von Julie
Becker
Ein Versuch, begeisterte Frankophile (nicht) abzuschrecken?
Vorsicht ! Vor dem Lesen dieses Artikels folgende
Tatsachen
bitte berücksichtigen:
-
Er wurde von einer
Politikwissenschaft-Studentin im 9.
Semester geschrieben, die nach einem Jahr totalen Spaß
am Studium und unglaublicher Freiheit an der deutschen Uni eine
gewisse Verzweiflung dem
Autoritarismus des französischen
Bildungssystems gegenüber entwicklelt hat und in der sehr
ungemütlichen Rolle der internen Kritikerin steht.
-
Da « Studieren » in Frankreich auf viele verschiedene
Arten erfolgen kannt, haben die folgenden Bemerkungen nur begrenzte
Gültigkeit.
-
Es
gehört zu den französischen Nationaleigenschaften,
nie zufrieden zu sein und
schließlich bin ich ja Französin.
Anfang Mai. Vorlesungsfreie Woche zum Lernen. Wachsender
Klausurenstress. Zwei
Jahrhunderte Geschichte des europäischen
Sozialismus, die wichtigen Ansätze der internationalen
Beziehungen,
die Gefahr des Populismus in den westlichen Demokratien, die Ursprünge
des israelisch-palästinensischen Konflikts, Rousseaus Auffassung
des « citoyen », die
Ausswirkungen der Wahlen im Iran,
die Feinheiten der « empeachment-procedure » in den
USA und die Chronologie der französischen Sozialpolitik –
das alles (und mehr)
muss innerhalb von wenigen Tagen im Gehirn
eingelagert werden, um dann ausgespuckt – und meistens
sofort
wieder vergessen – zu werden.
In Frankreich wird viel gelernt, geprüft, aber auch vergessen
Also,
ein bisschen provokativ gesagt: Studieren
ist in Frankreich oft eine sehr quantitative Angelegenheit.
Auswendig
lernen, 2-3 Bücher in einer ganz schönen Gliederung
in drei
Hauptteilen und jeweils drei Unterteilen zusammenfassen,
im Stande sein, ein Paar oberflächliche
Aussagen zu ganz
vielen verschiedenen Themen zu machen – das alles kann ein
französischer Student ausgezeichnet. Nicht, dass kritischer
Verstand, persönliches Interesse
oder konstruktive Debatte
nicht geschätzt werden, aber sie sind Luxus. Was in Frankreich
zählt, ist mehr das Prestige des Diploms als dessen Inhalt.
Deswegen ist auch das
französische Studiensystem ziemlich
kompliziert, denn es muss eine gewisse Hierarchie aufrecht
erhalten
werden.
Meine Aufgabe zu
Völkerverständigung war
ja, einen Artikel zum Thema « Was kann man in Frankreich
wie studieren - ein Überblick über all die Institute
und Ecoles, die nach dem Abitur
zur Debatte stehen könnten
» [Anmerkung der Redaktion:
tatsächlich sind
wir mit diesem geradezu unerhört allgemeinen
thematischen Vorschlag an die Autorin herangetreten] zu
schreiben. Ich versuch’s
also. Zuerst muss betont werden, dass man in Frankreich nur ein
Fach studiert, nur ein mal wechseln kann, in festen Jahrgängen
eingeordnet wird, jedes Jahr
Prüfungen bestehen muss, um
ins nächste Jahr kommen zu dürfen und die
überwältigende
Mehrheit der Kurse nicht wählen darf (zumindest als Franzose).
Im Allgemeinen studiert man auch in Frankreich kürzere Zeit
als in Deutschland, aber
dafür studiert ein größerer
Teil der Bevölkerung. Im großen und ganzen gibt es
folgende Möglichkeiten des Studiums nach dem Abi (siehe auch
die offizielle
Webseite www.onisep.fr ) :
-
Eine Reihe von kurzen Ausbildungen (zwei oder
drei Jahre) in allen möglichen Bereichen wie
die IUT (Institut
Universitaire de Technologie) oder die BTS (Brevet de Technicien
Supérieur), auf konkrete Berufstätigkeit ausgerichtet
und meistens auf dem Arbeitsmarkt
ziemlich gut anerkannt.
-
Die « classes
préparatoires »
(etwas wie « Vorbereitungskurse »), eine Art
Elitenproduktionsanstalt
(es werden nur die besten Schüler angenommen und es findet
ein richtiger Konkurrenzkampf zwischen den verschiedenen Gymnasien
statt, wobei die großen
Pariser „classes prépa“
eindeutig die Oberhand haben). Wer diese zwei unglaublich
intensiven
Jahren überlebt hat (schulisch, autoritär, erschöpfend
aber extrem produktiv) darf an Aufnahmeprüfungen für
die sogenannten « Grandes Ecoles
» teilnehmen und
endlich ein bisschen aufatmen.
-
Die « normale » Uni. Jeder, der das
Abi geschafft hat, darf
sich theoretisch überall in Frankreich
für jedes Fach im ersten Jahr einschreiben. Deswegen
wird
die „normale Uni“ ziemlich oft kritisiert als Oase
für
faule Jugendliche (was aber nicht stimmt). Das Niveau
ist in allen Städten ungefähr gleich
– nur hat
Paris ein bisschen mehr Prestige (französischer Zentralismus…).
Das Unisystem wird zur Zeit umorganisiert, um den europäischen
Richtlinien zu
entsprechen, was zu einem gewissen Chaos führt,
aber ab übernächstem Jahr sollte es so
gestaltet werden
: die drei eher generellen ersten Jahre führen zur «
Licence » (die muss man mit einer guten Auszeichung bestehen,
will man die Wahl haben für
das weitere Studium) ; die
zwei nächsten Jahren heißen « Master »
und sind spezialisiert (und normalerweise auch interessanter)
; schließlich kann man (wenn
man dafür ein Stipendium
bekommt, was immer schwieriger wird) noch drei weiteren Jahre
studieren und eine Doktorarbeit schreiben. Mein Auftrag war
auch, über die
Möglichkeiten des « Geisteswissenschaftstudiums
» in Frankreich zu schreiben, jedoch
gibt es den Begriff
« Geisteswissenschaft » im Französischen nicht.
Man spricht also von « Sozialwissenschaften » («
sciences sociales ») und
von Sprachen- und Literaturwissenschaften
(« études de langues et de littérature
»).
Die meisten Unis werden in drei Hauptbereichen mit verschiedenen
Bürokratieapparaten aufgeteilt. Manche Fächer wie
Geographie, Jura oder Philosophie werden
von Stadt zu Stadt
anders eingeordnet.
-
Und zuletzt : ganz viele öffentliche und
private, schlechte und gute Ecoles und
Institute, die unterschiedliche
Statuten haben (z.B. : Kommerzschulen, Physiotherapeutausbildungen,
Politikwissenschaftinstituten…).
Ich fürchte, dass das Ganze
jetzt auch nicht viel klarer geworden ist. Da
ich begeisterte Frankophile
nicht abschrecken möchte, würde ich also raten : wer an
einer Grande Ecole studieren kann, sollte die Gelegenheit ergreifen
; wer an der Uni studieren
möchte, kann sich dank des ziemlich
breiten Spielraums der Austauschstudenten ein nettes Jahr
gestalten
; wer sein Auslandsjahr ausnützen möchte, um sich ein
bisschen zu
spezialisieren, sollte in Richtung Masters suchen, denn
viele sind recht interessant ; wer sich nicht zu
sehr anstrengen
möchte kann’s im Rahmen der ersten Unijahre auch gemütlich
organisieren…