von Lars Strotmann
Was ist Oblomowerei? - eine kurze kulturphänomenologische
EinfĂĽhrung
Es genügt ein kurzer Blick in die Hinterhöfe der Geistesgeschichte
um mit einiger Sicherheit feststellen zu können, daß
die Langeweile einen
nicht unbeträchtlichen Anteil am Grundrauschen
der Moderne hat. Gerade dieser Umstand ist es, der die
Acedia, wie
die existentielle Langeweile bis weit in die Renaissance hinein
benannt
wurde, zu einem beliebten Hort kulturphänomenologischer
Betrachtungen hat werden lassen.
Eine Schlüsselrolle muß dabei dem Christentum zugestanden
werden,
da mit dem schleichenden Prozeß des Eingangs der Acedia
in den Katalog der Hauptsünden diese
erst auf das intellektuelle
Silbertablett gehoben wurde und den unwiderstehlichen Reiz einer
verbotenen Frucht erlangte. Die mittelalterlichen Tugend- und Lasterkataloge
sind voll mit detaillierten
Ausdifferenzierungen der verschiedensten
Modi der Langeweile. Zum Glück für die Langeweile hatte
auch das Mittelalter irgendwann ein Ende, doch bleibt es für
uns „ein
eigenartiges Phänomen, diese Entwicklung der
Acedia von der Position einer verdammungswürdigen
Todsünde
zuerst auf den Status einer Krankheit hin und dann zu einer ihrem
Wesen
nach lyrischen Empfindungsweise, die als Anregungskraft für
einen großen Teil der
charakteristischen modernen Literatur
fruchtbar wurde“ (Aldous Huxley: Acedia). Maßgeblichen
Anteil an diesem Prozeß hatte die Renaissance und innerhalb
dieser Epoche waren es
vor allem Francesco Petrarca und dessen zutiefst
subjektive Analyse und Interpretation des Phänomens
moderner
Weltschmerz bzw. Selbstmitleid in seinen Gesprächen über
die
Weltverachtung.
Zur literarischen Gestalt geworden ist eben dieser Prozeß
mit Iwan Gontscharows 1859 erschienem Roman Oblomow, der eigentlich
als Teil einer
Trilogie gedacht war, durch die Genialität der
Ausgestaltung seines Protagonisten aber schon bald ein
interessantes
literaturrezeptionelles Eigenleben zu führen begann. Der Inhalt
des
Romans ist schnell erzählt: Geschildert wird das Dasein
des trägen, aber gutmütigen
Gutsbesitzers Ilja Iljitsch
Oblomow. Dieser verbringt das Gros seiner Zeit scheinbar untätig
auf dem Diwan. Ein kurzer Auszug soll an dieser Stelle genügen:
„Ilja Iljitschs Hang zum
Liegen war weder ein Erfordernis,
wie es bei einem Kranken oder bei einem Menschen, der Schlafen
möchte,
selbstverständlich ist, noch beruhte dieser Hang auf Zufall
wie bei
einem Müden, noch suchte er darin einen besonderen
Genuß zu finden wie ein
Müßiggänger etwa:
das Liegen war sein normaler Zustand...“ (Oblomow, S. 11).
Zum Fachterminus wurde die Oblomowerei jedoch erst mit einer ebenfalls
1859 publizierten Arbeit
des jungen russischen Literaturkritikers
Nikolai Dobroljubow mit dem programmatischen Titel Was ist
Oblomowerei?,
in der dieser kurz gesagt mit der Schmarotzer- respektive Ausbeutermentalität
der russischen Adeligen á la Oblomow abrechnete. Dabei verkürzte
er das Wesen der
Oblomowerei bewußt auf seine zeitgeschichtliche
Aktualität und die dieser inhärente soziale
Sprengkraft
, bot zugleich allerdings auch einen entwicklungsgeschichtlichen
Überblick über die Entstehung und Genese der Oblomowerei
in der russischen Literatur der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts
sowie eine einführende Analyse der Rolle der von Oblomow verehrten
Olga als „eine Verheißung auf das neue Leben, nicht
auf das Leben, unter
dessen Bedingungen die gegenwärtige Gesellschaft
erwachsen ist“ (Was ist Oblomowerei?, S. 52).
Seitdem geistert die Oblomowerei durch die jüngere Geistesgeschichte,
wobei allerdings klar ist, daß sich die Oblomowerei nicht
auf simples Phlegma
verkürzen läßt. Dabei ist die
Oblomowerei spätestens mit dem Aufkommen und der
Popularität
des Existentialismus zu einem als idealtypisch empfundenen Lebensentwurf
von Teilen des intellektuelle Teils der akademischen Jugend geworden,
gibt es doch in vielen
Unistädten Kneipen mit dem programmatischen
Namen Oblomow. Leider hat sich noch niemand die Mühe
gemacht,
die Ästhetik der Oblomowerei, ihre indirekte und gewissermaßen
passive Popularität sowie ihre kulturphänomenologischen
Implikationen ins Visier zu nehmen.
Eins ist aber sicher: Jeder muß sich früher oder später
mit der Oblomowerei herumschlagen, will man nicht zu einem jener
seelenlosen menschlichen Monster
degenerieren, wie sie der Franzose
Michel Houellebeq in seinen nur verdeckt autobiographischen
„Büchern“
beschreibt. Denn setzt sich der Siegeszug dieses homo houellebeq
unter den Geistesmenschen fort, dann ist bald jenes Stadium der
Entwicklung erreicht, welches die
„Aliens“ oder „grauen
Herren“ oder wer auch immer mit ihren Phrasen vom angeblich
autonomen Prozeß der Globalisierung permanent und ganz öffentlich
herbeitotalisieren wollen: Das „Ende der Geschichte“,
den Endsieg des Geldes und damit das
Stadium des ewigen und absoluten
Kapitalismus. Dann doch lieber Oblomowerei, oder etwa nicht? Oder
was?