Interview mit Jürgen Engfer
EiGENSiNN: Wer oder was hat
Sie bewogen, Philosophie
zu studieren?
ENGFER: Ursprünglich habe ich nicht
Philosophie, sondern Germanistik
und Geschichte studiert. Mit diesen Fächern war ich dann aber
bald unzufrieden, fand die behandelten Fragen oft zufällig
und die Argumentationen oft
unklar, so dass ich weiter gesucht habe
und begann, mich mit philosophischen Themen zu beschäftigen.
Dabei hatte ich das Glück oder das Schicksal, in Kant-Seminare
zu geraten. Und an
den dort behandelten Texten hat mir von Anfang
an die Klarheit und Deutlichkeit der Argumentation gefallen,
auch
wenn dies natürlich gelegentlich eine größere Kompliziertheit
zur
Folge hat. Deshalb habe ich dann Philosophie als drittes Fach
dazugenommen.
Jürgen Engfer
EiGENSiNN: Wie lautete das Thema ihrer Magisterarbeit?
ENGFER:
Ich habe keine Magisterarbeit geschrieben, sondern das
Staatsexamen in Germanistik und Geschichte gemacht
(in Philosophie
war das zu dieser Zeit nicht möglich). Meine Staatsexamensarbeit,
die in etwa einer Magisterarbeit entspricht, habe ich über
Karl Gutzkow, einen Autor des Jungen
Deutschland, geschrieben. Dann
habe ich noch eine Erweiterungsprüfung in Philosophie gemacht
und schließlich in Philosophie promoviert.
EiGENSiNN: Was hat Sie dazu bewogen, sich
für den Schwerpunkt
Geschichte der Philosophie zu entscheiden?
ENGFER: Das
beruhte auf einer Beobachtung, die ich an mir selbst
gemacht habe. Ich habe gemerkt, dass vieles, was ich
(und auch andere)
denken, historische Ursprünge und Wurzeln hat, die einem ganz
unbekannt sind. Wenn man zum Beispiel den Begriff der Ursache oder
den der Wirkung oder den des Gesetzes
verwendet, verbindet man damit
oft ganz disparate Vorstellungen, die gar nicht gut zusammen passen,
weil sie aus ganz verschiedenen Quellen stammen. Das Studium der
Geschichte der Philosophie
bietet den Vorteil, dass man sich die
verschiedenen Konzepte in relativ deutlicher und reiner Form ansehen
und sich dadurch über die Quellen seines eigenen Denkens klar
werden kann. Es ging
mir also nicht nur um die Geschichte um ihrer
selbst willen, sondern mehr noch um die Aufklärung der
eigenen
Denkstrukturen. Und die kann einmal so erfolgen, dass man die Traditionen
entdeckt, denen man immer schon gefolgt ist, ohne es gewußt
zu haben; sie kann aber auch dadurch
zustande kommen, dass man durch
das Studium der Philosophiegeschichte entdeckt, dass man heute ganz
anders antwortet oder sogar fragt, als man es früher getan
hat, und dann über diese
Differenzen nachdenkt. In beiden Fällen
liegt das Hauptziel darin, dass man die eigene Position in der
Auseinandersetzung
mit historischen Positionen näher aufklärt, differenziert
und korrigiert.
EiGENSiNN: Sind Sie der Meinung, dass die Geschichte der Philosophie
auch nach dem Wegfall Ihrer Professur noch hinreichend gelehrt werden
kann?
ENGFER: Nein, denn es wird ja dann in Leipzig gar keine Professur
für Geschichte der
Philosophie mehr geben. Natürlich beziehen
sich auch systematisch arbeitende Philosophen immer wieder
auch
auf historische Positionen, aber das kann eine ausdrückliche
Auseinandersetzung
mit den historischen Texten und dem Kontext,
in dem sie entstanden sind, nicht ersetzen. Das Studium der
Geschichte
stellt in der Philosophie ja nicht etwas dar, was neben den systematischen
Studien stünde und diese bloß ergänzte und begleitete,
wie es vielleicht in der Medizin
oder der Mathematik der Fall ist,
sondern gehört zum Kernbereich dieses Faches selbst. Deshalb
haben andere, besser ausgestattete Universitäten ja oft nicht
etwa bloß eine, sondern
zwei oder drei Professuren für
Geschichte der Philosophie, nämlich beispielsweise je eine
für antike, mittelalterliche und neuzeitliche Philosophie,
was der Sache nach auch
erforderlich ist. Wenn auch noch die eine
Professur für Geschichte der Philosophie gestrichen wird,
die
es hier bisher gibt, wird Leipzig gegenüber anderen Universitäten
noch
deutlicher ins Hintertreffen geraten.
EiGENSiNN: Wie würden Sie die heutige Stellung und
Aufgabe
der Philosophie in Deutschland bezeichnen?
ENGFER: Es ist ja nicht
unüblich, die Aufgabe der Philosophie
darin zu sehen, Orientierungswissen bereitzustellen. Darunter
versteht
man nun allerdings häufig so etwas wie Politikberatung oder
Ethikberatung.
Damit bin ich ganz und gar nicht einverstanden. Denn
wenn man bei dem Begriff des Orientierens bleiben
will, dann sollte
die Aufgabe nicht darin gesehen werden, Politiker oder Bürokraten
zu beraten, sondern dem Einzelnen zu helfen, sich zu orientieren.
Ich denke, dass das die eigentliche
Aufgabe der Philosophie an der
Universität ist, dass sie über solche Orientierungsrahmen,
in denen man sich immer schon bewegt, ausdrücklich nachdenkt.
Dass ist auch die Aufgabe, die
sie gegenüber ihren Studierenden
hat: sie sollte sie in die Lage versetzen, über die wirklichen
oder scheinbaren Selbstverständlichkeiten, in denen man sich
immer schon bewegt, zu
reflektieren und sich dadurch selbst zu orientieren.
EiGENSiNN: Es scheint, dass die Philosophie
als Orientierungswissen
(des Einzelnen) die Orientierung in einer Welt meint, deren Entwicklung
durch andere Disziplinen wie Natur- und Sozialwissenschaften (etwa
wirtschaftliche Erwägungen)
aktiv bewerkstelligt wird. Insofern
könnte „Bewegung“ in der Philosophie nur dadurch
entstehen, dass jene Disziplinen reflexionsbedürftige Ergebnisse
zu Tage fördern.
Würden Sie sagen, dass die Entwicklung
der Philosophie von der Antike bis heute einen Fortschritt
vergleichbar
mit dem von Wissenschaft (oder einer anderen Art) verzeichnen kann?
ENGFER: Das scheinen mir zwei unterschiedliche Probleme zu sein.
Was die erste Frage
betrifft, ob nämlich die Philosophie eher
auf die Ergebnisse von Entwicklungen reagiert als dass sie
sie hervorbringt,
würde ich wohl zustimmen: nicht umsonst sagt ein klassisches
Bild
über die Philosophie, dass die Eule der Minerva ihren
Flug erst mit einbrechender Dämmerung
beginnt. Ich glaube,
die meisten Philosophen sind heute sehr weit von der Vorstellung
entfernt, dass die Philosophie so etwas wie ein Motor der gesellschaftlichen
oder politischen Entwicklung
sei. Die Entwicklungen, die vor sich
gehen, bei uns in Deutschland, aber auch in der Welt, scheinen ja
ohnehin nur in seltenen Ausnahmefällen das Ergebnis überlegenden
Planens, sondern
zumeist das Resultat relativ blind wirkender Kräfte
oder Interessen zu sein. Aber natürlich hofft
man immer darauf,
dass die Orientierung, von der eben die Rede war, auch dazu beiträgt,
Fehlentwicklungen und Irrwege als solche erst zu erkennen und dann
zu vermeiden.
Was die zweite Frage nach dem Fortschritt innerhalb der Philosophie
angeht, so gibt es
sicher auch in der Philosophie Teildisziplinen
wie z. B. die Logik, in der man von einem wissenschaftlichen
Fortschritt
sprechen kann, außerdem tauchen im Laufe der Entwicklung ganz
neue
Disziplinen auf wie z. B. die Ästhetik im 18. Jahrhundert
und verschwinden auch wieder wie z. Z.
vielleicht die Geschichtsphilosophie.
Aber darüber hinaus gibt es in der Philosophie sicher einen
Kernbereich von Problemen und Themen, die seit der Antike immer
wieder neu behandelt werden,
ohne dass man von einem Fortschritt
sprechen könnte, der mit dem in anderen Wissenschaften
vergleichbar
wäre. Das liegt möglicherweise wieder daran, dass es in
der
Philosophie um Orientierung und also nicht um die gemeinsame
Bearbeitung eines wohl definierten
Forschungsfeldes geht, in das
man mit immer besseren Methoden immer weiter eindringen könnte,
sondern um ein sich Zurechtfinden in jeweils neuen Situationen,
bei dem es zwar nützlich sein
kann, die Orientierungsleistungen
anderer in anderen Situationen zu kennen, ohne dass man ihre
Lösungen
einfach übernehmen könnte.
EiGENSiNN: Wie stehen Sie zu
den in Bologna abgesegneten Neuerungen
hinsichtlich BA/MA?
ENGFER: Ich kann
sehr gut nachvollziehen, dass man erreichen will,
dass Studierende in Europa die Universitäten
wechseln und länderübergreifend
studieren können, ohne dadurch Zeit zu verlieren. Aber
dafür
hätte vielleicht schon eine gewisse Großzügigkeit
und
Liberalität bei der Anerkennung woanders erbrachter Studienleistungen
ausgereicht. Das man dafür
eine riesige bürokratische
Reorganisation und Vereinheitlichung aller Studienordnungen in Europa
ansteuert, scheint mir wirklich übertrieben. Außerdem
finde ich die Regelung, dass
man den ersten Studienabschluß
bereits nach sechs Semestern erwerben soll, mehr als unglücklich:
rechnet man das letzte Prüfungssemester ab, dann bleiben für
den Bachelor
gerade einmal fünf Semester und ich sehe nicht,
dass man in so kurzer Zeit ein ernstzunehmendes
Studium absolvieren
kann. Aber gleichgültig, wie die Regelungen im Einzelnen aussehen:
Solange das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Professoren
und Studierenden so bleibt, wie
es gegenwärtig in Leipzig ist,
dass nämlich 1000 Hauptfachstudenten vier und in Zukunft
vielleicht
sogar nur noch drei Professuren gegenüberstehen, solange stellt
das eine
viel stärkere Beeinträchtigung der Studienmöglichkeiten
dar als irgendeine formale
Neuordnung. Das drängendste Problem
ist, dass die Hochschulen in Deutschland nicht über die
finanziellen
Mittel verfügen, um ihre Aufgaben zu erfüllen.
Das
Gespräch führten Ramona Krons und Sarah Jahn
Jürgen Engfer ist Professor
für Geschichte der Philosophie an der Uni Leipzig