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Erschienen in: Ausgabe #5 vom Januar 2006



Politik - Gemeinschaft - Philosophie. Ein Gespräch mit Thomas Kater

EiGENSiNN: Wenn man über politische Philosophie spricht, dann ist es sicherlich sinnvoll zu fragen, von welcher Zäsur, von welcher Erfahrung aus man diese betreibt. An welcher historischen Zäsur ließe sich das politische Denken in Ihren Augen anstoßen?

Kater: Die erste relevante historische Zäsur ist immer noch die Französische Revolution, nicht zu vergessen ist dabei auch die Amerikanische Revolution, weil sich hier der Einbruch der Freiheit in das Politische vollzog. Das mag zwar zweihundert Jahre zurückliegen, aber wir kommen nicht daran vorbei, das als bleibenden Bezugspunkt des politischen Denkens anzuerkennen. In gewisser Hinsicht hat entsprechend Hegel Recht, wenn er sagt, die Idee der Freiheit ist unüberbietbar, und zwar insofern als gegenwärtig nicht zu sehen ist, daß in normativer Hinsicht etwas jenseits der Freiheit im Raum des Politischen eine begründete Rolle spielen könnte. Das aber ist ein eher positiv motivierter Anschluß an eine Zäsur. Die zweite, zur Distanzierung zwingende Zäsur ist der exzessive Einbruch der Gewalt in das Politische, den wir für das zwanzigste Jahrhundert festhalten müssen, und zwar nicht erst die Eskalation des Zweiten Weltkrieges. Vielmehr markiert, wie es sich auch schon in der Wahrnehmung der Zeitgenossen artikuliert, der Erste Weltkrieg, diese ‚Urkatastrophe der Moderne’ den entscheidenden Schnitt. Seitdem kann man Gesellschaft, Gemeinschaft, das Politische nicht mehr so denken wie vorher. Für den Zweiten Weltkrieg und seine Folgegeschichte wird dann nicht nur wichtig, daß wir konfrontiert sind mit der Möglichkeit nicht nur des Genozids, der planmäßigen Vernichtung einer anderen Gruppe, sondern daß wir auch konfrontiert sind – und zwar anhaltend – mit dem Holozid, der Selbstvernichtung der Gattung. Daraus ergibt sich eine ganz bemerkenswerte Konstellation: Wenn man Gewalt von diesem Endpunkt her denkt, ist die Frage des Denkens der Gewalt eine Frage auch der Selbsterhaltung der Philosophie. Sie muß sich selbst im Modus der Selbsterhaltung denken, wenn sie von diesem Punkt her überhaupt sinnvoll das Politische denken will. Auf der einen Seite haben wir somit den normativen Kontext von Freiheit und auf der anderen die Faktizität des Kontextes der Gewalt. Das ist das Spannungsfeld historischer Zäsuren, von dem aus und in dem wir heute das Politische denken müssen.

Thomas Kater
Thomas Kater

EiGENSiNN: Sie haben die Gemeinschaft angesprochen, womit sich natürlich sofort die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem politischen Denken und der Gemeinschaft stellt.

Kater: Mir ging es zunächst darum, begriffliche Punkte zu markieren, die für die politische Philosophie die entscheidende Rolle spielen. Der Gemeinschaft kommt natürlich eine besondere Rolle zu, weil wir festhalten müssen, daß der Mensch immer als ein in Gemeinschaft befindliches Wesen zu denken ist. Das impliziert aber nicht, daß man ihn damit auch im Anschluß an Aristoteles als zoon politikon kennzeichnen muß, als ein Wesen, das nur in politischer Gemeinschaft überhaupt als Mensch gedacht werden kann. Was wir konstatieren müssen ist, daß selbst unter theoretischen Bedingungen, wo wie zum Beispiel bei Hobbes der Begriff der Gemeinschaft nicht mehr trägt, die Reflexion eines funktionierenden Miteinanders stattfindet, also die Frage gestellt wird, wie der Mensch in gemeinschaftlichen Kontexten als gelingendem Miteinander gedacht werden kann? Nimmt man im Sinne eines groben Schnittes die antike Tradition auf der einen und die moderne auf der anderen Seite, so ist das Signifikante, daß es sich in der Antike von selbst verstand, daß der Mensch als gemeinschaftliches Wesen sich immer in Gemeinschaft befindet und so war die entscheidende Frage die der Organisation dieser Gemeinschaftlichkeit, im Sinne der Frage, welche Form der Herrschaft ihr korrespondiert. In der Moderne versteht sich das nicht mehr von selbst, das Miteinander, um den Begriff der Gemeinschaft einmal zu vermeiden, wird als je Gefährdetes wahrgenommen. Im Anschluß an Hobbes steht im Mittelpunkt der politischen Philosophie die Frage: Wie kann man die potentielle Gefährdung des Miteinanders überwinden? Die Antwort: Indem wir die Gefährdungspotentiale, das heißt die Gewaltpotentiale des Menschen stillstellen. Bemerkenswert ist, daß dieses Problem von Hobbes bis Hegel, bei diesem schon nicht mehr expressiv verbis, im Zentrum der politischen Philosophie steht. Dann taucht es in den Zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts im Diskussionszusammenhang um Carl Schmitt wieder auf, bei ihm als sozusagen exzessiver Hobbesianismus, mit dem ich Schwierigkeiten habe. Wobei anzuerkennen ist, daß er sich der Frage stellt, wie ist ein tragfähiges, das heißt stabiles Miteinander angesichts der Gewaltpotentiale überhaupt gedacht werden kann.

EiGENSiNN: Um nachzuhaken: In der Antike war über die Existenz der Polis das Gemeinschaftliche immer schon gegeben und man bedachte nur dessen Organisation, während es seit der Frühen Neuzeit, oder zumindest bei den von Ihnen angesprochenen Denkern, darum geht, wie die Gemeinschaftskonstitution überhaupt zu gewährleisten sei, und die Organisationsleistung ist eine zweitrangige, nachgeschaltete Frage.

Kater: Ja, aber es ist noch ein Punkt festzuhalten, der an die Frage nach den Zäsuren anschließen läßt. Wenn man schaut, wie und wo politische Philosophie entsteht, sieht man, dass sie immer im Umbruch auftaucht, in Situationen, die als Umbruchsituation wahrgenommen werden. Das haben wir zum einen in der Antike – die Reflexion auf das Politische findet ja erst mit Sokrates und Platon statt, wenn ich die Sophisten als Vorläufer vielleicht ungerechterweise zurückstellen darf – als überkommene Organisationsmuster der Polis nicht mehr tragen. Philosophie setzt hier ein mit der Erfahrung eines Bruches, einer Unterbrechung, eines Schnittes. Sie setzt sich sozusagen in diesen Bruch hinein und konstituiert sich in ihm. Das gleiche Phänomen – springen wir einmal über das Mittelalter hinweg – sehen wir bei Hobbes. Auch er konstituiert die politische Philosophie im Bruch. Das Miteinander funktioniert nicht (mehr), das, was es getragen hat, trägt nicht mehr, und es stellt sich die Frage: Was kann eingesetzt werden? Diese Frage stellt sich aber nicht als rein pragmatische, sondern als Frage, wie man das als Philosoph überhaupt zu denken hat beziehungsweise denken kann? Das heißt, in emphatischem Sinn ist das Grundproblem der politischen Philosophie zunächst einmal sie selbst: Die Frage „Wie kann ich als Philosoph das Politische denken?“ ist zu stellen als Frage, was politische Philosophie ist. Das Problem ist, daß im Begriff der politischen Philosophie zwei Unbestimmtheiten enthalten sind. Zum einen die große Unbestimmtheit der Philosophie – die lassen ich beiseite – und zum anderen die Unbestimmtheit des Politischen. Das heißt, in den angesprochenen Umbrüchen und Einschnitten konstituiert sich politische Philosophie immer wieder neu, und dabei entstehen auf der philosophiehistorischen Oberfläche Inkompatibilitäten. Deshalb kommt man von Hobbes nicht mehr zu Aristoteles und der antiken Tradition zurück, wie ich von Aristoteles nicht zu Hobbes hinüber gelange. Aber sie bewegt das Gleiche, das fällt zum Beispiel auf, wenn man im siebten Buch der „Politik“ nachschaut. Aristoteles hält fest: Die Polis braucht die Gerechtigkeit und das Gute ist das Gerechte. Und schließt dann an, was gar nicht zum antiken Denken zu passen scheint, wenn man es oberflächlich betrachtet, daß Gerechtigkeit als Verwirklichung der Gleichheit notwendige Bedingung dafür ist, daß es nicht zum Umsturz kommt. Aristoteles hat den Einbruch der Gewalt, wenn Gerechtigkeit versagt bleibt, vor Augen. Er entfaltet aber keine Reflexion der Gewalt. Das ist der Unterschied zu Hobbes. Der geht nicht vom Versagen der Gerechtigkeit aus, sondern setzt unmittelbar mit der Reflexion der Gewalt an. Mit Aristoteles und Hobbes ist festzuhalten, daß sich politische Philosophie als politische Philosophie nur von der Gewalt her überhaupt konstituieren kann. Wird das übersprungen, wird sie zur Ethik. Ohne etwas gegen Ethik zu sagen, aber ‚politische’ Philosophie konstituiert sich dann ohne adäquaten Bezug zu ihrem eigenen Gegenstand. Das gewinnt im Zwanzigsten Jahrhundert wieder an Bedeutung, markiert es doch einen Neubeginn der politischen Philosophie. Carl Schmitt ist dabei eine wichtige Figur, der vor dem Hintergrund der Erfahrung der Gewalt denkt, ihrer Eskalation im Ersten Weltkrieg und dem anschließenden Zusammenbruch. Die politische Ordnung explodiert und implodiert zugleich. Wie sich da das Politische neu konstituieren kann, das ist die zentrale Frage für Schmitt. Mit ihm wie auch gegen ihn müssen wir das Politische von der Gewalt her denken. In Anlehnung an Platons und Aristoteles’ Rede vom Staunen als Beginn der Philosophie hat Dolf Sternberger gesagt, „politische Philosophie beginne mit dem Erschrecken.“ Das trifft genau den Punkt. Politische Philosophie konstituiert sich in und aus einer Schreckerfahrung, eben einem Bruch. Sie kann sich weiter tradieren, ohne diese Schreckerfahrung unmittelbar zu erinnern, aber sie kontinuiert diesen Anfang im Erschrecken, bis er sich schließlich verliert. Das können wir an der normativen politischen Philosophie des späten Zwanzigsten Jahrhunderts sehen, über die ich eben sage: Das ist eigentlich Ethik, vielleicht politische Ethik, aber keine politische Philosophie.

EiGENSiNN: Wenn sich politische Philosophie im Bruch artikuliert und sich die Gewalterfahrung vehement als Diskontinuitätserfahrung in die politische Philosophie und deren Artikulation einschreibt, was bedeutet dies dann für das Denken des Politischen und das politische Denken? Und wie bemißt es genau diesen Abstand?

Kater: Ich versuche dies über ein historisches Beispiel, denn ich glaube, die politische Philosophie versucht letztlich, diesen Abstand nicht zu vermessen. Was wir immer wieder sehen ist der Versuch, eine Alternative zum Vorhergehenden zu finden, besonders deutlich bei Hobbes. An das Überkommene kann und will er nicht mehr anknüpfen. Versuchte Aristoteles noch zu vermitteln, so streicht Hobbes das Vergangene aus und macht dabei das Versagen der überkommenen Philosophie unmittelbar mitverantwortlich für den Zusammenbruch in der Gewalt. Deshalb wird sie ebenfalls ausgestrichen. Er vermißt aber nicht den Bruch als Bruch, sondern setzt mit etwas Neuem ein, springt über ihn hinweg. Hier stellt sich für mich die Frage, ob gegen die Idee dieses Sprunges politische Philosophie nicht im eigentlichen Sinne als politische Philosophie sich erst da konstituiert, wo sie versucht, diesen Bruch zu denken, ihn eben zu vermessen. Dabei sehe ich aber keinen tragfähigen Anknüpfungspunkt an die Tradition. Zumeist wird der Bruch ignoriert, über ihn hinweggesprungen. Oder sie positionieren sich, wie verschiedentlich in jüngerer Zeit, mit einem ästhetisierenden Habitus in diesen Bruch, stehen aber letztlich bloß daneben und tun nur so, als ob sie ihn denken würden.

EiGENSiNN: Man könnte als Vergleich die Erfahrung des Erhabenen heranziehen und diesen Bruch auf der Folie der Sublimierung lesen. Es gibt eine Schockerfahrung – Endlichkeit, Singularität oder Diskontinuität, und diese wird dann dadurch sublimiert, daß man ein Substitut schafft. Ihnen scheint es aber um die radikale Ausbuchstabierung dieses Schocks zu gehen.

Kater: Das wäre die eine Seite, wobei zur fragen wäre, was hier radikal heißt, denn man darf bei dieser Ausbuchstabierung nicht bleiben, sonst wird der Bruch zum Erhabenen und man bricht zusammen. In der Erfahrung des Erhabenen als Erfahrung der Gewalt, so wie Kant es in Form von Naturgewalten beschreibt, wird der Mensch klein. Wenn man aber das Politische denken will, darf man angesichts des Bruches in der Gewalterfahrung sich nicht wegducken, klein machen, sondern über ihn hinausgehen. Wenn ich sage, daß die politische Philosophie diesen Bruch vermißt, dann immer unter der Perspektive: „Wie komme ich hier wieder heraus?“ Dieser Bruch, der sich als Anfang im Darüberhinausgehenden kontinuiert, muß in der Hinsicht ausbuchstabiert werden, daß die Ausgangserfahrung im Darüberhinausgehen erhalten bleibt. Dann ist natürlich weiter zu überlegen, wie das Zerstörte entweder neukonfiguriert werden kann oder wie eine Alternative im Modus einer streng normativen Theorie gedacht werden kann.

Leviathan
Leviathan

In diesem Sinn ist Hobbes ein streng normativer Denker, er hat einen klaren normativen Anspruch, indem er etwas Alternativloses als Alternative für das Zusammengebrochene formuliert. Er ist näher am Bruch, als die meisten anderen. Wem ich noch konzedieren würde, dicht am Bruch und damit politisch zu denken, ist Kant. Er ist ein strenger Hobbesianer, bei dem sich die Kontinuierung der Gewalterfahrung in einer Hypostasierung des Staates zeigt. Deshalb insistiert er darauf, daß es kein Widerstandsrecht, keine Revolution geben darf, obwohl diese doch als Mittel zur Erreichung des normativ Gebotenen ein möglicher, schneller Weg ist. Er hat sie ja als möglichen und funktionierenden Weg in Frankreich gesehen und geschätzt. Doch als politischer Philosoph zeigt er eine fast unglaubliche Furcht, daß sich der Bruch wieder auftut, wenn er sagt, daß der Widerstand gegen die Obrigkeit, die Revolution das Wiedereintreten in den Naturzustand sei. Dieser ist seit Hobbes die Chiffre für den Bruch und muß als Bruch geschlossen werden beziehungsweise bleiben.

EiGENSiNN: Sie sagten, daß man beim Sprung in den Bruch immer schon einen Entwurf mit sich führen muß, um wieder hinauszufinden. Dann stellt sich die Frage nach dem Status dieses Entwurfs, ist er eine regulative Idee, ein Telos, hat er etwas Utopisches?

Kater: Die eine Möglichkeit, diesen Bruch zu überspringen, ist eine Utopie zu formulieren, aber nicht in dem Sinne wie Campanella und Morus das getan haben. Ihre Utopien sind eher als Spiegel für das je Gegenwärtige zu sehen, denn als Alternative, um Neues zu konstituieren. Die andere Möglichkeit ist, einen normativen Ansatz zu formulieren mit dem Anspruch, daß er wirklichkeitskompatibel ist. Hier gibt es wiederum zwei Alternativen. Entweder man verliert die Anbindung an den Bruch, dann wird es eine bloß normative Theorie und damit Ethik. Wenn wir aber von Gewalt ausgehen als dem politisch relevanten Modus des Brechens, stellt sich keine Alternative zur Aufrichtung einer Institution, die versucht die Potentiale des Zerbrechens stillzustellen. Das ist der Leviathan und das ist das Entscheidende bei Hobbes: Der Mensch bleibt, im Unterschied vor allem zu Rousseau, mit dem Vertragsschluß, mit der Aufrichtung des Politischen eben der, der er ist, und der Leviathan stellt seine Gewaltpotentiale still. Deswegen ist auf dem Frontispiz auch keine Menschenseele zu sehen außer einigen Ordnungshütern wie Pestärzte und Soldaten. Bürger gibt es dort keine. Sie werden aus dem Raum des Politischen ausgeschlossen und auf ihre Privatexistenz verwiesen, weil die Gewalt aus dem Raum des Politischen ausgeschlossen wird. Das ist die eine Seite, dies auf der institutionellen Ebene durchzuführen. Für mich ist nun dabei von Bedeutung, daß sich genau in diesem Spannungsfeld zwischen normativer Ebene und institutioneller Überwindung des Bruchs das Politische selber konstituiert, und zwar nicht nur im Modus der theoretischen Reflexion, sondern auch in der Faktizität des Politischen. Was wir haben, ist auf der einen Seite die Institution, die überwältigend dasteht, der Staat oder Leviathan, und auf der anderen Seite der normative Anspruch der Individuen, und das ist in der Moderne diesseits von Hobbes vor allen Dingen die Freiheit. Zwischen beiden gibt es ein Bewegungsverhältnis. Wir haben Zeiten, in denen der Leviathan unangetastet überragt und überformt, und Zeiten, in denen die faktische Legitimität des Staates, die sich auf der ersten Seite zeigt, bröckelt und normative, das heißt kontrafaktische Ansprüche an ihn herangetragen werden. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Der Staat nimmt sie auf und ändert sich als Ordnung oder er ignoriert sie und riskiert, als Ordnung eingerissen zu werden. Das ist der Raum, in dem sich das Politische konstituiert: Das Spannungsverhältnis zwischen Norm und Institution, oder wie man vielleicht soziologisch treffender sagen kann, zwischen Macht und Norm. Normative Ansprüche und Machtansprüche stehen in einem unaufhebbaren Spannungsverhältnis, es sei denn man ist so hypertroph wie Rousseau, der glaubt, in der volonté général könne dieses Verhältnis aufgehoben werden. In der volonté général gibt es kein Spannungsverhältnis mehr, die Individuen sehen ihre normativen Erwartungen nicht mehr als bloß partiell oder überhaupt nicht erfüllt, sondern als immer vollständig verwirklicht. Aber das ist das, was irritiert an Macht beziehungsweise Institution des Politischen, daß unsere Ansprüche vor allem auf Freiheit, aber auch auf Gerechtigkeit, immer nur partiell erfüllt werden. Deshalb erfolgt die wiederholte Artikulation unserer Ansprüche an die Institution und zugleich werden sie auch immer wieder zurückgedrängt. Das partielle Zulassen und dann das Zurückdrängen dieser Ansprüche formiert die Bewegung des Politischen. Ich bin überzeugt, man kann sie sogar geschichtsphilosophisch ausbuchstabieren. So sind Revolutionen als Brüche zugleich Eskalationen dieses Spannungsverhältnisses. Institution und normative Ansprüche sind nicht mehr vermittelbar, die Institution wird entweder eingerissen oder es erfolgt der Gegenschlag, die Errichtung einer Diktatur als vollständige Unterdrückung normativer Ansprüche.

EiGENSiNN: Rousseau und ähnliche Denker springen doch immer zurück in die Zukunft: Man kann aus der Geschichte wieder herauskommen, man kann das Ganze als etwas Einheitliches erschaffen. Wenn wir Sie richtig verstanden haben, dann ist das Denken der politischen Philosophie aber genau ein Denken, daß sich auf den irreduziblen Konflikt einläßt. Dann stellt sich natürlich die Frage nach der Intervention politischer Philosophie, wenn man sie emphatisch denkt. Oder, um es mit Schiller zu sagen: Was ist und aus welchem Grund betreiben wir politische Philosophie?

Kater: Wenn wir den Begriff des Politischen ausblenden und uns der Philosophie zuwenden und fragen, welche Funktion man ihr zuschreibt, dann würde ich sagen, sie hat normative Ansprüche zu artikulieren, und zwar möglichst weitgehend zu artikulieren. Das andere ist, und darauf ist die Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts zurückgeworfen, daß ihre erste Intervention darin besteht, das Politische als solches überhaupt erst einmal zu denken, durchaus in Nietzsches Verständnis von Philosophie als Diagnose, als Begreifen dessen, was ist, was geschieht. Wenn man das überspringt, dann artikuliert Philosophie etwas bloß normatives und steht von vornherein vor dem Problem der Ohnmacht des Sollens. Damit will ich nicht sagen, daß das eine bloß wertlose theoretische Unternehmung wäre, aber sie droht immer umzuschlagen in eine Selbstmystifizierung als Mystifizierung der Vernunft. In diesem Sinne gibt es bei Jürgen Habermas einen, wie es Hans Ebeling genannt hat, „Mythos der kommunikativen Vernunft“. Es ist wichtig, was er vorträgt, auch im Hinblick auf das Selbstverständnis unserer Demokratie und ihre normativen Grundlagen. Aber das greift zugleich so weit über die Wirklichkeit des Politischen qua Demokratie hinaus, daß es eben zum bloßen Mythos wird, der zugleich einen Mythos der Demokratie in sich trägt. Die erste Intervention der Philosophie wäre so zunächst das Politische zu denken im Sinne der Entfaltung dieses Spannungsverhältnisses, und dabei gilt: Über dieses Spannungsverhältnis kommen wir nicht hinaus, hier gibt es keine Versöhnung. Wenn zum Beispiel Rawls von Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch spricht, dann verkennt er, was das Politische als solches ist: eine unaufhebbare Bewegung. Im Raum des Privaten kann man sich versöhnen, nicht aber im Raum des Politischen.

Die nächste Intervention basiert auf der Frage, inwiefern sich Philosophie in emphatischer Weise auf die Seite einer bestimmten institutionellen Ausprägung des Politischen stellt. Und hier ist zu sagen: Es gibt keine Alternative zur Demokratie. Zumindest sehe ich gegenwärtig nicht, daß wir theoretisch etwas sinnvoll setzen können, das andersgeartet sei: Das ist das Erbe der Zäsur der Französischen Revolution. Alle Versuche über die Demokratie hinaus aus der Geschichte herauszuspringen zum Beispiel als Marxismus oder Sozialismus sind haltlos, weil auch sie wiederum das grundlegende Spannungsverhältnis verkennen. Sie erkennen das Politische nicht als sich unaufhebbar bewegendes. Dabei ist aber wichtig, daß die politische Philosophie keine bloße Feier der Demokratie ist. Die größte Gefahr für die Demokratie ist, sie mit Ansprüchen zu versehen, die sie überhaupt nicht einlösen kann. Wenn wir zum Beispiel die Demokratie auch aus der politischen Philosophie heraus mit hypertrophen Ansprüchen auf soziale Gerechtigkeit konfrontieren und sie nicht eingelöst werden, hat das nicht nur eine moralische Frustration zur Folge, als Beleidigung des Gerechtigkeitsempfindens, sondern schlägt unmittelbar zurück auf die Legitimität qua faktischer Anerkennung der Demokratie und ihrer Institutionen. Deswegen gilt es, Demokratie nüchtern zu denken, als eine Möglichkeit, zu der es keine Alternative gibt, aber auch nicht, wie bei Francis Fukujama, als einen Endpunkt der Geschichte. Festzuhalten ist, daß wir zurzeit nichts anderes haben, was sich normativ tragfähig über die Demokratie hinaus denken läßt. Das heißt aber nicht, daß sich damit Demokratie schon von selber versteht oder legitimieren kann. Demokratie muß sich in der Permanenz der ihr inhärenten politischen Auseinandersetzungen legitimieren. Es gibt keinen externen Punkt, von dem aus sie sich legitimieren kann, sie muß sich immanent legitimieren.

EiGENSiNN: Am Anfang des Gesprächs sind sie auf die unhintergehbaren Freiheitsansprüche des modernen Subjekts eingegangen, was für die Griechen wahrscheinlich gar nicht das Thema war. Die hatten mit ihrem Demos ganz andere Probleme.

Kater: Aber auch da ist schon bemerkenswert, daß man im emphatischen Sinne nur dann Mensch ist, wenn man als Freier und Gleicher in der Polis agiert. Wer nicht als solcher agieren darf, wird durchgestrichen, ausgeschlossen.

EiGENSiNN: Die griechische Polis hatte ganz andere Möglichkeiten symbolisch eben diese Gemeinschaft zu konstituieren, zum Beispiel in der thea, der gemeinsamen Schau. Das ist ja eine Ordnung von Blicken, von Räumen, die im besten, nicht panoptischen Sinne übersichtlich sind.

Kater: Deswegen die große Bedeutung der Tragödie für die Polis. Das ist das Interessante, daß die Tragödie als Theaterform gerade in dem Moment zusammenbricht, als auch die Demokratie beginnt zusammenzubrechen. Da gibt es Überlappungen.

EiGENSiNN: Daran läßt sich als Fußnote anschließen, inwiefern die Gewalt, die teilweise nicht gedacht worden ist, tatsächlich erfahren wurde. Da ist die Tragödie sehr realistisch.

Kater: Sie ist ein Ventil. Durch sie konnte die faktische Gewalt sublimiert werden. Sie holt die Gewalt hinein durch das Schauspiel, läßt sie aber sozusagen an der Oberfläche; die Gewalt dringt nicht wirklich in die Polis ein. Und als dieses Medium nicht mehr funktioniert, wird offensichtlich auch die politische Konzeption fraglich. Nietzsche hat nicht Unrecht, wenn er sagt, Sokrates und Platon setzen sich an die Stelle der Tragödie, aber in einem anderen Sinn, als er das meinte. Nicht derart, daß sie das Dionysische wegschieben und das Apollinische herausgreifen, sondern indem sie versuchen das zu denken, was wegbricht beziehungsweise seinen Ersatz. Und dabei kann dann ein solch hypertropher Anspruch herauskommen, daß die Philosophen die eigentlichen Könige seien, weil nur sie eine Ordnung garantieren können, die sich mit ihren internen Mechanismen selber nicht mehr garantieren kann.

EiGENSiNN: Aufgrund der Offenheit des Politischen oder dessen zum Trotz haben sich in der Moderne auch die konkreten Erfahrungen des von ihnen erwähnten Kommunismus oder Sozialismus manifestiert, zu denen auf einer ähnlichen Ebene sicherlich jene des Faschismus und Nationalsozialismus gehören. Und hier artikuliert sich über die Unhintergehbarkeit des Anspruchs auf Freiheit des Subjekts hinaus etwas anderes in Form einer Sehnsucht oder eines Mythos, was sich unter dem Stichwort der Gemeinschaft denken ließe. Damit hatte sich das politische Denken ja eng verwoben. Und nun ist die Frage, wie nach dem Ende der großen Narrativen, um mit Lyotard zu sprechen, die Konsequenzen für das Denken des Politischen aussehen. Gibt es denn noch immer so etwas, das als Beunruhigung des Politischen operiert und würden Sie sagen, daß diese vielleicht immer schon absente Gemeinschaft immer noch im politischen Denken herumspukt?

Kater: Wenn wir uns das Ende der politischen Philosophie der Neuzeit anschauen, ist Hegel zum ersten Mal damit konfrontiert, den klassischen Gemeinschaftsbegriff als einen der Gesellschaft gegenübergestellten zu denken. Das heißt, daß bei ihm das Denken des Politischen akut individuell wird. Wie akut das wird merkt man daran, daß er beinahe krampfhaft versucht, innerhalb der Gesellschaft als System der Bedürfnisse, dem Gewusel der Individuen, etwas immanent Gemeinschaftliches zu denken. Diese immanente Gemeinschaft qua Sittlichkeit hängt er am Begriff der Korporation auf. Damit überlastet er natürlich diesen Begriff in begründungstheoretischer Hinsicht. Was sich daran anschließt – und das ist ein wichtiger Punkt, warum diese Tradition der politischen Philosophie mit Hegel zusammenbricht –, ist, daß wir danach vor allem ein Denken des Begriffs der Gesellschaft haben. Gedacht wird im wesentlichen der Raum, in dem wir als konkurrierende (Markt)Subjekte aufeinanderstoßen, fast nicht gedacht wird der Kontext, dem diese Möglichkeit des Aufeinanderstoßens sich verdankt: Das Politische. Das zeigt sich daran, daß die Debatte um die Gesellschaft als Soziologie aus der Philosophie auswandert. Und was macht die Soziologie zuerst?

EiGENSiNN: Sie trifft die Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, wie Tönnies es tat.

Kater: Aber nicht nur die Unterscheidung. Für Tönnies beruht Gemeinschaft auf „gegenseitiger gemeinsamer Gesinnung“, auf „Sympathie“. Und er hält fest, daß wir im Prozeß der Modernisierung ein Aufbrechen beziehungsweise Zusammenbrechen dieses Ortes der Sympathie haben. Dieser Bruch ist für ihn irreversibel, die Gemeinschaft kann deshalb systematisch nicht mehr eingeholt werden. Der Gegenschlag ist dann in den Zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine Gemeinschaftsemphase, in bemerkenswerter Weise kritisch auf den Punkt gebracht in Helmuth Plessners Die Grenzen der Gemeinschaft. Dort warnt er vor der Gemeinschaftsemphase auf Grund der Gefahr ihres Umschlages ins Totalitäre.

Plessner sagt nicht, daß die Gemeinschaft obsolet sei, warnt aber vor dem Ersatz der Gesellschaft durch die Gemeinschaft. Mit Plessner bin ich überzeugt, daß Gemeinschaft für die Frage der Organisation des Zusammenlebens ein wichtiger Bezugspunkt ist. Ich bin zugleich der Meinung, daß es vor diesem Hintergrund eine Spaltung gibt, und zwar auch im Individuum. Der Mensch ist nämlich auf der einen Seite ein Gesellschaftswesen, das auf der Basis der modernen Freiheit sein Leben ausgestalten darf wie es möchte. Auf der anderen Seite braucht das Individuum aber Zugehörigkeiten, konstitutive Identifikationszusammenhänge, um auf dieser Gesellschaftsebene überhaupt leben zu können. In den Zwanziger Jahren, und hier spielt Carl Schmitt eine entscheidende wie zugleich fatale Rolle, wird nun versucht, diese Spaltung, die durch das Individuum hindurch geht, politisch zur Anwendung zu bringen, indem gerade Schmitt versucht, über dem Raum der Gesellschaft einen Raum der Gemeinschaft zu etablieren, der für ihn als Einheit des Volkes qua Staat ausgezeichnet wird. Der Staat ist die Institution der Einheit, die Gemeinschaft. Schmitt streicht entsprechend die Gesellschaft nicht durch, so wie Plessner die Gemeinschaft nicht durchstreicht, er verschiebt lediglich die Hierarchien. Die Gemeinschaft ist das Entscheidende und im Raum ihrer Einheit darf jeder seinen Egoismen nachgehen. Aber eben nur im Raum dieser Einheit als der Einheit, dem Volk, dem Staat vollständig Unterworfener. Die entscheidende Frage ist, und ich finde die Konsequenzen ihrer Antwort zutiefst irritierend, die Schmitt selber andeutet: Wie konstituiert sich diese Gemeinschaft? Für Schmitt spielen die sogenannten „Ideen vom August 1914“ die entscheidende Rolle. Es gibt eine ganz bemerkenswerte Fußnote im Begriff des Politischen, daß dort die Einheit sich konstituierte, da war im Sinne des berühmten Wortes Wilhelms II.: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“ Daß es diese Einheit 1914 nicht gegeben hat, zum Teil bloße Inszenierung der Obrigkeit war, haben Historiker hinlänglich gezeigt.

Für die Demokratie, die sich immanent legitimieren muß, sind zwei Dinge entscheidend: Die Individuen müssen sich als ein Wir in Selbstbezug auf sie erfahren, als eine Gemeinschaft der Bürger, bleiben aber gleichzeitig sie Individuen auf der Ebene ihres gesellschaftlichen Seins. Diese Spaltung ist beinnah eine Schizophrenie des Politischen. Ich muß nämlich beides zugleich tun: Auf der einen Seite mit den anderen als Marktopponenten konkurrieren, auf der anderen Seite mit ihnen kooperieren im Sinne des Erhalts und der Ausgestaltung des Gemeinwesens. Diese Kluft ist unüberbrückbar. Deswegen ist die Gemeinschaft dem Politischen immanent. Wo sie ausfällt, bricht das Politische zusammen, weil nichts Bindendes mehr da ist. Bloße Gesellschaft als politische funktioniert nicht. Die Idee vom Nachtwächterstaat der klassisch Liberalen ist eine Illusion, ein Phantasma oder totalitär. Den Punkt hat Hegel gesehen und seit ihm müht man sich, für ein Miteinander durch die Ebene der Konkurrenz hindurch das Gemeinschaftliche aufzudecken.

EiGENSiNN: Sie haben dafür plädiert, daß der Bruch im Vollzug der Überlegung mitgedacht werden muß und nicht herausgestrichen werden darf. Damit ist dieser sozusagen eine Konstitutionsbedingung der Theorie.

Kater: Auf der Ebene der Wirklichkeit des Politischen, des Gegebenen, ist die Erinnerung an den Bruch ein Bewegungsmodus für das Politische. Diese Brüche vergessen sich nicht. In der jüngeren deutschen Vergangenheit erblicken wir den durch den Nationalsozialismus vollzogenen Bruch. Dieser Bruch prägt seitdem das Politische, und zwar über Deutschland hinaus. Was wäre es für eine Philosophie, die dieses Element der Wirklichkeit, das sich nicht vergißt, nicht vergessen wird wie das Geschichtszeichen bei Kant, ignorieren könnte. Sie würde den Gegenstand, mit dem sie sich nach ihrer eigenen Selbstbezeichnung beschäftigt, verfehlen.

EiGENSiNN: Sie haben erörtert, wie auf diese Gewaltentfernung mit Vernunft reagiert wird. Inwiefern könnte das Politische eventuell auf eine Diskontinuitätserfahrung, ein Quentchen Unvernunft, einen Überschuß angewiesen sein?

Kater: Das meine ich einholen zu können mit der Artikulation des Spannungsverhältnisses von Norm und Institution. Daß normative Ansprüche im Raum des Politischen artikuliert werden, basiert schließlich nicht nur auf der Vernunft der Individuen. Es ist sicherlich zu schematisch zu sagen, daß dort, wo vernünftige Ansprüche artikuliert werden, diese zur Veränderung der institutionellen Ebene beitragen, weil auch gut begründete normative Ansprüche an den Institutionen regelmäßig abprallen. Es muß schon ein hohes Entgegenkommen der institutionellen Ebene vorhanden sein, doch Vernunft und Macht wird man nicht zur Deckung bringen. Macht hat dieses Überschießende, das Sie meinen, und das spiegelt sich auf der normativen Ebene wieder. Mit normativ meine ich jetzt nicht, was wir als Philosophen darunter verstehen, sondern was Individuen als Anspruch artikulieren. Hier kann die Philosophie reflektieren auf die Art und Weise dieser Artikulation, das wäre eine Möglichkeit von Intervention und Vermittlung. Doch muß man sagen, daß hier der mögliche Beitrag der Philosophie bescheiden ist. Zur Verortung der Philosophie gehört auch, daß sie weiß, was Philosophie im Raum des Politischen bedeutet. Hier haben wir zwei Alternativen. Zum einen die Platonische, die besagt, daß die Wahrheit des Politischen der Philosophie unterworfen werden muß. Zum anderen die dem Politischen gerechter werdende Variante, wie sie Hannah Arendt formuliert hat, daß es im Raum des Politischen nur um Meinungen geht, nicht um Wahrheit. Jede Wahrheit der Philosophie, wenn wir eine solche einmal annehmen wollen, wird im Raum des Politischen zur Meinung. Diese mag besser begründet sein, aber muß sich dennoch bewähren im Streit der Meinungen. Und deshalb ist eine gewisse Bescheidenheit der Philosophie zu wahren. Sie ist keine Leitwissenschaft, die den Regierenden Maximen an die Hand gib. Philosophie denkt das Politische und daß natürlich im Sinne der Erhaltung des Politischen als Demokratie. Aber sie muß dabei wissen, daß sie bestimmte Ansprüche im Raum des Politischen nur als Meinung artikulieren kann und nicht als unhintergehbare Wahrheit. Denn Wahrheit ist das Ende des Politischen, weil sie dessen Spannungsverhältnis stillstellt.

EiGENSiNN: Taucht hier nicht im Kontext der neuen französischen Philosophie die Erfahrung einer erneuten Dringlichkeit des Denkens des Politischen auf?

Kater: Was auffällt im internationalen Diskurs ist, daß gerade im Kontext der französischen Philosophie das Bemühen, das Politische zu denken, in bemerkenswerter Weise gegeben ist, ganz im Unterschied zum angelsächsischen und auch deutschen Raum. Versuche finden wir auch noch in Italien, zum Beispiel bei Giorgio Agamben. Offensichtlich sind, wenn mich mein Eindruck nicht täuscht, die Franzosen sensibler, was die immanente Brüchigkeit der Demokratie betrifft. Neben zum Teil spielerischen Zügen gibt es dort das ernsthafte Bemühen, Demokratie zu denken als ein fragiles System, um mit diesem Denken und vor allem mit dieser Art des Denkens die Demokratie zu stärken. Man will die Demokratie ja nicht überwinden, sondern versuchen zu zeigen, wo sie sich selbst gefährdet und exzessive Potentiale birgt, die zu ihrem Auseinanderfallen führen können.

EiGENSiNN: Hier kommt also wieder der diagnostische Moment zum Tragen?

Kater: Ganz genau. Man soll nicht der Demokratie vorschreiben, was sie machen soll, sondern Demokratie als Demokratie denken. Aber dieses nicht institutionell begrenzt, sondern indem man versucht, das Politische zu denken und dabei die Demokratie als einen besonderen und zwar ausgezeichneten Fall des Politischen darzustellen.

EiGENSiNN: Das Politische ist als ständige Bewegung auch ein Nicht-Ort. Derrida spricht zum Beispiel von einer „kommenden Demokratie“. Würden Sie sagen, daß diese Insistenz auf dem nach vorne Offenen eher Signifikanz oder Problem im Denken des Politischen ist?

Kater: Für das Beschreiben des Politischen ist das eine bemerkenswerte Figur. Was sind das für Orte, die wir als Nicht-Orte bezeichnen? Nach dem Ethnologen Marc Augé sind das Orte, an denen wir uns aufhalten, aber nicht bleiben wollen: Flughäfen, Bahnhöfe oder Autobahnraststätten. Man kommt nicht umhin, diese Orte zu besuchen, will dort aber nicht verweilen, sich nicht einrichten, weil man sich dort nicht einrichten kann. In diesem Sinne ist das Politische kein Nicht-Ort, weil es alternativlos ist, ein Ort, an dem ich mich einrichten muß. Aber die Einrichtung in diesen Ort bedeutet nicht, daß ich damit zur Ruhe komme, denn das Politische kommt nicht zur Ruhe. In diesem Sinne ist das Politische vielleicht die Permanenz einer Durchgangsstation. Man richtet sich ein, weiß aber aufgrund des Bewegungsverhältnisses, daß dieses Einrichten immer schon überwunden ist. Damit stellt sich das Problem, ob dies ein bloß offener Prozeß ist, dessen Ausgang unabsehbar ist. Agamben verstehe ich so, daß er diese Leerstelle mit der Idee der „kommenden Gemeinschaft“ zu besetzen versucht, Derrida mit der der „kommenden Demokratie“. Ich interpretiere das Offene aber dahingehend, daß das Kommende eine sich immer wieder neu konstituierende, neu einholende Bewegung ist, aber kein Ort, auf den alles zuläuft. Das Kommende wird immer wieder eingeholt in dem Wissen, daß sie nicht auf etwas zuläuft, an dem die Bewegung der Demokratie zu Ende ist. Die Demokratie läuft allenfalls auf die Permanenz ihrer eigenen Bewegung zu. Das ist ihr großes legitimatorisches Problem, und damit auch ein Problem ihrer Erhaltung, weil sie in das Offene hinein konstituiert ist, aber im bloß Offenen nicht sein kann.

EiGENSiNN: Vielleicht als Abschluß: Inwiefern gibt es für Sie eine Verbindung der Ästhetik, oder besser der aisthesis, mit dem Denken des Politischen?

Kater: Diese Frage berührt das Thema „Friedensbilder und Friedensvorstellungen“, mit dem ich mich seit geraumer Zeit beschäftige. Es gibt keinen Raum des Politischen, der nicht zugleich ästhetisch ist, und sei es nur auf der Ebene von Ritualen, die immer ästhetisch inszeniert sind. Ein weiterer Punkt ist, daß sich Macht immer inszeniert. Unter Bedingungen einer nicht ausgeprägten Schriftlichkeit tritt dabei natürlich die bildende Kunst in besonderer Weise auf. Am Ende der Dominanz der Schriftlichkeit steht die multimediale Inszenierung. Wenn das Politische sich selber immer als ästhetisches Phänomen artikuliert, dann kann man Ästhetik gar nicht dem Politischen entziehen. Und zwar nicht im Sinne von Politkunst, Agitprop oder dergleichen, vielmehr ist das Ästhetische in zweifacher Hinsicht an das Politische zurückverwiesen. Entweder versucht man einen nur ästhetischen zu fassenden Fluchtpunkt in das Offene des Politischen zu setzen, um es so zu schließen, oder aber man greift das Politische selbst ästhetisch auf. Ästhetik als Reflex des Politischen selbst oder Ästhetik als Überschuß über das Politische hinaus. Die erste Funktion erfüllt sicherlich die antike griechische Tragödie. Die mich interessierenden Friedensbilder haben sicherlich die Dimension des Überschießens. Hier ist das Frappierende, daß diese Bildtradition im 19. Jahrhundert zusammenbricht beziehungsweise sich grundlegend transformiert. Der Frieden wird im Zuge des Aufkommens der Massengesellschaft privatisiert. Ein schlagendes Bildbeispiel findet sich in einer älteren Ausgabe der Zeitschrift, die im ICE herumliegt. Auf diesem Bild, das in Indonesien entstanden ist, sieht man einen Vater mit seinem Sohn in einem Zug. Der Vater sitzt entspannt, leicht dösend, der Sohn schläft, den Kopf auf seinem Schoß. Unter dem Photo steht: „Ein Bild des Friedens.“ Das ist Frieden als etwas rein Privates, jenseits aller Anschlußfähigkeit an das Politische. Doch wenn der Frieden privatisiert wird, dann stellt sich, um an den Anfang zurückzukehren, die Frage der Brüche und ihrer Kontinuierung im Politischen noch einmal neu, und zwar als Frage, wie das Politische mit Blick auf das Verschließen der Brüche auf den Frieden bezogen werden kann. Wenn der Frieden aber dem Politischen entzogen wird, fällt er als dafür entscheidende Perspektive aus. Dann wäre das Politische ohne Frieden zu denken, und das hieße wiederum, es zu verfehlen. Denn den Ursprung des Politischen in der Gewalt zu situieren, impliziert zugleich, das Politische immer schon auf den Frieden zu beziehen.

EiGENSiNN: Herr Kater, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Gespräch führten Tobias Prüwer und Michael Wehren


PD Dr. Thomas Kater, 1966 geboren, studierte Sozial-, Geschichts- und Wirtschaftswissenschaften in Bochum und Paderborn. Er lehrt an der Universität Leipzig mit den Arbeitsschwerpunkten Politische Philosophie, Rechtsphilosophie und Ethik.

Politik, Recht, Geschichte – Zur Einheit der politischen Philosophie Immanuel Kants. Würzburg 1999.

Der verweigerte Friede – Der Verlust der Friedensbildlichkeit in der Moderne. [Hg.] Bremen 2003.