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Erschienen in: Ausgabe #1 vom Juli 2003


von Eugen Pissarskoi

Kann man stolz auf Deutschland sein?

Liebe Patriotinnen und Patrioten,


ich erinnere mich an eine vor ein paar Jahren hitzig geführte Diskussion über die Frage, ob man stolz auf Deutschland sein dürfe. Sie beklagten sich damals öffentlich, dass Ihre Gefühle ungerechtfertigt als „moralisch unangemessen“ abgestempelt würden und durch öffentliche Appelle suchten Sie nach Akzeptanz Ihres Stolzes Ihrem Vaterland gegenüber. In der Tat, Plausibilität konnte ich Ihrer Argumentation damals nicht absprechen: Es scheint doch seltsam zu sein, dass wir das Stolzgefühl unserer Mitbürger aus Frankreich, England und vielen anderen Ländern ihrem jeweiligen Vaterland gegenüber anstandslos akzeptieren, dasjenige der Deutschen jedoch als verwerflich bewerten. Ein Vorwurf von Ungerechtigkeit oder gar Inkonsistenz wehte damals durch die Zeilen der Feuilletons.


Meine lieben Patriotinnen und Patrioten, seit dieser Diskussion sind ein paar Jahre vergangen und diesen Zeitraum habe ich dazu genutzt, Philosophie zu studieren. Sie werden jetzt denken, dass eine intensive Beschäftigung mit Kant, Schelling, Hegel in mir die Überzeugung reifen ließ, dass man einem Land gegenüber, welches diese Geister hervorbrachte, nichts anderes als Stolz empfinden könne und dass ich daher versuchen werde zu begründen, warum dies so ist. Doch an dieser Stelle muss ich Sie enttäuschen. Oh nein, verstehen Sie mich nicht falsch. Keineswegs möchte ich bezweifeln, dass alle diese Autoren Werke geschrieben haben, welche man – freilich erst nachdem man sie verstanden hat – als „bedeutend“ einstufen müsste. Enttäuschen werde ich Sie dadurch, dass ich Ihnen zeigen werde, dass Sie mit den Äußerungen „Ich bin stolz auf Deutschland“ bzw. „Ich bin stolz darauf, deutsch zu sein“ einen klassischen Kategorienfehler begehen. Mit anderen Worten: dass Sie mit diesen Ausdrücken Unsinn erzählen [1].


Bevor ich mit der eigentlichen Argumentation beginne, möchte ich an einem eher einleuchtenden Beispiel Ihnen erläutern, was für eine Art des Fehlers Sie verüben. Dass die Aussage „Eine Primzahl fährt im Hühnerstahl Motorrad“ irgendwie seltsam ist, leuchtet uns, kompetenten Sprechern der deutschen Sprache, schnell ein. Das Seltsame in ihr besteht darin, dass sie logisch fehlerhaft ist. D.h. um ihren Wahrheitswert festzustellen, brauchen wir nicht alle Primzahlen durchzugehen und nachzuschauen, ob eine von ihnen zufällig gerade in irgendeinem Hühnerstall auf einem Motorrad herumdüst [2], sondern lediglich die Bedeutung der in der obigen Aussage vorkommenden Wörter zu kennen. „Primzahl“ bezeichnet eine Zahl, eine Zahl ist ein abstrakter Gegenstand und zur Bedeutung des Begriffswortes „Motorrad fahren“ gehört, dass ein Motorrad nicht von einem abstrakten Gegenstand gefahren werden kann. Hierin besteht also der Kategorienfehler: Eine notwendige Bedingung dafür, dass die Aussage „X fährt im Hühnerstall Motorrad“ wahr sein kann, besteht darin, dass an die Stelle von X ein Substantiv eingesetzt wird, das auf Etwas aus der Kategorie nicht-abstrakter Gegenstände referiert [3] . So ähnlich ist es auch mit dem Ausdruck „stolz sein auf Deutschland“. Damit die Aussage „stolz sein auf X“ überhaupt wahr sein kann, muss an die Stelle von X ein Substantiv eingesetzt werden, das aus einer anderen Kategorie stammt als das Substantiv „Deutschland“. Welche Kategorie es ist, möchte ich im Folgenden diskutieren.


Somit komme ich, meine lieben Patriotinnen und Patrioten, zu der Diskussion der Frage, was die eigentliche Bedeutung von dem Ausdruck „stolz sein auf etwas“ ist.


Als erstes möchte ich hervorheben, dass das Stolzsein auf einen Gegenstand impliziert, dass dieser Gegenstand eine besondere Leistung erbracht hat. Denn man kann nicht auf etwas stolz sein, was keine bzw. schlechte Leistung hervorbringt. Zum Beispiel stufen wir die Äußerung „Ich bin stolz auf meinen Bruder, einfach weil er mein Bruder ist.“ als seltsam ein. Unsere Reaktion auf sie lautet: „Du meinst, Du magst Deinen Bruder, Du hast Deinen Bruder gern. Aber mit Stolz hat das ja nichts zu tun.“ [4] Ein weiteres Beispiel soll meine Sprachintuition verstärken: „Ich bin stolz auf meinen Baum, weil er so schnell so hoch gewachsen ist.“ Hier sind wir geneigt zu sagen, dass der Sprecher dem Baum die bewusste Verantwortung und die damit verbundene Anstrengung dafür zuschreibt, dass dieser so schnell wuchs. Also: das Wort „stolz“ verwenden wir in Kontexten, in denen es darum geht, eine besondere Leistung auszuzeichnen.


An dieser Stelle möchte ich Ihnen raten, tief in sich zu gehen, und zu überlegen, ob Sie diese Prämisse wirklich akzeptieren. Denn wenn Sie es tun, werden Sie, meine lieben Patriotinnen und Patrioten, in eine große Bredouille mit Ihrem Stolz geraten. Sollte Ihnen nichts einfallen, so fragen Sie einfach ganz gewiefte Philosophiestudenten nach Rat. Daniel Santelmann wird Ihnen auch richtig gute Argumente liefern. Was ist mit der Äußerung „Ich bin stolz auf meine Nase“, wird er in seinem schlagendsten Einwand fragen, was hat das mit Leistung zu tun? Meine Antwort hierauf: In der Tat spricht der Sprecher von „Ich bin stolz auf meine Nase“ implizit eine Leistung seiner Nase zu! Um zu verdeutlichen, wie dieses – zugegeben kuriose – Phänomen geschieht, werde ich den Sprecher fragen: „Warum bist Du stolz auf Deine Nase? Was ist der Unterschied zu <<Ich bin glücklich mit meiner Nase>>?“ Ich werde ihn also nach dem deskriptiven Bedeutungsbestandteil des Begriffswortes „stolz sein“ fragen. Die Antwort, die er hierauf liefern würde, wird lauten: „Meine Nase steigert mein Selbstbewusstsein im Sinne von Selbstwertgefühl: ich komme mir toller vor, fühle mich selbstbewusster – daher bin ich nicht nur glücklich, sondern auch noch stolz“. Schüchtern werde ich an dieser Stelle darauf hinweisen, dass das „Steigern des Selbstwertgefühls“ durchaus eine Leistung ist. Der Sprecher ist also stolz auf seine Nase und nicht nur glücklich mit ihr, weil sie es schafft, sein Selbstwertgefühl zu steigern.


Der zweite Aspekt, der die Bedeutung von „stolz sein“ konstituiert, lautet: Man kann nur auf jemanden stolz sein, zu dem man einen persönlichen Bezug herstellen kann. Denn wenn wir auf jemandes Leistung stolz sein könnten, ohne einen Bezug zu dieser Person herstellen zu können, müssten wir auf alle Leistungen stolz sein, die wir anerkennen. Wir müssten dann auf alle Olympiasieger oder Fußballweltmeister stolz sein. Dies ist aber offensichtlich nicht der Fall. Wir sind auf ganz bestimmte Olympiasieger stolz. Nämlich auf diejenigen, zu denen wir einen persönlichen Bezug herstellen können; z.B. dadurch, dass sie aus dem gleichen Land kommen wie wir. Noch mehr sind wir stolz, wenn die Olympiasieger aus dem gleichen Dorf kommen oder gar mit uns verwandt sind. Je stärker der Bezug zu uns, umso deutlicher sprechen wir vom Stolz.

Das Fazit obiger Überlegungen lautet: „Ich bin stolz auf X“ bedeutet so viel wie „Ich erkenne die Leistung von X an und es gibt eine persönliche Beziehung zwischen X und mir“.


Nun frage ich Sie, liebe Patriotinnen und Patrioten, was das für eine persönliche Beziehung zwischen Ihnen und der abstrakten Idee Deutschland ist. Noch weniger verstehe ich, wie eine abstrakte Entität wie „Deutschland“ etwas leisten kann? Denn so wie keine abstrakte Entität Motorrad fahren kann, kann sie auch keine Leistungen erbringen.


Sie werden an dieser Stelle vermutlich auf den Ausdruck „Ich bin stolz auf die deutsche Fußballnationalmannschaft“ verweisen. Hierfür bin ich Ihnen dankbar, da an diesem Ausdruck der Kategorienfehler sich noch schärfer herauskristallisiert. Zum einen können wir an diesem Beispiel uns noch einmal die Wichtigkeit der Leistung für das Entstehen des Stolzgefühles vor Augen führen: Wenn die deutsche Fußballnationalmannschaft in der ersten Runde aus einem Wettbewerb ausscheidet, sind die einzigen Menschen, die vom Stolzgefühl sprechen, Zyniker: „Ich bin stolz auf die Nationalmannschaft, weil sie es immerhin in die erste Runde geschafft hat“. Aber auch sie verweisen dabei auf eine Leistung. Nun nehmen wir an, jemand sage aufrichtig: „Ich bin stolz auf die deutsche Fußballnationalmannschaft, weil sie die Fußballeuropameisterschaft gewonnen hat.“ Dieser Sprecher meint, dass er stolz auf diejenigen Personen ist, die dazu beigetragen haben, dass die deutsche Nationalmannschaft die Europameisterschaft gewinnt. Dies wird daran deutlich, dass der Fan mit seiner Äußerung nicht nur auf die elf Feldspieler, sondern auch auf die Ersatzspieler, Trainer und andere referiert. Wenn zur deutschen Nationalmannschaft der Hund des Managers dazugehörte, so würde der Fan nicht auch auf den Hund stolz sein, es sei denn er würde behaupten, dass der Hund zum Erfolg beitrug. Somit soll der zweite Aspekt deutlich werden: Zu einer Leistung gehört ein konkreter Gegenstand, der diese Leistung erbringt.


Nun werden Sie vermutlich sagen, dass Sie mit dem Ausdruck „stolz auf Deutschland“ soviel meinen wie „stolz auf das deutsche Volk“. Damit sagen Sie: „Ich erkenne die Leistungen des deutschen Volkes an und es gibt eine persönliche Beziehung zwischen dem deutschen Volk und mir“. Auf die Frage nach einer besonderen Leistung werden Sie vermutlich auf das Bruttosozialprodukt, welches das deutsche Volk generiert, oder die deutsche Literatur verweisen. Doch auch hier werde ich Sie darauf hinweisen müssen, dass das deutsche Volk nichts Konkretes ist.

Falls Sie meine Einwände verstanden haben, werden Sie sich auf die Suche nach einer einwandfreien Formulierung begeben. Zu welchem Ergebnis Sie gelangen werden, weiß ich leider nicht. Ich kann nur über einige Varianten spekulieren: „Ich bin stolz auf die Menschen, die zum deutschen Volk gehören“; oder „Ich bin stolz auf die Menschen, die auf dem Territorium der Bundesrepublik leben“; oder „Ich bin stolz auf die Menschen, die zur Entstehung der Bundesrepublik Deutschland beigetragen haben“ oder vielleicht etwas ganz anderes. Sollten Sie die erste Variante meinen, möchte ich Sie warnen, da diese Äußerung Stolzgefühle gegenüber Menschen einschließt, deren Leistungen wir für verwerflich halten. Wenn jedoch die zweite oder die dritte Variante Ihre Gefühle am besten zum Ausdruck bringt, so möchte ich vorschlagen, dass Sie diese auch verwenden. Abgesehen davon, dass Sie auf diese Weise eine sinnvolle Äußerung aussprechen würden, wird damit auch noch der Verdacht des Missverständnisses beseitigt, Ihr Patriotismus grenze unsere ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger aus.


Sollten Sie aber trotz meiner Argumente bei der Äußerung „stolz auf Deutschland“ bleiben wollen mit der Begründung, das philosophische Gequassel ändere nichts an der Tatsache, dass viele Mitbürgerinnen und Mitbürger Ihre Aussage verstünden, möchte ich Sie daran erinnern, wie sie verstanden wird. Nämlich auf die gleiche Art und Weise wie wir den Ausdruck „Eine Primzahl fährt im Hühnerstall Motorrad“ verstehen. Ich kann mir darunter sogar eine wunderschöne Dreiundzwanzig auf einer gelben Ducati zwischen aufgebrachten Hühnern vorstellen. Es begleitet jedoch stets ein Schmunzeln meine Vorstellung, was dafür spricht, dass ich die Äußerung des Sprechers nicht ernst nehmen kann. Wenn Sie also als „nicht ernst gemeint“ verstanden werden möchten, spricht nichts dagegen, dass Sie weiterhin von Ihrem Stolz auf Deutschland reden.


Hochachtungsvoll,
Ihr Eugen Pissarskoi


Fussnote

[1] Sollte es ein Trostpflaster für Sie sein, so gilt der Vorwurf des Begehens eines Kategorienfehlers auch für die französischen, englischen und alle anderen Patrioten, welche ihr Gefühl mit dem Stolz auf ihr jeweiliges Land beschreiben.
[2] Demjenigen, der der Logik nicht traut und sich doch lieber empirisch vergewissern möchte, empfehle ich, nicht mit dem Durchgehen der Primzahlen anzufangen, sondern stattdessen alle Hühnerställe zu überprüfen, ob sich dort eine Primzahl findet.
[3] Die Aussage „Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad“ ist dagegen logisch einwandfrei. Sie kann somit empirisch wahr oder falsch sein. Um ihren Wahrheitswert zu erfahren, müssen Sie, meine lieben Patriotinnen und Patrioten, Wolf Biermann fragen.
[4] Hierbei halten wir das Brudersein für keine Leistung, denn es ist nichts, für das man etwas tut.