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Erschienen in: Ausgabe #1 vom Juli 2003


von Lars Strotmann

Was ist Oblomowerei? - eine kurze kulturphänomenologische Einführung

Es genügt ein kurzer Blick in die Hinterhöfe der Geistesgeschichte um mit einiger Sicherheit feststellen zu können, daß die Langeweile einen nicht unbeträchtlichen Anteil am Grundrauschen der Moderne hat. Gerade dieser Umstand ist es, der die Acedia, wie die existentielle Langeweile bis weit in die Renaissance hinein benannt wurde, zu einem beliebten Hort kulturphänomenologischer Betrachtungen hat werden lassen.


Eine Schlüsselrolle muß dabei dem Christentum zugestanden werden, da mit dem schleichenden Prozeß des Eingangs der Acedia in den Katalog der Hauptsünden diese erst auf das intellektuelle Silbertablett gehoben wurde und den unwiderstehlichen Reiz einer verbotenen Frucht erlangte. Die mittelalterlichen Tugend- und Lasterkataloge sind voll mit detaillierten Ausdifferenzierungen der verschiedensten Modi der Langeweile. Zum Glück für die Langeweile hatte auch das Mittelalter irgendwann ein Ende, doch bleibt es für uns „ein eigenartiges Phänomen, diese Entwicklung der Acedia von der Position einer verdammungswürdigen Todsünde zuerst auf den Status einer Krankheit hin und dann zu einer ihrem Wesen nach lyrischen Empfindungsweise, die als Anregungskraft für einen großen Teil der charakteristischen modernen Literatur fruchtbar wurde“ (Aldous Huxley: Acedia). Maßgeblichen Anteil an diesem Prozeß hatte die Renaissance und innerhalb dieser Epoche waren es vor allem Francesco Petrarca und dessen zutiefst subjektive Analyse und Interpretation des Phänomens moderner Weltschmerz bzw. Selbstmitleid in seinen Gesprächen über die Weltverachtung.


Zur literarischen Gestalt geworden ist eben dieser Prozeß mit Iwan Gontscharows 1859 erschienem Roman Oblomow, der eigentlich als Teil einer Trilogie gedacht war, durch die Genialität der Ausgestaltung seines Protagonisten aber schon bald ein interessantes literaturrezeptionelles Eigenleben zu führen begann. Der Inhalt des Romans ist schnell erzählt: Geschildert wird das Dasein des trägen, aber gutmütigen Gutsbesitzers Ilja Iljitsch Oblomow. Dieser verbringt das Gros seiner Zeit scheinbar untätig auf dem Diwan. Ein kurzer Auszug soll an dieser Stelle genügen: „Ilja Iljitschs Hang zum Liegen war weder ein Erfordernis, wie es bei einem Kranken oder bei einem Menschen, der Schlafen möchte, selbstverständlich ist, noch beruhte dieser Hang auf Zufall wie bei einem Müden, noch suchte er darin einen besonderen Genuß zu finden wie ein Müßiggänger etwa: das Liegen war sein normaler Zustand...“ (Oblomow, S. 11). Zum Fachterminus wurde die Oblomowerei jedoch erst mit einer ebenfalls 1859 publizierten Arbeit des jungen russischen Literaturkritikers Nikolai Dobroljubow mit dem programmatischen Titel Was ist Oblomowerei?, in der dieser kurz gesagt mit der Schmarotzer- respektive Ausbeutermentalität der russischen Adeligen á la Oblomow abrechnete. Dabei verkürzte er das Wesen der Oblomowerei bewußt auf seine zeitgeschichtliche Aktualität und die dieser inhärente soziale Sprengkraft , bot zugleich allerdings auch einen entwicklungsgeschichtlichen Überblick über die Entstehung und Genese der Oblomowerei in der russischen Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie eine einführende Analyse der Rolle der von Oblomow verehrten Olga als „eine Verheißung auf das neue Leben, nicht auf das Leben, unter dessen Bedingungen die gegenwärtige Gesellschaft erwachsen ist“ (Was ist Oblomowerei?, S. 52).


Seitdem geistert die Oblomowerei durch die jüngere Geistesgeschichte, wobei allerdings klar ist, daß sich die Oblomowerei nicht auf simples Phlegma verkürzen läßt. Dabei ist die Oblomowerei spätestens mit dem Aufkommen und der Popularität des Existentialismus zu einem als idealtypisch empfundenen Lebensentwurf von Teilen des intellektuelle Teils der akademischen Jugend geworden, gibt es doch in vielen Unistädten Kneipen mit dem programmatischen Namen Oblomow. Leider hat sich noch niemand die Mühe gemacht, die Ästhetik der Oblomowerei, ihre indirekte und gewissermaßen passive Popularität sowie ihre kulturphänomenologischen Implikationen ins Visier zu nehmen.


Eins ist aber sicher: Jeder muß sich früher oder später mit der Oblomowerei herumschlagen, will man nicht zu einem jener seelenlosen menschlichen Monster degenerieren, wie sie der Franzose Michel Houellebeq in seinen nur verdeckt autobiographischen „Büchern“ beschreibt. Denn setzt sich der Siegeszug dieses homo houellebeq unter den Geistesmenschen fort, dann ist bald jenes Stadium der Entwicklung erreicht, welches die „Aliens“ oder „grauen Herren“ oder wer auch immer mit ihren Phrasen vom angeblich autonomen Prozeß der Globalisierung permanent und ganz öffentlich herbeitotalisieren wollen: Das „Ende der Geschichte“, den Endsieg des Geldes und damit das Stadium des ewigen und absoluten Kapitalismus. Dann doch lieber Oblomowerei, oder etwa nicht? Oder was?