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Erschienen in: Ausgabe #3 vom Juli 2004


von Julie Becker

Ein Versuch, begeisterte Frankophile (nicht) abzuschrecken?

Vorsicht ! Vor dem Lesen dieses Artikels folgende Tatsachen bitte berücksichtigen:

  • Er wurde von einer Politikwissenschaft-Studentin im 9. Semester geschrieben, die nach einem Jahr totalen Spaß am Studium und unglaublicher Freiheit an der deutschen Uni eine gewisse Verzweiflung dem Autoritarismus des französischen Bildungssystems gegenüber entwicklelt hat und in der sehr ungemütlichen Rolle der internen Kritikerin steht.

  • Da « Studieren » in Frankreich auf viele verschiedene Arten erfolgen kannt, haben die folgenden Bemerkungen nur begrenzte Gültigkeit.

  • Es gehört zu den französischen Nationaleigenschaften, nie zufrieden zu sein und schließlich bin ich ja Französin.

Anfang Mai. Vorlesungsfreie Woche zum Lernen. Wachsender Klausurenstress. Zwei Jahrhunderte Geschichte des europäischen Sozialismus, die wichtigen Ansätze der internationalen Beziehungen, die Gefahr des Populismus in den westlichen Demokratien, die Ursprünge des israelisch-palästinensischen Konflikts, Rousseaus Auffassung des « citoyen », die Ausswirkungen der Wahlen im Iran, die Feinheiten der « empeachment-procedure » in den USA und die Chronologie der französischen Sozialpolitik – das alles (und mehr) muss innerhalb von wenigen Tagen im Gehirn eingelagert werden, um dann ausgespuckt – und meistens sofort wieder vergessen – zu werden.


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In Frankreich wird viel gelernt, geprüft, aber auch vergessen


Also, ein bisschen provokativ gesagt: Studieren ist in Frankreich oft eine sehr quantitative Angelegenheit. Auswendig lernen, 2-3 Bücher in einer ganz schönen Gliederung in drei Hauptteilen und jeweils drei Unterteilen zusammenfassen, im Stande sein, ein Paar oberflächliche Aussagen zu ganz vielen verschiedenen Themen zu machen – das alles kann ein französischer Student ausgezeichnet. Nicht, dass kritischer Verstand, persönliches Interesse oder konstruktive Debatte nicht geschätzt werden, aber sie sind Luxus. Was in Frankreich zählt, ist mehr das Prestige des Diploms als dessen Inhalt. Deswegen ist auch das französische Studiensystem ziemlich kompliziert, denn es muss eine gewisse Hierarchie aufrecht erhalten werden.


Meine Aufgabe zu Völkerverständigung war ja, einen Artikel zum Thema « Was kann man in Frankreich wie studieren - ein Überblick über all die Institute und Ecoles, die nach dem Abitur zur Debatte stehen könnten » [Anmerkung der Redaktion: tatsächlich sind wir mit diesem geradezu unerhört allgemeinen thematischen Vorschlag an die Autorin herangetreten] zu schreiben. Ich versuch’s also. Zuerst muss betont werden, dass man in Frankreich nur ein Fach studiert, nur ein mal wechseln kann, in festen Jahrgängen eingeordnet wird, jedes Jahr Prüfungen bestehen muss, um ins nächste Jahr kommen zu dürfen und die überwältigende Mehrheit der Kurse nicht wählen darf (zumindest als Franzose). Im Allgemeinen studiert man auch in Frankreich kürzere Zeit als in Deutschland, aber dafür studiert ein größerer Teil der Bevölkerung. Im großen und ganzen gibt es folgende Möglichkeiten des Studiums nach dem Abi (siehe auch die offizielle Webseite www.onisep.fr ) :


  • Eine Reihe von kurzen Ausbildungen (zwei oder drei Jahre) in allen möglichen Bereichen wie die IUT (Institut Universitaire de Technologie) oder die BTS (Brevet de Technicien Supérieur), auf konkrete Berufstätigkeit ausgerichtet und meistens auf dem Arbeitsmarkt ziemlich gut anerkannt.

  • Die « classes préparatoires » (etwas wie « Vorbereitungskurse »), eine Art Elitenproduktionsanstalt (es werden nur die besten Schüler angenommen und es findet ein richtiger Konkurrenzkampf zwischen den verschiedenen Gymnasien statt, wobei die großen Pariser „classes prépa“ eindeutig die Oberhand haben). Wer diese zwei unglaublich intensiven Jahren überlebt hat (schulisch, autoritär, erschöpfend aber extrem produktiv) darf an Aufnahmeprüfungen für die sogenannten « Grandes Ecoles » teilnehmen und endlich ein bisschen aufatmen.

  • Die « normale » Uni. Jeder, der das Abi geschafft hat, darf sich theoretisch überall in Frankreich für jedes Fach im ersten Jahr einschreiben. Deswegen wird die „normale Uni“ ziemlich oft kritisiert als Oase für faule Jugendliche (was aber nicht stimmt). Das Niveau ist in allen Städten ungefähr gleich – nur hat Paris ein bisschen mehr Prestige (französischer Zentralismus…). Das Unisystem wird zur Zeit umorganisiert, um den europäischen Richtlinien zu entsprechen, was zu einem gewissen Chaos führt, aber ab übernächstem Jahr sollte es so gestaltet werden : die drei eher generellen ersten Jahre führen zur « Licence » (die muss man mit einer guten Auszeichung bestehen, will man die Wahl haben für das weitere Studium) ; die zwei nächsten Jahren heißen « Master » und sind spezialisiert (und normalerweise auch interessanter) ; schließlich kann man (wenn man dafür ein Stipendium bekommt, was immer schwieriger wird) noch drei weiteren Jahre studieren und eine Doktorarbeit schreiben. Mein Auftrag war auch, über die Möglichkeiten des « Geisteswissenschaftstudiums » in Frankreich zu schreiben, jedoch gibt es den Begriff « Geisteswissenschaft » im Französischen nicht. Man spricht also von « Sozialwissenschaften » (« sciences sociales ») und von Sprachen- und Literaturwissenschaften (« études de langues et de littérature »). Die meisten Unis werden in drei Hauptbereichen mit verschiedenen Bürokratieapparaten aufgeteilt. Manche Fächer wie Geographie, Jura oder Philosophie werden von Stadt zu Stadt anders eingeordnet.

  • Und zuletzt : ganz viele öffentliche und private, schlechte und gute Ecoles und Institute, die unterschiedliche Statuten haben (z.B. : Kommerzschulen, Physiotherapeutausbildungen, Politikwissenschaftinstituten…).

Ich fürchte, dass das Ganze jetzt auch nicht viel klarer geworden ist. Da ich begeisterte Frankophile nicht abschrecken möchte, würde ich also raten : wer an einer Grande Ecole studieren kann, sollte die Gelegenheit ergreifen ; wer an der Uni studieren möchte, kann sich dank des ziemlich breiten Spielraums der Austauschstudenten ein nettes Jahr gestalten ; wer sein Auslandsjahr ausnützen möchte, um sich ein bisschen zu spezialisieren, sollte in Richtung Masters suchen, denn viele sind recht interessant ; wer sich nicht zu sehr anstrengen möchte kann’s im Rahmen der ersten Unijahre auch gemütlich organisieren…