Politik - Gemeinschaft - Philosophie. Ein Gespräch mit Thomas Kater
EiGENSiNN: Wenn man über
politische Philosophie spricht, dann ist es
sicherlich sinnvoll zu fragen, von
welcher Zäsur, von welcher Erfahrung aus man diese betreibt. An welcher
historischen Zäsur ließe sich das politische Denken in Ihren Augen
anstoßen?
Kater: Die erste relevante historische Zäsur ist immer noch die Französische
Revolution,
nicht zu vergessen ist dabei auch die Amerikanische Revolution,
weil sich hier der Einbruch der Freiheit in das
Politische vollzog. Das mag
zwar zweihundert Jahre zurückliegen, aber wir kommen nicht daran vorbei,
das als
bleibenden Bezugspunkt des politischen Denkens anzuerkennen. In gewisser
Hinsicht hat entsprechend Hegel Recht, wenn er
sagt, die Idee der Freiheit ist
unüberbietbar, und zwar insofern als gegenwärtig nicht zu sehen ist,
daß in normativer Hinsicht etwas jenseits der Freiheit im Raum des Politischen
eine begründete Rolle spielen
könnte. Das aber ist ein eher positiv
motivierter Anschluß an eine Zäsur. Die zweite, zur Distanzierung
zwingende Zäsur ist der exzessive Einbruch der Gewalt in das Politische,
den wir für das zwanzigste
Jahrhundert festhalten müssen, und zwar
nicht erst die Eskalation des Zweiten Weltkrieges. Vielmehr markiert, wie
es
sich auch schon in der Wahrnehmung der Zeitgenossen artikuliert, der Erste Weltkrieg,
diese
‚Urkatastrophe der Moderne’ den entscheidenden Schnitt. Seitdem
kann man Gesellschaft, Gemeinschaft, das
Politische nicht mehr so denken wie
vorher. Für den Zweiten Weltkrieg und seine Folgegeschichte wird dann nicht
nur wichtig, daß wir konfrontiert sind mit der Möglichkeit nicht
nur des Genozids, der
planmäßigen Vernichtung einer anderen Gruppe,
sondern daß wir auch konfrontiert sind – und zwar
anhaltend –
mit dem Holozid, der Selbstvernichtung der Gattung. Daraus ergibt sich eine
ganz bemerkenswerte
Konstellation: Wenn man Gewalt von diesem Endpunkt her denkt,
ist die Frage des Denkens der Gewalt eine Frage auch der
Selbsterhaltung der
Philosophie. Sie muß sich selbst im Modus der Selbsterhaltung denken,
wenn sie von
diesem Punkt her überhaupt sinnvoll das Politische denken
will. Auf der einen Seite haben wir somit den normativen
Kontext von Freiheit
und auf der anderen die Faktizität des Kontextes der Gewalt. Das ist das
Spannungsfeld
historischer Zäsuren, von dem aus und in dem wir heute das
Politische denken müssen.
Thomas Kater
EiGENSiNN: Sie haben die Gemeinschaft angesprochen, womit sich natürlich
sofort die Frage nach
dem Zusammenhang zwischen dem politischen Denken und der
Gemeinschaft stellt.
Kater: Mir
ging es zunächst darum, begriffliche Punkte zu markieren, die
für die politische Philosophie die
entscheidende Rolle spielen. Der Gemeinschaft
kommt natürlich eine besondere Rolle zu, weil wir festhalten
müssen,
daß der Mensch immer als ein in Gemeinschaft befindliches Wesen zu denken
ist. Das impliziert
aber nicht, daß man ihn damit auch im Anschluß
an Aristoteles als zoon politikon kennzeichnen muß,
als ein Wesen, das
nur in politischer Gemeinschaft überhaupt als Mensch gedacht werden kann.
Was wir
konstatieren müssen ist, daß selbst unter theoretischen Bedingungen,
wo wie zum Beispiel bei Hobbes der
Begriff der Gemeinschaft nicht mehr trägt,
die Reflexion eines funktionierenden Miteinanders stattfindet, also die
Frage
gestellt wird, wie der Mensch in gemeinschaftlichen Kontexten als gelingendem
Miteinander gedacht werden
kann? Nimmt man im Sinne eines groben Schnittes die
antike Tradition auf der einen und die moderne auf der anderen
Seite, so ist
das Signifikante, daß es sich in der Antike von selbst verstand, daß
der Mensch als
gemeinschaftliches Wesen sich immer in Gemeinschaft befindet
und so war die entscheidende Frage die der Organisation
dieser Gemeinschaftlichkeit,
im Sinne der Frage, welche Form der Herrschaft ihr korrespondiert. In der Moderne
versteht sich das nicht mehr von selbst, das Miteinander, um den Begriff der
Gemeinschaft einmal zu vermeiden, wird als
je Gefährdetes wahrgenommen.
Im Anschluß an Hobbes steht im Mittelpunkt der politischen Philosophie
die Frage: Wie kann man die potentielle Gefährdung des Miteinanders überwinden?
Die Antwort: Indem wir die
Gefährdungspotentiale, das heißt die Gewaltpotentiale
des Menschen stillstellen. Bemerkenswert ist,
daß dieses Problem von Hobbes
bis Hegel, bei diesem schon nicht mehr expressiv verbis, im Zentrum der politischen
Philosophie steht. Dann taucht es in den Zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts
im Diskussionszusammenhang
um Carl Schmitt wieder auf, bei ihm als sozusagen
exzessiver Hobbesianismus, mit dem ich Schwierigkeiten habe. Wobei
anzuerkennen
ist, daß er sich der Frage stellt, wie ist ein tragfähiges, das heißt
stabiles
Miteinander angesichts der Gewaltpotentiale überhaupt gedacht
werden kann.
EiGENSiNN:
Um nachzuhaken: In der Antike war über die Existenz der Polis
das Gemeinschaftliche immer schon gegeben und man
bedachte nur dessen Organisation,
während es seit der Frühen Neuzeit, oder zumindest bei den von Ihnen
angesprochenen Denkern, darum geht, wie die Gemeinschaftskonstitution überhaupt
zu gewährleisten sei, und die
Organisationsleistung ist eine zweitrangige,
nachgeschaltete Frage.
Kater: Ja, aber es ist
noch ein Punkt festzuhalten, der an die Frage nach den
Zäsuren anschließen läßt. Wenn man schaut,
wie und wo
politische Philosophie entsteht, sieht man, dass sie immer im Umbruch auftaucht,
in Situationen, die
als Umbruchsituation wahrgenommen werden. Das haben wir
zum einen in der Antike – die Reflexion auf das
Politische findet ja erst
mit Sokrates und Platon statt, wenn ich die Sophisten als Vorläufer vielleicht
ungerechterweise zurückstellen darf – als überkommene Organisationsmuster
der Polis nicht mehr tragen.
Philosophie setzt hier ein mit der Erfahrung eines
Bruches, einer Unterbrechung, eines Schnittes. Sie setzt sich
sozusagen in diesen
Bruch hinein und konstituiert sich in ihm. Das gleiche Phänomen –
springen wir
einmal über das Mittelalter hinweg – sehen wir bei Hobbes.
Auch er konstituiert die politische Philosophie
im Bruch. Das Miteinander funktioniert
nicht (mehr), das, was es getragen hat, trägt nicht mehr, und es stellt
sich die Frage: Was kann eingesetzt werden? Diese Frage stellt sich aber nicht
als rein pragmatische, sondern als
Frage, wie man das als Philosoph überhaupt
zu denken hat beziehungsweise denken kann? Das heißt, in
emphatischem
Sinn ist das Grundproblem der politischen Philosophie zunächst einmal sie
selbst: Die Frage
„Wie kann ich als Philosoph das Politische denken?“
ist zu stellen als Frage, was politische Philosophie
ist. Das Problem ist, daß
im Begriff der politischen Philosophie zwei Unbestimmtheiten enthalten sind.
Zum
einen die große Unbestimmtheit der Philosophie – die lassen
ich beiseite – und zum anderen die
Unbestimmtheit des Politischen. Das
heißt, in den angesprochenen Umbrüchen und Einschnitten konstituiert
sich politische Philosophie immer wieder neu, und dabei entstehen auf der philosophiehistorischen
Oberfläche
Inkompatibilitäten. Deshalb kommt man von Hobbes nicht
mehr zu Aristoteles und der antiken Tradition zurück,
wie ich von Aristoteles
nicht zu Hobbes hinüber gelange. Aber sie bewegt das Gleiche, das fällt
zum
Beispiel auf, wenn man im siebten Buch der „Politik“ nachschaut.
Aristoteles hält fest: Die Polis
braucht die Gerechtigkeit und das Gute
ist das Gerechte. Und schließt dann an, was gar nicht zum antiken Denken
zu passen scheint, wenn man es oberflächlich betrachtet, daß Gerechtigkeit
als Verwirklichung der
Gleichheit notwendige Bedingung dafür ist, daß
es nicht zum Umsturz kommt. Aristoteles hat den Einbruch der
Gewalt, wenn Gerechtigkeit
versagt bleibt, vor Augen. Er entfaltet aber keine Reflexion der Gewalt. Das
ist der
Unterschied zu Hobbes. Der geht nicht vom Versagen der Gerechtigkeit
aus, sondern setzt unmittelbar mit der Reflexion
der Gewalt an. Mit Aristoteles
und Hobbes ist festzuhalten, daß sich politische Philosophie als politische
Philosophie nur von der Gewalt her überhaupt konstituieren kann. Wird das
übersprungen, wird sie zur Ethik.
Ohne etwas gegen Ethik zu sagen, aber
‚politische’ Philosophie konstituiert sich dann ohne adäquaten
Bezug zu ihrem eigenen Gegenstand. Das gewinnt im Zwanzigsten Jahrhundert wieder
an Bedeutung, markiert es doch
einen Neubeginn der politischen Philosophie.
Carl Schmitt ist dabei eine wichtige Figur, der vor dem Hintergrund der
Erfahrung
der Gewalt denkt, ihrer Eskalation im Ersten Weltkrieg und dem anschließenden
Zusammenbruch. Die
politische Ordnung explodiert und implodiert zugleich. Wie
sich da das Politische neu konstituieren kann, das ist die
zentrale Frage für
Schmitt. Mit ihm wie auch gegen ihn müssen wir das Politische von der Gewalt
her
denken. In Anlehnung an Platons und Aristoteles’ Rede vom Staunen
als Beginn der Philosophie hat Dolf Sternberger
gesagt, „politische Philosophie
beginne mit dem Erschrecken.“ Das trifft genau den Punkt. Politische
Philosophie
konstituiert sich in und aus einer Schreckerfahrung, eben einem Bruch. Sie kann
sich weiter
tradieren, ohne diese Schreckerfahrung unmittelbar zu erinnern,
aber sie kontinuiert diesen Anfang im Erschrecken, bis
er sich schließlich
verliert. Das können wir an der normativen politischen Philosophie des
späten
Zwanzigsten Jahrhunderts sehen, über die ich eben sage: Das
ist eigentlich Ethik, vielleicht politische Ethik,
aber keine politische Philosophie.
EiGENSiNN: Wenn sich politische Philosophie im Bruch
artikuliert und sich die
Gewalterfahrung vehement als Diskontinuitätserfahrung in die politische
Philosophie
und deren Artikulation einschreibt, was bedeutet dies dann für
das Denken des Politischen und das politische
Denken? Und wie bemißt es
genau diesen Abstand?
Kater: Ich versuche dies über ein
historisches Beispiel, denn ich glaube,
die politische Philosophie versucht letztlich, diesen Abstand nicht zu
vermessen.
Was wir immer wieder sehen ist der Versuch, eine Alternative zum Vorhergehenden
zu finden, besonders
deutlich bei Hobbes. An das Überkommene kann und will
er nicht mehr anknüpfen. Versuchte Aristoteles noch zu
vermitteln, so streicht
Hobbes das Vergangene aus und macht dabei das Versagen der überkommenen
Philosophie
unmittelbar mitverantwortlich für den Zusammenbruch in der
Gewalt. Deshalb wird sie ebenfalls ausgestrichen. Er
vermißt aber nicht
den Bruch als Bruch, sondern setzt mit etwas Neuem ein, springt über ihn
hinweg.
Hier stellt sich für mich die Frage, ob gegen die Idee dieses Sprunges
politische Philosophie nicht im
eigentlichen Sinne als politische Philosophie
sich erst da konstituiert, wo sie versucht, diesen Bruch zu denken, ihn
eben
zu vermessen. Dabei sehe ich aber keinen tragfähigen Anknüpfungspunkt
an die Tradition. Zumeist
wird der Bruch ignoriert, über ihn hinweggesprungen.
Oder sie positionieren sich, wie verschiedentlich in
jüngerer Zeit, mit
einem ästhetisierenden Habitus in diesen Bruch, stehen aber letztlich bloß
daneben und tun nur so, als ob sie ihn denken würden.
EiGENSiNN: Man könnte als
Vergleich die Erfahrung des Erhabenen heranziehen
und diesen Bruch auf der Folie der Sublimierung lesen. Es gibt eine
Schockerfahrung
– Endlichkeit, Singularität oder Diskontinuität, und diese wird
dann dadurch
sublimiert, daß man ein Substitut schafft. Ihnen scheint
es aber um die radikale Ausbuchstabierung dieses Schocks
zu gehen.
Kater: Das wäre die eine Seite, wobei zur fragen wäre, was hier radikal
heißt, denn man darf bei dieser Ausbuchstabierung nicht bleiben, sonst
wird der Bruch zum Erhabenen und man
bricht zusammen. In der Erfahrung des Erhabenen
als Erfahrung der Gewalt, so wie Kant es in Form von Naturgewalten
beschreibt,
wird der Mensch klein. Wenn man aber das Politische denken will, darf man angesichts
des Bruches in
der Gewalterfahrung sich nicht wegducken, klein machen, sondern
über ihn hinausgehen. Wenn ich sage, daß die
politische Philosophie
diesen Bruch vermißt, dann immer unter der Perspektive: „Wie komme
ich hier
wieder heraus?“ Dieser Bruch, der sich als Anfang im Darüberhinausgehenden
kontinuiert, muß in der
Hinsicht ausbuchstabiert werden, daß die
Ausgangserfahrung im Darüberhinausgehen erhalten bleibt. Dann ist
natürlich
weiter zu überlegen, wie das Zerstörte entweder neukonfiguriert werden
kann oder wie
eine Alternative im Modus einer streng normativen Theorie gedacht
werden kann.
Leviathan
In diesem
Sinn ist Hobbes ein streng normativer Denker, er hat
einen klaren normativen Anspruch, indem er etwas Alternativloses
als Alternative
für das Zusammengebrochene formuliert. Er ist näher am Bruch, als
die meisten anderen.
Wem ich noch konzedieren würde, dicht am Bruch und
damit politisch zu denken, ist Kant. Er ist ein strenger
Hobbesianer, bei dem
sich die Kontinuierung der Gewalterfahrung in einer Hypostasierung des Staates
zeigt.
Deshalb insistiert er darauf, daß es kein Widerstandsrecht, keine
Revolution geben darf, obwohl diese doch als
Mittel zur Erreichung des normativ
Gebotenen ein möglicher, schneller Weg ist. Er hat sie ja als möglichen
und funktionierenden Weg in Frankreich gesehen und geschätzt. Doch als
politischer Philosoph zeigt er eine
fast unglaubliche Furcht, daß sich
der Bruch wieder auftut, wenn er sagt, daß der Widerstand gegen die
Obrigkeit,
die Revolution das Wiedereintreten in den Naturzustand sei. Dieser ist seit
Hobbes die Chiffre
für den Bruch und muß als Bruch geschlossen werden
beziehungsweise bleiben.
EiGENSiNN: Sie sagten, daß man beim Sprung in den Bruch immer schon einen
Entwurf mit sich
führen muß, um wieder hinauszufinden. Dann stellt
sich die Frage nach dem Status dieses Entwurfs, ist er
eine regulative Idee,
ein Telos, hat er etwas Utopisches?
Kater: Die eine Möglichkeit,
diesen Bruch zu überspringen, ist eine
Utopie zu formulieren, aber nicht in dem Sinne wie Campanella und Morus das
getan haben. Ihre Utopien sind eher als Spiegel für das je Gegenwärtige
zu sehen, denn als Alternative,
um Neues zu konstituieren. Die andere Möglichkeit
ist, einen normativen Ansatz zu formulieren mit dem Anspruch,
daß er wirklichkeitskompatibel
ist. Hier gibt es wiederum zwei Alternativen. Entweder man verliert die Anbindung
an den Bruch, dann wird es eine bloß normative Theorie und damit Ethik.
Wenn wir aber von Gewalt ausgehen
als dem politisch relevanten Modus des Brechens,
stellt sich keine Alternative zur Aufrichtung einer Institution, die
versucht
die Potentiale des Zerbrechens stillzustellen. Das ist der Leviathan und das
ist das Entscheidende bei
Hobbes: Der Mensch bleibt, im Unterschied vor allem
zu Rousseau, mit dem Vertragsschluß, mit der Aufrichtung des
Politischen
eben der, der er ist, und der Leviathan stellt seine Gewaltpotentiale still.
Deswegen ist auf dem
Frontispiz auch keine Menschenseele zu sehen außer
einigen Ordnungshütern wie Pestärzte und Soldaten.
Bürger gibt
es dort keine. Sie werden aus dem Raum des Politischen ausgeschlossen und auf
ihre
Privatexistenz verwiesen, weil die Gewalt aus dem Raum des Politischen
ausgeschlossen wird. Das ist die eine Seite,
dies auf der institutionellen Ebene
durchzuführen. Für mich ist nun dabei von Bedeutung, daß sich
genau in diesem Spannungsfeld zwischen normativer Ebene und institutioneller
Überwindung des Bruchs das Politische
selber konstituiert, und zwar nicht
nur im Modus der theoretischen Reflexion, sondern auch in der Faktizität
des Politischen. Was wir haben, ist auf der einen Seite die Institution, die
überwältigend dasteht, der Staat
oder Leviathan, und auf der anderen
Seite der normative Anspruch der Individuen, und das ist in der Moderne diesseits
von Hobbes vor allen Dingen die Freiheit. Zwischen beiden gibt es ein Bewegungsverhältnis.
Wir haben Zeiten,
in denen der Leviathan unangetastet überragt und überformt,
und Zeiten, in denen die faktische
Legitimität des Staates, die sich auf
der ersten Seite zeigt, bröckelt und normative, das heißt
kontrafaktische
Ansprüche an ihn herangetragen werden. Dann gibt es zwei Möglichkeiten:
Der Staat nimmt
sie auf und ändert sich als Ordnung oder er ignoriert sie
und riskiert, als Ordnung eingerissen zu werden. Das ist
der Raum, in dem sich
das Politische konstituiert: Das Spannungsverhältnis zwischen Norm und
Institution,
oder wie man vielleicht soziologisch treffender sagen kann, zwischen
Macht und Norm. Normative Ansprüche und
Machtansprüche stehen in einem
unaufhebbaren Spannungsverhältnis, es sei denn man ist so hypertroph wie
Rousseau, der glaubt, in der volonté général könne
dieses Verhältnis aufgehoben werden.
In der volonté général
gibt es kein Spannungsverhältnis mehr, die Individuen sehen ihre
normativen
Erwartungen nicht mehr als bloß partiell oder überhaupt nicht erfüllt,
sondern als
immer vollständig verwirklicht. Aber das ist das, was irritiert
an Macht beziehungsweise Institution des
Politischen, daß unsere Ansprüche
vor allem auf Freiheit, aber auch auf Gerechtigkeit, immer nur partiell
erfüllt
werden. Deshalb erfolgt die wiederholte Artikulation unserer Ansprüche
an die Institution und
zugleich werden sie auch immer wieder zurückgedrängt.
Das partielle Zulassen und dann das
Zurückdrängen dieser Ansprüche
formiert die Bewegung des Politischen. Ich bin überzeugt, man kann
sie
sogar geschichtsphilosophisch ausbuchstabieren. So sind Revolutionen als Brüche
zugleich Eskalationen
dieses Spannungsverhältnisses. Institution und normative
Ansprüche sind nicht mehr vermittelbar, die
Institution wird entweder eingerissen
oder es erfolgt der Gegenschlag, die Errichtung einer Diktatur als
vollständige
Unterdrückung normativer Ansprüche.
EiGENSiNN: Rousseau und
ähnliche Denker springen doch immer zurück
in die Zukunft: Man kann aus der Geschichte wieder herauskommen,
man kann das
Ganze als etwas Einheitliches erschaffen. Wenn wir Sie richtig verstanden haben,
dann ist das Denken
der politischen Philosophie aber genau ein Denken, daß
sich auf den irreduziblen Konflikt einläßt.
Dann stellt sich natürlich
die Frage nach der Intervention politischer Philosophie, wenn man sie emphatisch
denkt. Oder, um es mit Schiller zu sagen: Was ist und aus welchem Grund betreiben
wir politische Philosophie?
Kater: Wenn wir den Begriff des Politischen ausblenden und uns der Philosophie
zuwenden und fragen,
welche Funktion man ihr zuschreibt, dann würde ich
sagen, sie hat normative Ansprüche zu artikulieren, und
zwar möglichst
weitgehend zu artikulieren. Das andere ist, und darauf ist die Philosophie des
20. und 21.
Jahrhunderts zurückgeworfen, daß ihre erste Intervention
darin besteht, das Politische als solches
überhaupt erst einmal zu denken,
durchaus in Nietzsches Verständnis von Philosophie als Diagnose, als
Begreifen
dessen, was ist, was geschieht. Wenn man das überspringt, dann artikuliert
Philosophie etwas
bloß normatives und steht von vornherein vor dem Problem
der Ohnmacht des Sollens. Damit will ich nicht sagen,
daß das eine bloß
wertlose theoretische Unternehmung wäre, aber sie droht immer umzuschlagen
in
eine Selbstmystifizierung als Mystifizierung der Vernunft. In diesem Sinne
gibt es bei Jürgen Habermas einen, wie
es Hans Ebeling genannt hat, „Mythos
der kommunikativen Vernunft“. Es ist wichtig, was er vorträgt,
auch
im Hinblick auf das Selbstverständnis unserer Demokratie und ihre normativen
Grundlagen. Aber das
greift zugleich so weit über die Wirklichkeit des
Politischen qua Demokratie hinaus, daß es eben zum
bloßen Mythos
wird, der zugleich einen Mythos der Demokratie in sich trägt. Die erste
Intervention der
Philosophie wäre so zunächst das Politische zu denken
im Sinne der Entfaltung dieses
Spannungsverhältnisses, und dabei gilt:
Über dieses Spannungsverhältnis kommen wir nicht hinaus, hier
gibt
es keine Versöhnung. Wenn zum Beispiel Rawls von Versöhnung durch
öffentlichen
Vernunftgebrauch spricht, dann verkennt er, was das Politische
als solches ist: eine unaufhebbare Bewegung. Im Raum des
Privaten kann man sich
versöhnen, nicht aber im Raum des Politischen.
Die
nächste Intervention basiert auf der Frage, inwiefern sich Philosophie
in emphatischer Weise auf die Seite einer
bestimmten institutionellen Ausprägung
des Politischen stellt. Und hier ist zu sagen: Es gibt keine Alternative
zur
Demokratie. Zumindest sehe ich gegenwärtig nicht, daß wir theoretisch
etwas sinnvoll setzen
können, das andersgeartet sei: Das ist das Erbe der
Zäsur der Französischen Revolution. Alle Versuche
über die Demokratie
hinaus aus der Geschichte herauszuspringen zum Beispiel als Marxismus oder Sozialismus
sind haltlos, weil auch sie wiederum das grundlegende Spannungsverhältnis
verkennen. Sie erkennen das Politische
nicht als sich unaufhebbar bewegendes.
Dabei ist aber wichtig, daß die politische Philosophie keine bloße
Feier der Demokratie ist. Die größte Gefahr für die Demokratie
ist, sie mit Ansprüchen zu
versehen, die sie überhaupt nicht einlösen
kann. Wenn wir zum Beispiel die Demokratie auch aus der
politischen Philosophie
heraus mit hypertrophen Ansprüchen auf soziale Gerechtigkeit konfrontieren
und sie
nicht eingelöst werden, hat das nicht nur eine moralische Frustration
zur Folge, als Beleidigung des
Gerechtigkeitsempfindens, sondern schlägt
unmittelbar zurück auf die Legitimität qua faktischer
Anerkennung
der Demokratie und ihrer Institutionen. Deswegen gilt es, Demokratie nüchtern
zu denken, als
eine Möglichkeit, zu der es keine Alternative gibt, aber
auch nicht, wie bei Francis Fukujama, als einen Endpunkt
der Geschichte. Festzuhalten
ist, daß wir zurzeit nichts anderes haben, was sich normativ tragfähig
über die Demokratie hinaus denken läßt. Das heißt aber
nicht, daß sich damit Demokratie
schon von selber versteht oder legitimieren
kann. Demokratie muß sich in der Permanenz der ihr inhärenten
politischen
Auseinandersetzungen legitimieren. Es gibt keinen externen Punkt, von dem aus
sie sich legitimieren
kann, sie muß sich immanent legitimieren.
EiGENSiNN: Am Anfang des Gesprächs sind sie
auf die unhintergehbaren Freiheitsansprüche
des modernen Subjekts eingegangen, was für die Griechen
wahrscheinlich
gar nicht das Thema war. Die hatten mit ihrem Demos ganz andere Probleme.
Kater: Aber auch da ist schon bemerkenswert, daß man im emphatischen
Sinne nur dann Mensch ist,
wenn man als Freier und Gleicher in der Polis agiert.
Wer nicht als solcher agieren darf, wird durchgestrichen,
ausgeschlossen.
EiGENSiNN: Die griechische Polis hatte ganz andere Möglichkeiten symbolisch
eben diese Gemeinschaft zu konstituieren, zum Beispiel in der thea, der gemeinsamen
Schau. Das ist ja eine
Ordnung von Blicken, von Räumen, die im besten,
nicht panoptischen Sinne übersichtlich sind.
Kater: Deswegen die große Bedeutung der Tragödie für die Polis.
Das ist das
Interessante, daß die Tragödie als Theaterform gerade
in dem Moment zusammenbricht, als auch die Demokratie
beginnt zusammenzubrechen.
Da gibt es Überlappungen.
EiGENSiNN: Daran läßt
sich als Fußnote anschließen,
inwiefern die Gewalt, die teilweise nicht gedacht worden ist,
tatsächlich
erfahren wurde. Da ist die Tragödie sehr realistisch.
Kater: Sie ist
ein Ventil. Durch sie konnte die faktische Gewalt sublimiert
werden. Sie holt die Gewalt hinein durch das Schauspiel,
läßt sie
aber sozusagen an der Oberfläche; die Gewalt dringt nicht wirklich in die
Polis ein. Und
als dieses Medium nicht mehr funktioniert, wird offensichtlich
auch die politische Konzeption fraglich. Nietzsche hat
nicht Unrecht, wenn er
sagt, Sokrates und Platon setzen sich an die Stelle der Tragödie, aber
in einem
anderen Sinn, als er das meinte. Nicht derart, daß sie das Dionysische
wegschieben und das Apollinische
herausgreifen, sondern indem sie versuchen
das zu denken, was wegbricht beziehungsweise seinen Ersatz. Und dabei kann
dann
ein solch hypertropher Anspruch herauskommen, daß die Philosophen die
eigentlichen Könige seien,
weil nur sie eine Ordnung garantieren können,
die sich mit ihren internen Mechanismen selber nicht mehr
garantieren kann.
EiGENSiNN: Aufgrund der Offenheit des Politischen oder dessen zum Trotz haben
sich in der Moderne auch die konkreten Erfahrungen des von ihnen erwähnten
Kommunismus oder Sozialismus
manifestiert, zu denen auf einer ähnlichen
Ebene sicherlich jene des Faschismus und Nationalsozialismus
gehören. Und
hier artikuliert sich über die Unhintergehbarkeit des Anspruchs auf Freiheit
des Subjekts
hinaus etwas anderes in Form einer Sehnsucht oder eines Mythos,
was sich unter dem Stichwort der Gemeinschaft denken
ließe. Damit hatte
sich das politische Denken ja eng verwoben. Und nun ist die Frage, wie nach
dem Ende der
großen Narrativen, um mit Lyotard zu sprechen, die Konsequenzen
für das Denken des Politischen aussehen.
Gibt es denn noch immer so etwas,
das als Beunruhigung des Politischen operiert und würden Sie sagen, daß
diese vielleicht immer schon absente Gemeinschaft immer noch im politischen
Denken herumspukt?
Kater: Wenn wir uns das Ende der politischen Philosophie der Neuzeit anschauen,
ist Hegel zum ersten
Mal damit konfrontiert, den klassischen Gemeinschaftsbegriff
als einen der Gesellschaft gegenübergestellten zu
denken. Das heißt,
daß bei ihm das Denken des Politischen akut individuell wird. Wie akut
das wird
merkt man daran, daß er beinahe krampfhaft versucht, innerhalb
der Gesellschaft als System der Bedürfnisse,
dem Gewusel der Individuen,
etwas immanent Gemeinschaftliches zu denken. Diese immanente Gemeinschaft qua
Sittlichkeit hängt er am Begriff der Korporation auf. Damit überlastet
er natürlich diesen Begriff in
begründungstheoretischer Hinsicht.
Was sich daran anschließt – und das ist ein wichtiger Punkt, warum
diese Tradition der politischen Philosophie mit Hegel zusammenbricht –,
ist, daß wir danach vor allem
ein Denken des Begriffs der Gesellschaft
haben. Gedacht wird im wesentlichen der Raum, in dem wir als konkurrierende
(Markt)Subjekte aufeinanderstoßen, fast nicht gedacht wird der Kontext,
dem diese Möglichkeit des
Aufeinanderstoßens sich verdankt: Das Politische.
Das zeigt sich daran, daß die Debatte um die Gesellschaft
als Soziologie
aus der Philosophie auswandert. Und was macht die Soziologie zuerst?
EiGENSiNN: Sie trifft die Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft,
wie Tönnies es
tat.
Kater: Aber nicht nur die Unterscheidung. Für Tönnies beruht Gemeinschaft
auf
„gegenseitiger gemeinsamer Gesinnung“, auf „Sympathie“.
Und er hält fest, daß wir im
Prozeß der Modernisierung ein
Aufbrechen beziehungsweise Zusammenbrechen dieses Ortes der Sympathie haben.
Dieser Bruch ist für ihn irreversibel, die Gemeinschaft kann deshalb systematisch
nicht mehr eingeholt werden. Der
Gegenschlag ist dann in den Zwanziger Jahren
des vergangenen Jahrhunderts eine Gemeinschaftsemphase, in bemerkenswerter
Weise
kritisch auf den Punkt gebracht in Helmuth Plessners Die Grenzen der Gemeinschaft.
Dort warnt er vor der
Gemeinschaftsemphase auf Grund der Gefahr ihres Umschlages
ins Totalitäre.
Plessner
sagt nicht, daß die Gemeinschaft obsolet sei, warnt aber vor
dem Ersatz der Gesellschaft durch die Gemeinschaft.
Mit Plessner bin ich überzeugt,
daß Gemeinschaft für die Frage der Organisation des Zusammenlebens
ein wichtiger Bezugspunkt ist. Ich bin zugleich der Meinung, daß es vor
diesem Hintergrund eine Spaltung gibt,
und zwar auch im Individuum. Der Mensch
ist nämlich auf der einen Seite ein Gesellschaftswesen, das auf der Basis
der modernen Freiheit sein Leben ausgestalten darf wie es möchte. Auf der
anderen Seite braucht das
Individuum aber Zugehörigkeiten, konstitutive
Identifikationszusammenhänge, um auf dieser Gesellschaftsebene
überhaupt
leben zu können. In den Zwanziger Jahren, und hier spielt Carl Schmitt
eine entscheidende wie
zugleich fatale Rolle, wird nun versucht, diese Spaltung,
die durch das Individuum hindurch geht, politisch zur
Anwendung zu bringen,
indem gerade Schmitt versucht, über dem Raum der Gesellschaft einen Raum
der
Gemeinschaft zu etablieren, der für ihn als Einheit des Volkes qua
Staat ausgezeichnet wird. Der Staat ist die
Institution der Einheit, die Gemeinschaft.
Schmitt streicht entsprechend die Gesellschaft nicht durch, so wie Plessner
die Gemeinschaft nicht durchstreicht, er verschiebt lediglich die Hierarchien.
Die Gemeinschaft ist das
Entscheidende und im Raum ihrer Einheit darf jeder
seinen Egoismen nachgehen. Aber eben nur im Raum dieser Einheit als
der Einheit,
dem Volk, dem Staat vollständig Unterworfener. Die entscheidende Frage
ist, und ich finde die
Konsequenzen ihrer Antwort zutiefst irritierend, die
Schmitt selber andeutet: Wie konstituiert sich diese Gemeinschaft?
Für
Schmitt spielen die sogenannten „Ideen vom August 1914“ die entscheidende
Rolle. Es gibt
eine ganz bemerkenswerte Fußnote im Begriff des Politischen,
daß dort die Einheit sich konstituierte, da
war im Sinne des berühmten
Wortes Wilhelms II.: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch
Deutsche.“ Daß es diese Einheit 1914 nicht gegeben hat, zum Teil
bloße Inszenierung der Obrigkeit
war, haben Historiker hinlänglich
gezeigt.
Für die Demokratie, die sich immanent
legitimieren muß, sind zwei
Dinge entscheidend: Die Individuen müssen sich als ein Wir in Selbstbezug
auf sie erfahren, als eine Gemeinschaft der Bürger, bleiben aber gleichzeitig
sie Individuen auf der Ebene ihres
gesellschaftlichen Seins. Diese Spaltung
ist beinnah eine Schizophrenie des Politischen. Ich muß nämlich
beides
zugleich tun: Auf der einen Seite mit den anderen als Marktopponenten konkurrieren,
auf der anderen Seite
mit ihnen kooperieren im Sinne des Erhalts und der Ausgestaltung
des Gemeinwesens. Diese Kluft ist
unüberbrückbar. Deswegen ist die
Gemeinschaft dem Politischen immanent. Wo sie ausfällt, bricht das
Politische
zusammen, weil nichts Bindendes mehr da ist. Bloße Gesellschaft als politische
funktioniert
nicht. Die Idee vom Nachtwächterstaat der klassisch Liberalen
ist eine Illusion, ein Phantasma oder
totalitär. Den Punkt hat Hegel gesehen
und seit ihm müht man sich, für ein Miteinander durch die Ebene
der
Konkurrenz hindurch das Gemeinschaftliche aufzudecken.
EiGENSiNN: Sie haben dafür
plädiert, daß der Bruch im Vollzug
der Überlegung mitgedacht werden muß und nicht
herausgestrichen werden
darf. Damit ist dieser sozusagen eine Konstitutionsbedingung der Theorie.
Kater: Auf der Ebene der Wirklichkeit des Politischen, des Gegebenen, ist die
Erinnerung an den Bruch
ein Bewegungsmodus für das Politische. Diese Brüche
vergessen sich nicht. In der jüngeren deutschen
Vergangenheit erblicken
wir den durch den Nationalsozialismus vollzogenen Bruch. Dieser Bruch prägt
seitdem
das Politische, und zwar über Deutschland hinaus. Was wäre
es für eine Philosophie, die dieses Element
der Wirklichkeit, das sich
nicht vergißt, nicht vergessen wird wie das Geschichtszeichen bei Kant,
ignorieren könnte. Sie würde den Gegenstand, mit dem sie sich nach
ihrer eigenen Selbstbezeichnung
beschäftigt, verfehlen.
EiGENSiNN: Sie haben erörtert, wie auf diese Gewaltentfernung
mit Vernunft
reagiert wird. Inwiefern könnte das Politische eventuell auf eine Diskontinuitätserfahrung,
ein Quentchen Unvernunft, einen Überschuß angewiesen sein?
Kater: Das meine ich
einholen zu können mit der Artikulation des Spannungsverhältnisses
von Norm und Institution. Daß
normative Ansprüche im Raum des Politischen
artikuliert werden, basiert schließlich nicht nur auf der
Vernunft der
Individuen. Es ist sicherlich zu schematisch zu sagen, daß dort, wo vernünftige
Ansprüche artikuliert werden, diese zur Veränderung der institutionellen
Ebene beitragen, weil auch gut
begründete normative Ansprüche an den
Institutionen regelmäßig abprallen. Es muß schon ein
hohes
Entgegenkommen der institutionellen Ebene vorhanden sein, doch Vernunft und
Macht wird man nicht zur
Deckung bringen. Macht hat dieses Überschießende,
das Sie meinen, und das spiegelt sich auf der normativen
Ebene wieder. Mit normativ
meine ich jetzt nicht, was wir als Philosophen darunter verstehen, sondern was
Individuen als Anspruch artikulieren. Hier kann die Philosophie reflektieren
auf die Art und Weise dieser Artikulation,
das wäre eine Möglichkeit
von Intervention und Vermittlung. Doch muß man sagen, daß hier der
mögliche Beitrag der Philosophie bescheiden ist. Zur Verortung der Philosophie
gehört auch, daß sie
weiß, was Philosophie im Raum des Politischen
bedeutet. Hier haben wir zwei Alternativen. Zum einen die
Platonische, die besagt,
daß die Wahrheit des Politischen der Philosophie unterworfen werden muß.
Zum
anderen die dem Politischen gerechter werdende Variante, wie sie Hannah
Arendt formuliert hat, daß es im Raum des
Politischen nur um Meinungen
geht, nicht um Wahrheit. Jede Wahrheit der Philosophie, wenn wir eine solche
einmal
annehmen wollen, wird im Raum des Politischen zur Meinung. Diese mag
besser begründet sein, aber muß sich
dennoch bewähren im Streit
der Meinungen. Und deshalb ist eine gewisse Bescheidenheit der Philosophie zu
wahren. Sie ist keine Leitwissenschaft, die den Regierenden Maximen an die Hand
gib. Philosophie denkt das Politische
und daß natürlich im Sinne
der Erhaltung des Politischen als Demokratie. Aber sie muß dabei wissen,
daß sie bestimmte Ansprüche im Raum des Politischen nur als Meinung
artikulieren kann und nicht als
unhintergehbare Wahrheit. Denn Wahrheit ist
das Ende des Politischen, weil sie dessen Spannungsverhältnis
stillstellt.
EiGENSiNN: Taucht hier nicht im Kontext der neuen französischen Philosophie
die Erfahrung einer erneuten Dringlichkeit des Denkens des Politischen auf?
Kater: Was
auffällt im internationalen Diskurs ist, daß gerade im
Kontext der französischen Philosophie das
Bemühen, das Politische
zu denken, in bemerkenswerter Weise gegeben ist, ganz im Unterschied zum
angelsächsischen
und auch deutschen Raum. Versuche finden wir auch noch in Italien, zum Beispiel
bei Giorgio
Agamben. Offensichtlich sind, wenn mich mein Eindruck nicht täuscht,
die Franzosen sensibler, was die immanente
Brüchigkeit der Demokratie betrifft.
Neben zum Teil spielerischen Zügen gibt es dort das ernsthafte
Bemühen,
Demokratie zu denken als ein fragiles System, um mit diesem Denken und vor allem
mit dieser Art des
Denkens die Demokratie zu stärken. Man will die Demokratie
ja nicht überwinden, sondern versuchen zu zeigen,
wo sie sich selbst gefährdet
und exzessive Potentiale birgt, die zu ihrem Auseinanderfallen führen
können.
EiGENSiNN: Hier kommt also wieder der diagnostische Moment zum Tragen?
Kater: Ganz genau. Man soll nicht der Demokratie vorschreiben, was sie machen
soll, sondern Demokratie
als Demokratie denken. Aber dieses nicht institutionell
begrenzt, sondern indem man versucht, das Politische zu denken
und dabei die
Demokratie als einen besonderen und zwar ausgezeichneten Fall des Politischen
darzustellen.
EiGENSiNN: Das Politische ist als ständige Bewegung auch ein Nicht-Ort.
Derrida
spricht zum Beispiel von einer „kommenden Demokratie“. Würden
Sie sagen, daß diese Insistenz auf
dem nach vorne Offenen eher Signifikanz
oder Problem im Denken des Politischen ist?
Kater:
Für das Beschreiben des Politischen ist das eine bemerkenswerte
Figur. Was sind das für Orte, die wir als
Nicht-Orte bezeichnen? Nach dem
Ethnologen Marc Augé sind das Orte, an denen wir uns aufhalten, aber
nicht
bleiben wollen: Flughäfen, Bahnhöfe oder Autobahnraststätten.
Man kommt nicht umhin, diese Orte zu
besuchen, will dort aber nicht verweilen,
sich nicht einrichten, weil man sich dort nicht einrichten kann. In diesem
Sinne
ist das Politische kein Nicht-Ort, weil es alternativlos ist, ein Ort, an dem
ich mich einrichten
muß. Aber die Einrichtung in diesen Ort bedeutet nicht,
daß ich damit zur Ruhe komme, denn das Politische
kommt nicht zur Ruhe.
In diesem Sinne ist das Politische vielleicht die Permanenz einer Durchgangsstation.
Man
richtet sich ein, weiß aber aufgrund des Bewegungsverhältnisses,
daß dieses Einrichten immer schon
überwunden ist. Damit stellt sich
das Problem, ob dies ein bloß offener Prozeß ist, dessen Ausgang
unabsehbar ist. Agamben verstehe ich so, daß er diese Leerstelle mit der
Idee der „kommenden
Gemeinschaft“ zu besetzen versucht, Derrida
mit der der „kommenden Demokratie“. Ich interpretiere das
Offene
aber dahingehend, daß das Kommende eine sich immer wieder neu konstituierende,
neu einholende
Bewegung ist, aber kein Ort, auf den alles zuläuft. Das
Kommende wird immer wieder eingeholt in dem Wissen,
daß sie nicht auf
etwas zuläuft, an dem die Bewegung der Demokratie zu Ende ist. Die Demokratie
läuft allenfalls auf die Permanenz ihrer eigenen Bewegung zu. Das ist ihr
großes legitimatorisches Problem,
und damit auch ein Problem ihrer Erhaltung,
weil sie in das Offene hinein konstituiert ist, aber im bloß Offenen
nicht
sein kann.
EiGENSiNN: Vielleicht als Abschluß: Inwiefern gibt es für Sie
eine
Verbindung der Ästhetik, oder besser der aisthesis, mit dem Denken des
Politischen?
Kater: Diese Frage berührt das Thema „Friedensbilder und Friedensvorstellungen“,
mit
dem ich mich seit geraumer Zeit beschäftige. Es gibt keinen Raum des
Politischen, der nicht zugleich
ästhetisch ist, und sei es nur auf der
Ebene von Ritualen, die immer ästhetisch inszeniert sind. Ein weiterer
Punkt ist, daß sich Macht immer inszeniert. Unter Bedingungen einer nicht
ausgeprägten Schriftlichkeit
tritt dabei natürlich die bildende Kunst
in besonderer Weise auf. Am Ende der Dominanz der Schriftlichkeit steht
die
multimediale Inszenierung. Wenn das Politische sich selber immer als ästhetisches
Phänomen
artikuliert, dann kann man Ästhetik gar nicht dem Politischen
entziehen. Und zwar nicht im Sinne von Politkunst,
Agitprop oder dergleichen,
vielmehr ist das Ästhetische in zweifacher Hinsicht an das Politische
zurückverwiesen.
Entweder versucht man einen nur ästhetischen zu fassenden Fluchtpunkt in
das Offene
des Politischen zu setzen, um es so zu schließen, oder aber
man greift das Politische selbst ästhetisch auf.
Ästhetik als Reflex
des Politischen selbst oder Ästhetik als Überschuß über
das
Politische hinaus. Die erste Funktion erfüllt sicherlich die antike
griechische Tragödie. Die mich
interessierenden Friedensbilder haben sicherlich
die Dimension des Überschießens. Hier ist das Frappierende,
daß
diese Bildtradition im 19. Jahrhundert zusammenbricht beziehungsweise sich grundlegend
transformiert.
Der Frieden wird im Zuge des Aufkommens der Massengesellschaft
privatisiert. Ein schlagendes Bildbeispiel findet sich
in einer älteren
Ausgabe der Zeitschrift, die im ICE herumliegt. Auf diesem Bild, das in Indonesien
entstanden ist, sieht man einen Vater mit seinem Sohn in einem Zug. Der Vater
sitzt entspannt, leicht dösend, der
Sohn schläft, den Kopf auf seinem
Schoß. Unter dem Photo steht: „Ein Bild des Friedens.“ Das
ist Frieden als etwas rein Privates, jenseits aller Anschlußfähigkeit
an das Politische. Doch wenn der
Frieden privatisiert wird, dann stellt sich,
um an den Anfang zurückzukehren, die Frage der Brüche und ihrer
Kontinuierung
im Politischen noch einmal neu, und zwar als Frage, wie das Politische mit Blick
auf das
Verschließen der Brüche auf den Frieden bezogen werden kann.
Wenn der Frieden aber dem Politischen entzogen
wird, fällt er als dafür
entscheidende Perspektive aus. Dann wäre das Politische ohne Frieden zu
denken, und das hieße wiederum, es zu verfehlen. Denn den Ursprung des
Politischen in der Gewalt zu situieren,
impliziert zugleich, das Politische
immer schon auf den Frieden zu beziehen.
EiGENSiNN: Herr
Kater, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Gespräch führten Tobias
Prüwer und Michael Wehren
PD Dr. Thomas Kater, 1966 geboren, studierte
Sozial-, Geschichts- und Wirtschaftswissenschaften
in Bochum und Paderborn. Er lehrt an der Universität Leipzig
mit den Arbeitsschwerpunkten
Politische Philosophie, Rechtsphilosophie und Ethik.
Politik, Recht, Geschichte – Zur Einheit der politischen Philosophie
Immanuel Kants.
Würzburg 1999.
Der verweigerte Friede – Der Verlust der Friedensbildlichkeit in
der
Moderne. [Hg.] Bremen 2003.