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Erschienen in: Ausgabe #2 vom Januar 2004



Interview mit Jürgen Engfer

EiGENSiNN: Wer oder was hat Sie bewogen, Philosophie zu studieren?

ENGFER: Ursprünglich habe ich nicht Philosophie, sondern Germanistik und Geschichte studiert. Mit diesen Fächern war ich dann aber bald unzufrieden, fand die behandelten Fragen oft zufällig und die Argumentationen oft unklar, so dass ich weiter gesucht habe und begann, mich mit philosophischen Themen zu beschäftigen. Dabei hatte ich das Glück oder das Schicksal, in Kant-Seminare zu geraten. Und an den dort behandelten Texten hat mir von Anfang an die Klarheit und Deutlichkeit der Argumentation gefallen, auch wenn dies natürlich gelegentlich eine größere Kompliziertheit zur Folge hat. Deshalb habe ich dann Philosophie als drittes Fach dazugenommen.

J. Engfer
Jürgen Engfer

EiGENSiNN: Wie lautete das Thema ihrer Magisterarbeit?

ENGFER: Ich habe keine Magisterarbeit geschrieben, sondern das Staatsexamen in Germanistik und Geschichte gemacht (in Philosophie war das zu dieser Zeit nicht möglich). Meine Staatsexamensarbeit, die in etwa einer Magisterarbeit entspricht, habe ich über Karl Gutzkow, einen Autor des Jungen Deutschland, geschrieben. Dann habe ich noch eine Erweiterungsprüfung in Philosophie gemacht und schließlich in Philosophie promoviert.

EiGENSiNN: Was hat Sie dazu bewogen, sich für den Schwerpunkt Geschichte der Philosophie zu entscheiden?

ENGFER: Das beruhte auf einer Beobachtung, die ich an mir selbst gemacht habe. Ich habe gemerkt, dass vieles, was ich (und auch andere) denken, historische Ursprünge und Wurzeln hat, die einem ganz unbekannt sind. Wenn man zum Beispiel den Begriff der Ursache oder den der Wirkung oder den des Gesetzes verwendet, verbindet man damit oft ganz disparate Vorstellungen, die gar nicht gut zusammen passen, weil sie aus ganz verschiedenen Quellen stammen. Das Studium der Geschichte der Philosophie bietet den Vorteil, dass man sich die verschiedenen Konzepte in relativ deutlicher und reiner Form ansehen und sich dadurch über die Quellen seines eigenen Denkens klar werden kann. Es ging mir also nicht nur um die Geschichte um ihrer selbst willen, sondern mehr noch um die Aufklärung der eigenen Denkstrukturen. Und die kann einmal so erfolgen, dass man die Traditionen entdeckt, denen man immer schon gefolgt ist, ohne es gewußt zu haben; sie kann aber auch dadurch zustande kommen, dass man durch das Studium der Philosophiegeschichte entdeckt, dass man heute ganz anders antwortet oder sogar fragt, als man es früher getan hat, und dann über diese Differenzen nachdenkt. In beiden Fällen liegt das Hauptziel darin, dass man die eigene Position in der Auseinandersetzung mit historischen Positionen näher aufklärt, differenziert und korrigiert.

EiGENSiNN: Sind Sie der Meinung, dass die Geschichte der Philosophie auch nach dem Wegfall Ihrer Professur noch hinreichend gelehrt werden kann?

ENGFER: Nein, denn es wird ja dann in Leipzig gar keine Professur für Geschichte der Philosophie mehr geben. Natürlich beziehen sich auch systematisch arbeitende Philosophen immer wieder auch auf historische Positionen, aber das kann eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit den historischen Texten und dem Kontext, in dem sie entstanden sind, nicht ersetzen. Das Studium der Geschichte stellt in der Philosophie ja nicht etwas dar, was neben den systematischen Studien stünde und diese bloß ergänzte und begleitete, wie es vielleicht in der Medizin oder der Mathematik der Fall ist, sondern gehört zum Kernbereich dieses Faches selbst. Deshalb haben andere, besser ausgestattete Universitäten ja oft nicht etwa bloß eine, sondern zwei oder drei Professuren für Geschichte der Philosophie, nämlich beispielsweise je eine für antike, mittelalterliche und neuzeitliche Philosophie, was der Sache nach auch erforderlich ist. Wenn auch noch die eine Professur für Geschichte der Philosophie gestrichen wird, die es hier bisher gibt, wird Leipzig gegenüber anderen Universitäten noch deutlicher ins Hintertreffen geraten.

EiGENSiNN: Wie würden Sie die heutige Stellung und Aufgabe der Philosophie in Deutschland bezeichnen?

ENGFER: Es ist ja nicht unüblich, die Aufgabe der Philosophie darin zu sehen, Orientierungswissen bereitzustellen. Darunter versteht man nun allerdings häufig so etwas wie Politikberatung oder Ethikberatung. Damit bin ich ganz und gar nicht einverstanden. Denn wenn man bei dem Begriff des Orientierens bleiben will, dann sollte die Aufgabe nicht darin gesehen werden, Politiker oder Bürokraten zu beraten, sondern dem Einzelnen zu helfen, sich zu orientieren. Ich denke, dass das die eigentliche Aufgabe der Philosophie an der Universität ist, dass sie über solche Orientierungsrahmen, in denen man sich immer schon bewegt, ausdrücklich nachdenkt. Dass ist auch die Aufgabe, die sie gegenüber ihren Studierenden hat: sie sollte sie in die Lage versetzen, über die wirklichen oder scheinbaren Selbstverständlichkeiten, in denen man sich immer schon bewegt, zu reflektieren und sich dadurch selbst zu orientieren.

EiGENSiNN: Es scheint, dass die Philosophie als Orientierungswissen (des Einzelnen) die Orientierung in einer Welt meint, deren Entwicklung durch andere Disziplinen wie Natur- und Sozialwissenschaften (etwa wirtschaftliche Erwägungen) aktiv bewerkstelligt wird. Insofern könnte „Bewegung“ in der Philosophie nur dadurch entstehen, dass jene Disziplinen reflexionsbedürftige Ergebnisse zu Tage fördern. Würden Sie sagen, dass die Entwicklung der Philosophie von der Antike bis heute einen Fortschritt vergleichbar mit dem von Wissenschaft (oder einer anderen Art) verzeichnen kann?

ENGFER: Das scheinen mir zwei unterschiedliche Probleme zu sein. Was die erste Frage betrifft, ob nämlich die Philosophie eher auf die Ergebnisse von Entwicklungen reagiert als dass sie sie hervorbringt, würde ich wohl zustimmen: nicht umsonst sagt ein klassisches Bild über die Philosophie, dass die Eule der Minerva ihren Flug erst mit einbrechender Dämmerung beginnt. Ich glaube, die meisten Philosophen sind heute sehr weit von der Vorstellung entfernt, dass die Philosophie so etwas wie ein Motor der gesellschaftlichen oder politischen Entwicklung sei. Die Entwicklungen, die vor sich gehen, bei uns in Deutschland, aber auch in der Welt, scheinen ja ohnehin nur in seltenen Ausnahmefällen das Ergebnis überlegenden Planens, sondern zumeist das Resultat relativ blind wirkender Kräfte oder Interessen zu sein. Aber natürlich hofft man immer darauf, dass die Orientierung, von der eben die Rede war, auch dazu beiträgt, Fehlentwicklungen und Irrwege als solche erst zu erkennen und dann zu vermeiden.

Was die zweite Frage nach dem Fortschritt innerhalb der Philosophie angeht, so gibt es sicher auch in der Philosophie Teildisziplinen wie z. B. die Logik, in der man von einem wissenschaftlichen Fortschritt sprechen kann, außerdem tauchen im Laufe der Entwicklung ganz neue Disziplinen auf wie z. B. die Ästhetik im 18. Jahrhundert und verschwinden auch wieder wie z. Z. vielleicht die Geschichtsphilosophie. Aber darüber hinaus gibt es in der Philosophie sicher einen Kernbereich von Problemen und Themen, die seit der Antike immer wieder neu behandelt werden, ohne dass man von einem Fortschritt sprechen könnte, der mit dem in anderen Wissenschaften vergleichbar wäre. Das liegt möglicherweise wieder daran, dass es in der Philosophie um Orientierung und also nicht um die gemeinsame Bearbeitung eines wohl definierten Forschungsfeldes geht, in das man mit immer besseren Methoden immer weiter eindringen könnte, sondern um ein sich Zurechtfinden in jeweils neuen Situationen, bei dem es zwar nützlich sein kann, die Orientierungsleistungen anderer in anderen Situationen zu kennen, ohne dass man ihre Lösungen einfach übernehmen könnte.

EiGENSiNN: Wie stehen Sie zu den in Bologna abgesegneten Neuerungen hinsichtlich BA/MA?

ENGFER: Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass man erreichen will, dass Studierende in Europa die Universitäten wechseln und länderübergreifend studieren können, ohne dadurch Zeit zu verlieren. Aber dafür hätte vielleicht schon eine gewisse Großzügigkeit und Liberalität bei der Anerkennung woanders erbrachter Studienleistungen ausgereicht. Das man dafür eine riesige bürokratische Reorganisation und Vereinheitlichung aller Studienordnungen in Europa ansteuert, scheint mir wirklich übertrieben. Außerdem finde ich die Regelung, dass man den ersten Studienabschluß bereits nach sechs Semestern erwerben soll, mehr als unglücklich: rechnet man das letzte Prüfungssemester ab, dann bleiben für den Bachelor gerade einmal fünf Semester und ich sehe nicht, dass man in so kurzer Zeit ein ernstzunehmendes Studium absolvieren kann. Aber gleichgültig, wie die Regelungen im Einzelnen aussehen: Solange das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Professoren und Studierenden so bleibt, wie es gegenwärtig in Leipzig ist, dass nämlich 1000 Hauptfachstudenten vier und in Zukunft vielleicht sogar nur noch drei Professuren gegenüberstehen, solange stellt das eine viel stärkere Beeinträchtigung der Studienmöglichkeiten dar als irgendeine formale Neuordnung. Das drängendste Problem ist, dass die Hochschulen in Deutschland nicht über die finanziellen Mittel verfügen, um ihre Aufgaben zu erfüllen.

Das Gespräch führten Ramona Krons und Sarah Jahn


Jürgen Engfer ist Professor für Geschichte der Philosophie an der Uni Leipzig