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Erschienen in: Ausgabe #4 vom März 2005



Kolloquium Was ist Gemeinschaft?

Unter diesem Titel veranstaltet die studentische Arbeitsgruppe Kopfschlag in Zusammenarbeit mit dem Philosophischen Institut, dem StudentInnenRat, der Rosa-Luxenburg-Stiftung & der Nietzsche-Gesellschaft e.V. zum wiederholten Male ein Kolloquium. Die Arbeitsgruppe widmet sich in fachübergreifender Perspektive nicht nur philosophisch relevanten Fragen, so ging man in der ersten Kolloquiumsreihe der Frage „Was ist Kritik?“ nach. In den Fokus der Auseinandersetzung geriet dabei Kritik als Ethos, als existentielle Praktik. Dabei war von Anfang an das Problem der Gemeinschaft angesprochen. Diese soll nun der programmatische Schwerpunkt der Veranstaltungen in den zwei kommenden Semestern sein.


Die Termine im Sommersemester 2005

(Veranstaltungsort ist -sofern nicht anders vermerkt - der Dekanatsraum im GWZ 4115)


April, Volker Caysa (Opole):

Kritik als Utopie der Selbstregierung. Über die existenzielle Wende der Kritik nach Nietzsche [Buchvorstellung als Nachtrag zum Kolloquium „Was ist Kritik?“]


Di. 12. April, Karen Joisten (Mainz):

Der Mensch auf den Wegen zum Mitmenschen


Do. 12. Mai, Pirmin Stekeler-Weithofer (Leipzig):

Selbstbildung und Selbstunterdrückung. Zur Bedeutung der Passagen über Herrschaft und Knechtschaft in Hegels Phänomenologie des Geistes


Di. 7. Juni, Udo Tietz (Berlin):

Die Grenzen des Wir


Do. 14. Juli 20:00, Günther Heegt (Leipzig):

Intermedialität & Gemeinschaft am Beispiel Jeff Walls


Di. 11. Oktober, Markus Steinweg (Berlin):

Thema folgt


Zugesagt haben auch Barbara Lange, Gerald Hartung; weitere sind angeschrieben worden


Grundlegung des Kolloquiums Was ist Gemeinschaft?

In den Veranstaltungen des Sommersemesters 2003 und des Wintersemesters 2003/2004 gingen wir der Frage „Was ist Kritik?“ nach. In den Fokus der Auseinandersetzung geriet dabei Kritik als Ethos, als existentielle Praktik. Dabei war von Anfang an sowohl explizit als auch implizit das Problem der Gemeinschaft angesprochen. Dies soll nun der programmatische Schwerpunkt der geplanten Veranstaltungen im SS 2005 und WS 2005/2006 werden. Mit der Verschiebung des Kritikbegriffes, beziehungsweise seines Verständnisses, geht eine Transgression des Politischen einher, stellt sich die Frage nach dem Wesen, der Problematizität und Möglichkeit von Leben – gemeinschaftlichem, gesellschaftlichem, nacktem Leben und deren etwaiger Divergenz – erneut.


Ein erster Begriff von Gemeinschaft, ausgehend von der Frage „Was ist Kritik?“, kann jenseits liberalistischer und kommunitaristischer Diskurse entwickelt werden anhand der Kategorie des „Werks“. Studien wie Benedict Andersons Imagined Communities behandeln „Nation“, „Rasse“, etc. als Konstrukte ideeller, praktischer und institutioneller Natur. Die Nation, die Aufklärung, die Revolution oder der freie Markt als säkulare Heilsversprechen heben das Leben und den Tod des Einzelnen auf in einer historischen „Metaerzählung“ (Lyotard). Verwandte Perspektiven finden wir in den Werken des „Anthropologen“ René Girards sowie in den Schriften des Juristen Carl Schmitt. Girard hebt deutlich die für „jegliche“ Form von Gemeinschaft konstitutive Opferfunktion und die ihr innewohnenden Strukturen der Repräsentation hervor. Carl Schmitts politische Theologie umschreibt ebenfalls mit ihrer „Freund–Feind“–Dichotomie und mit der Theorie des Ausnahmezustands die radikale Logik der modernen Biopolitik. Wenn Leben, Tod und Politik in dieser Sphäre zusammenfallen, stellt sich nicht nur die Frage nach einer Lebenskunst umso drängender, sondern es scheint ebenfalls nötig „im Ausnahmezustand, der die Regel geworden ist,“ das Problem und die Utopie der Gemeinschaft erneut zu denken. Mit Blumenberg ließe sich hier von der Kontinuität eines Begehrens, im positiven wie im negativen Sinne, sprechen. So ließe sich Gemeinschaft an als das Resultat der Sehnsucht nach geteiltem Schicksal, welche gleichzeitig darüber hinaustreibt. Die Frage nach dem Menschen und seinem Wesen wird hier explizit das, was sie schon immer war: ein Politikum. Es gilt scheinbar noch immer den Zusammenhang zwischen Macht und Mensch zu denken. Die Konsequenzen, welche sich aus dem wiederkehrenden Entgleiten jener Frage ergeben, lassen sich für die Konstruktion von Gemeinschaft schwer ersehen. Vollzogene Zuschreibungen des Menschen als aufgerichtetes oder aufrichtiges, spielendes oder handwerkelndes, vernünftiges oder politisches, zoologisches oder genetisches Wesen scheinen frei nach Stirner auf „Nichts gestellt zu sein“. Der Mensch ist ontologisch fundamentlos. Schon Nietzsches Philosophie ist durchdrungen von den Phantasmen einer kommenden Gemeinschaft – kommenden Lesern, der kritisch-existentiellen Infragestellung des Menschen als eines fixierenden Dispositivs. In Nietzsches Verachtung der Gesellschaft (oder wie er sie an anderer Stelle gern nennt: der Menschheit) existiert dennoch gerade in seiner radikalen Abkehr ein ethischer – und das bedeutet gemeinschaftlicher – Gestus. Schon Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik trägt dessen Signatur. In den Krisenphänomenen der sogenannten Post-Moderne, im Prozeß einer mehr oder weniger globalen Umorganisation von Leben, Politik und Gemeinschaft und deren Verhältnissen (Hardt / Negri) scheint Nietzsche, der Krisenphilosoph und Diagnostiker, von frisch erneuertem Interesse zu sein. Wenn klassische Formen und Konzepte der Gemeinschaft von Turbulenzen erfaßt und fragwürdig werden, mag es sich lohnen, einen Blick auf „a-soziale“ Denker einer anderen Form von Gemeinschaft, wie etwa Nietzsche zu werfen. Im Lichte der Genealogie kann auf Gesellschaft als immer schon bestehende und sonach abgeschlossene Gemeinschaft eine ungewohnte Perspektive eingenommen und können gesellschaftliche Legitimationsprozesse in Frage gestellt werden. Läßt sich Nietzsches Unterscheidung zwischen Brauch und Sinn auch auf Gesamtpraxen übertragen, ist die Festschreibung auf eine notwendige Gemeinschaft einer möglichen Verflüssigung, einem Denken des Werdens und Überschreitens, nicht zu entziehen. Der Rede von substanzieller Einheit der Gesellschaft wird dann ein prozedurales Miteinander als soziale Performanz gegenübergestellt.


Während Foucault und Rorty den nietzscheanischen Ethos der Selbsterschaffung als politische, alternative und transgressive Arbeit begreifen, sie die Identitäten vervielfachen, Solidarität und Heterotopie entwickeln, setzen Philosophen wie Jean-Luc Nancy oder Giorgio Agamben scheinbar auf eine diametral entgegengesetzte Strategie. Foucault untergräbt die Logik des Politischen sozusagen in der Produktion der Mannigfaltigkeit radikal, indem er die Logik der Selbstbildung tendenziell ad absurdum treibt. Rorty hat als einer der ersten Theoretiker einer liberal-ironischen Utopie Ausdruck verliehen, in welcher Solidarität universalistische Grundlegungen ersetzt. Droht hier ein Widerspruch wenn Nancy an einem Konzept der undarstellbaren, entwerkten Gemeinschaft arbeitet? Ebenso läßt sich Giorgio Agambens Idee einer wesenslosen Gemeinschaft – das heißt einer kommenden Gemeinschaft, oder der Unterbrechung der biopolitischen Maschine – nachgehen. Dann stellt sich die Frage, inwiefern es sich hier um ein gänzlich verschiedenes Projekt zu jenen von Rorty und Foucault handelt. Jaques Derrida beschreibt in „Marx’ Gespenster“ einen ähnlichen socius. Das Mitsein des Gespenstischen, des Anderen, anstelle einer Politik der Hegemonie, rückt bei ihm in den Fokus. Durch post-strukturalistische Theorien inspiriert, hat der feministische Diskurs in Gestalt der queer- und gender studies ebenfalls moderne Identitätspraxen der Homogenität der Kritik unterzogen. Doch auch hier stellt sich weiterhin die Frage nach der Kontinuität des Begehrens und dem Umgang mit ihm. Überall scheinen für uns neue Dimensionen der Debatte um Gemeinschaft sichtbar zu werden. Dieser möchten wir uns annehmen. Im Rahmen der Kopfschlag-Veranstaltungen versuchen wir einen fachübergreifenden Diskurs zu wagen, sowohl in akademisch getrennten Disziplinen wie Philosophie, (Kunst-)Geschichte, Soziologie, Wissenschaften der Politik, Kultur, Sprache und des Theaters – als auch unter der Einbeziehung von Praktikerinnen aus unterschiedlichen Richtungen. Neben Professoren und Doktorinnen wollen wir auch jungen Akademikern ein Forum intellektuellen Austausches anbieten. „Was ist Gemeinschaft?“ fragt nach dem (Un-)Wesen eben dieser. Unser Projekt möchte Umgangsweisen, Alternativen und Perspektiven des Begriffs der „Gemeinschaft“ verhandeln und wenn möglich über eine Topographie hinausgehend nach der Politizität des (individuellen) Lebens fragen.


Tobias Prüwer & Michael Wehren im Namen von Kopfschlag