaften, des
Begehrens und des Schmerzes
ist. Nietzsche zu denken bedeutet einen gewissen Schmerz zu denken. Nietzsche
wollte
sich nicht anmerken lassen, dass sein Denken ihn schmerzt. Nietzsche
ist das Subjekt seines Schmerzes. Er versucht
Verantwortung zu übernehmen
für seinen Schmerz. Über dem Abgrund dieses Schmerzes schweben auch
die leichtesten seiner Gedanken. Nietzsche ist der Denker der Leichtigkeit.
Die Leichtigkeit im Umgang mit den
Schmerzen empfindet er als Zeugnis einer
menschlichen Kraft.
14. Weil Nietzsche mit dem
Willen zur Macht den Willen zur Verantwortung denkt.
15. Weil Nietzsche allen reaktiven und
reaktionären Kräften den unbedingten
Willen zur Handlung entgegensetzt. Nietzsche entwirft eine praktische
Philosophie.
Er benutzt die Philosophie. Die Philosophie ist für ihn ein Werkzeug. Sie
soll den Menschen
verändern. Sie soll ihn überfordern. Sie soll aus
dem Menschen ein Subjekt machen. Sie soll ihn aufrichten
und nicht entmutigen.
Philosophie gibt es für Nietzsche nur jenseits einer gewissen krankhaften
Verletzlichkeit, jenseits der Giftmischerei, der falschen Toleranz und des Ressentiments.
Nietzsche ist einem starken
Sinn intolerant. Sein unbedingter Wille zur Verantwortung
zwingt ihn dazu. Nietzsche verweigert sich der Diktatur der
Empfindsamkeit und
ihrer entmündigenden Toleranz.
16. Weil Nietzsche ein
unerhörter Psychologie der Geschlechterdifferenz
ist. Nietzsche weigert sich, die Frau zu viktimisieren. Er denkt
die Frau in
ihrer Verantwortung. Nietzsche will die Differenz der Geschlechter emanzipieren.
17. Weil Nietzsche das wirksamste Gegengift zu Zynismus, Moralismus, Nihilismus,
Narzissmus ist.
Nietzsches Denken stabilisiert die Unterscheidung zwischen dem
narzisstischen und dem verantwortlichen Subjekt. Das
narzisstische Subjekt ist
kein Subjekt. Es ist narzisstisch-depressiv. Es bietet sich an. Es macht keine
Erfahrungen. Es schützt sich vor jeder echten Erfahrung. Es spielt an sich
rum. Es leckt seine Wunden. Das
narzisstische Subjekt will kein verantwortliches
Subjekt sein.
18. Weil Nietzsche einen
starken Humor erfindet, der es ihm möglich macht,
über sich selbst zu lachen. Nietzsche ist, wie Deleuze
sagt, das Subjekt
seines neuen Humors.
[Referat, gehalten am 13. August 2002,
Bataille-Monument, Kassel]
Marcus Steinweg, geb. 1971, lebt in Berlin als freischaffender
Philosoph. Er
veröffentlichte unter anderen:
Autofahren mit Lacan. Koblenz 2001.
– Bataille Maschine. Berlin 2002.
– Subjektsingularitäten. Berlin 2005.