Im Interview: Weyma Lübbe
EiGENSiNN: Wie beurteilen Sie die derzeitige Situation an der Uni
Leipzig bezüglich
Lehrmöglichkeiten des Personals?
LÜBBE: Zahlreiche Veranstaltungen, meist Proseminare,
sind
überfüllt. Das geht vor allem zu Lasten der schwächeren
Studierenden
- derjenigen, die noch wenig selbständig, wenig
vorgebildet, oft auch weniger spezifisch motiviert und
zunächst
sehr zurückhaltend mit eigenen Wortmeldungen sind. Philosophieren
lernt man aber nicht durch blosses Zuhören; selbständiges
Weiterdenken und auch
selbständiges Formulieren will geübt
sein. In überfüllten Veranstaltungen ist eine
gezielte
Förderung der Zurückhaltenderen praktisch nicht möglich.
Für
Dozenten, die die "schweigende Mehrheit" ungern
einfach ausblenden, ist das anstrengend. Auch in
kleineren Seminaren
wird das Lehren und Lernen schwierig, wenn die Zielsetzungen und/oder
Kompetenzen der Teilnehmer sehr heterogen sind. Das gilt zum Teil
für die Studienzwecke von Magister-
und Lehramtsstudierenden,
es gilt natürlich für das Verhältnis der "Donnerstagler"
(Weiterbildung) zu den grundständig Studierenden, aber auch
für Haupt- und
Nebenfachstudierende. Ich habe mit geschlossenen
Seminaren (z.B. nur für Lehramt, oder nur für
Weiterbildung)
gute Erfahrungen gemacht. Aber solche Trennung der Klientele kann
sich das
Institut aus Gründen der Personalknappheit kaum leisten.
Bereits jetzt wird ein zu großer Anteil
der Veranstaltungen
von (wechselnden) Lehrbeauftragten abgehalten, weil unsere Personaldecke
zu dünn ist. In einem Studium mit wenig standardisierten Inhalten
ist das ungünstig. Hier
wäre personelle Kontinuität
wichtig und Lehrende sollten auch als Prüfende zur
Verfügung
stehen. - Alle diese Schwierigkeiten haben damit zu tun, daß
sich
das Philosophiestudium von einem Fach für speziell Motivierte
(und oft auch Begabte) zu einem
Massenfach entwickelt, ohne daß
die Personalausstattung entsprechend mitwachsen kann. Viele
Fächer
reagier(t)en auf diese Entwicklung mit Standardisierung und Verschulung
(bis
hin zu multiple-choice als Prüfungsform). Nicht alles,
aber ganz Wesentliches ginge der Philosophie
verloren, wenn auch
sie diesen Weg ginge.
Weyma Lübbe
EiGENSiNN: Würden Sie sich unter den derzeitigen Bedingungen
für ein Studium in
Leipzig entscheiden ?
LÜBBE: Das hängt ja nicht nur von der Leipziger Situation,
sondern auch von den verfügbaren Alternativen ab. Zur Zeit
wird überall gespart, aber
ich würde ceteris paribus eine
Universität mit einem günstigeren Zahlenverhältnis
von Studierenden zu Dozenten vorziehen. Ceteris paribus deshalb,
weil ich meine Studienorte
damals vor allem nach inhaltlichen Schwerpunkten
ausgesucht und, da diese sich verschoben, alle 1-2 Jahre
gewechselt
habe.
EiGENSiNN: Wer oder was hat Sie bewogen Philosophie zu
studieren?
LÜBBE: Das hat sich so ergeben. In meinem Elternhaus wurde
die
Lust am Diskutieren sehr gefördert, zugleich aber empfohlen,
ein Studium zu wählen, das einen
später auch ernährt.
In meiner Studienzeit habe ich viele Fächer ausprobiert und
ziemlich frei kombiniert. Ich hätte auch bei der Soziologie
hängen bleiben können oder
wäre, wenn ich früher
auf den Geschmack gekommen wäre, auch gerne Juristin geworden.
Als Brotstudium belegte ich aber damals VWL. Dort wurde, jedenfalls
im Grundstudium, viel
gebüffelt und wenig reflektiert. Letzteres
steigerte mein Selbstbewußtsein hinsichtlich der
Kompetenzen,
die man im Fach Philosophie erwirbt. Mit Assistentenstellen und
Stipendien
rückte dann die Hochschullaufbahn und damit die
Philosophie als Brotberuf in realistische Nähe.
Als Vorteil
bei der Philosophie empfinde ich: Man ist besonders frei, worüber
man
arbeiten und was man lesen möchte. Im Studium habe ich
alles aus Interesse, nie etwas um einer
Studienordnung willen belegt.
Aber die Philosophie alleine - nämlich so, wie sie betrieben
wurde, bevor die "angewandten" Fragen wieder wichtiger
wurden - war mir oft nicht
"welthaltig" genug. Und noch
ein Nachteil, aus meiner Sicht, vor allem im Verhältnis zur
Rechtswissenschaft: Es gibt kaum Möglichkeiten, als Hochschullehrerin
einmal
für eine Zeitlang in einen Praxisberuf zu wechseln.
Ich meine, daß es nicht gut ist, daß
diejenigen, die
von der Gesellschaft dafür bezahlt werden, über die soziale
Welt und ihre Probleme nachzudenken, diese Welt, vom Hochschulmilieu
einmal abgesehen, fast nur aus
Büchern kennen.
EiGENSiNN: Wie ist Ihr Bild von den Studierenden heute und inwiefern
hat es sich in den letzten zehn Jahren verändert?
LÜBBE: Schwierige Frage, denn
mein Bild von den Studierenden
ändert sich dauernd, ohne daß das an den Studierenden
liegen muß. Zum Beispiel ist das Bild, wenn ich neu an einer
Hochschule bin, ganz anders
(nämlich blasser und unerfreulicher)
als nach ein paar Jahren, wenn man viele Gesichter schon kennt
und
darin zu lesen gelernt hat. Es wird auch erfreulicher, je mehr man
neben der Freude
an der philosophischen Sache die Freude am Didaktischen
entwickelt. Ansonsten allenfalls(und das hängt
mit dem oben
erwähnten Massenzulauf zum Fach zusammen): die Studierenden
scheinen
mir "normaler". Man muß offenbar das Philosophiestudium
vor sich und anderen kaum noch
dadurch rechtfertigen, daß
man sich als genial oder jedenfalls als tiefsinnig stilisiert.
EiGENSiNN: Was hat sie bewogen die Professur in Leipzig anzunehmen
und nicht in
St.Gallen?
LÜBBE: Die Hauptgründe waren privater Natur; hier die
sachlich-fachlichen: Die Universität St. Gallen ist aus einer
Handelshochschule entstanden, und das
ist sie nach Personal und
Studiengängen sowie nach dem Stellenwert der Forschung im Verhältnis
zur Berufsausbildung bis heute. Ich hätte sehr viele Außenkontakte
gebraucht,
um den vereinseitigen Einfluß des Ortes auf meine
Arbeit zu kompensieren. Nachträglich bin ich
auch aus anderen
Gründen froh, daß ich so entschieden habe: Auch wenn
ein
voller philosophischer Institutsbetrieb mit seinen zahlreichen
Aufgaben und Verantwortlichkeiten seine
Lästigkeiten hat -
ich habe dabei sehr viel gelernt, was ich auf der Stelle in St.
Gallen nicht gelernt hätte (die Philosophie ist dort, mit nur
einer Stelle, reiner Zulieferer).
Umgekehrt: Die Universität
St. Gallen hat mich durch ihre auch institutionell verankerte
Unabhängigkeit,
ihr Selbstbewußtsein und ihre effizienten Entscheidungsstrukturen
beeindruckt. Das gilt auch für den Reformprozeß, der
damals dort gerade im Gange war und
über den ich einiges mitbekam
- ganz im Unterschied zum Reformprozeß an der Universität
Leipzig, der mich in seiner Zähigkeit und Kläglichkeit
allenfalls als
interessantes Studienobjekt beeindruckt. Im Verhältnis
zum Koloß in Leipzig wirkte die
Universität St. Gallen
wie ein kleines, aber feines Unternehmen - und das in der mir sehr
vertrauten Postkartenlandschaft der Schweizer Voralpen ... Also,
die Versuchung war schon da.
Käme eine ähnliche irgendwann
wieder und entwickeln sich die Freiräume für
Forschungsaktivitäten
in Leipzig (oder Deutschland) ungünstig, und spräche dann
auch Privates nicht zwingend dagegen - dann bin ich weg!
Weyma Lübbe
ist Professorin für praktische Philosophie an der Universität Leipzig