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Erschienen in: Ausgabe #3 vom Juli 2004


von Daniel Santelmann und Sven-Uwe Janietz

Die Schule der Elite

Mangelhaft motivierte Studenten, im Durchschnitt viel zu hohe Semesterzahlen und das Fehlen einer echten Elite sind Vorwürfe, denen sich das deutsche Studiensystem nicht erst seit kurzem ausgesetzt sieht. Jedoch mehrt sich die Häufigkeit und Intensität beträchtlich, seit es immer weniger überzeugt, der Abwanderung der Wirtschaft ins billigere Ausland die deutsche „Technologieführerschaft“ und den Glauben an die Kreation innovativer Industriezweige entgegenzusetzen. Eine Hochschulreform wird von allen verlangt, was darunter verstanden wird, divergiert erheblich. Was hat das mit Frankreich zu tun? In Frankreich wird die Regelstudienzeit kaum überschritten, die Absolventen sind wesentlich jünger und schon gar nicht fehlt es an Elite. Was die intrinsische Motivation der französischen Studenten betrifft, so ist sie der ihrer deutschen Kommilitonen zweifellos nicht unähnlich (gut oder schlecht) doch das Reglement unseres Nachbarlandes zwingt entschieden stärker zur Leistung. Frankreich sammelt schon seit Jahrzehnten Erfahrungen mit Elitehochschulen und einem insgesamt weitaus verschulteren Universitätssystem, da lohnt schon mal der Blick in den Westen, nicht zuletzt, um zu schauen was eventuell auch auf uns zukommen könnte.


An den normalen Universitäten Frankreichs sind etwa 2 Millionen Studenten eingeschrieben, während an den 187 finanziell bedeutend besser ausgestatteten Grandes Ecoles, die zudem einen Ruf haben, der „Karrieretüren öffnet“, rund 120.000 junge Leute lernen was das Zeug hält.


Das Prestige, was ein Grande Ecole-Studium mit sich bringt, ist nicht zu unterschätzen, denn die beruflichen Aussichten der Absolventen sind blendend. Im Durchschnitt finden über 90 Prozent von ihnen umgehend eine feste Stelle, meist in gehobener Position und mit ausgezeichneter Bezahlung. So absolvierten beispielsweise zwei von drei der letzten Staatspräsidenten, sowie drei der letzten vier Premierminister die Ecole National d’Administration (ENA), die Ausbildungsstätte der politischen Elite Frankreichs. Die „Enarquen“ sind dermassen präsent in der französischen Verwaltung, dass man nicht selten den Ausdruck „Enarchismus“ zu hören bekommt. Die wichtigsten Grandes Ecoles, wie etwa jene ENA oder die „Polytechnique“ (für Naturwissenschaftler und Ingenieure) oder die Ecole Normale Superieure (Eliteschule für Geisteswissenschaftler) sind im übrigen staatlich und nicht privat.


Staatlich sind auch die klassischen Universitäten, was aber auch fast schon die einzige Gemeinsamkeit ist, die sie mit den oben genannten Grandes Ecoles haben. Die finanzielle Situation ist dort nämlich, und das dürfte nun wiederum uns deutschen Studenten bekannt vorkommen, nicht eben rosig. Das hat eine bescheidene Ausstattung zur Folge, technisch wie personell, der Studierende droht im Massenbetrieb unterzugehen. In Frankreich wird sogar noch ein Viertel weniger Geld pro Student ausgegeben, als in Deutschland. Während die Universitäten ein kostenfreies Studium anbieten, verlangen die meisten Grandes Ecoles Studiengebühren, außerdem erhalten sie im Vergleich zur Uni rund dreimal soviel staatliche Bezuschussung pro Student.


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Die weltbekannte Sorbonne zählt nur noch zur zweiten Klasse


Es ist wohl nicht übertrieben von einem institutionalisierten Zweiklassensystem im französischen Hochschulbereich zu sprechen - so schafft man auf alle Fälle eine Elite. Wer „erste Klasse“ studieren darf wird nach dem Leistungsprinzip entschieden.


Zur Fotoserie "Sorbonne in Paris"


Wir erkennen an, dass das Leistungsprinzip in gewissem Sinne Chancengleichheit anstrebt, ob es das indessen garantieren kann, darf bezweifelt werden. Die Leistung der Schüler zeigt eine nicht geringe Proportionalität zum Bildungsniveau des Elternhauses. Zudem kann, wer sich auskennt, verschiedene Kniffe anwenden, um sein Kind auf die Bahn der Elite zu schicken. Denn bereits bei den ebenfalls sehr elitären Classes Préparatoires, die die Bacheliers (Abiturienten) auf die Grandes Ecoles vorbereiten sollen, und nicht zuletzt bei den Schulen gibt es deutliche Niveauunterschiede. Die Prüfung zum Baccalauréat ist landesweit die gleiche und eine schlechte Schule mit einem guten Bac zu beenden stellt eine erhöhte Schwierigkeit dar.


Neben dem elitären Charakter zeichnet das französische Schulsystem ein hoher Grad von Verschulung aus. Überall herrscht der Frontalunterricht und bereits früh in der Schule lernen die Schüler vor allem eins: Alles mitzuschreiben, was der Lehrer in nicht enden wollendem Monolog von sich gibt. Der Monolog endet auch an der Uni und bei uns dialogisch orientierten Fächern wie Philosophie nicht. Es gibt es keine Seminare, sondern ausschließlich Vorlesungen, zudem ist der Stundenplan vorgegeben, die Wahlmöglichkeiten sind minimal. Am Ende des Semesters wird man zu jeder Veranstaltung geprüft, dann sind Ferien und man vergisst den Stoff; Hausarbeiten werden auch in den Geisteswissenschaften nicht geschrieben.


Das hat aber nicht nur Nachteile: Führt die Einbeziehung und die Freiheit der Studenten in Deutschland immer wieder zu niedrigem Niveau der Seminare, weil sich keiner richtig vorbereitet hat, ist in Frankreich durch den Monolog des Dozenten ein gewisses Niveau garantiert.


Was aber sicherlich leidet ist der für geisteswissenschaftliche Disziplinen unerlässliche diskursive Charakter. Die französischen Studenten lernen eine breite Basis von Theorien kennen, doch an Punkten, an denen es wirklich schwierig wird und sie allein durch Lektüre nicht mehr weiterkommen, hört ihr Wissen auf. Haben deutsch Dozenten oft die Absicht, den Studenten im Dialog das Handwerkszeug der Analyse und des Verstehens schwieriger Texte und Theorien zu vermitteln, was dann durch wissenschaftliche Hausarbeiten praktiziert und getestet wird, ist für solche Ziele im französischen System wenig Platz.


Das hat verschiedene Auswirkungen:


Zum einen sind die französischen Studenten nicht gut auf die Forschungstätigkeit vorbereitet, müssen vieles erst erlernen, wenn sie sich für eine Laufbahn an der Uni entscheiden. Die Eliteschulen, die bessere Unterrichtsbedingungen vorweisen, sind nicht viel mehr auf wissenschaftlichen Dialog ausgerichtet, da sie nicht auf die Forschung, sondern auf den praktischen Beruf vorbereiten.


Zum anderen scheinen sie manchmal generell etwas weniger selbstständig zu sein. So wie in der Schule von außen bestimmt wird, womit man sich zu beschäftigen hat, bleibt man auch in der Uni weitgehend passiv. Die ganze Maschinerie des französischen Ausbildungssystems mit ihren vielen Regeln macht den Studenten zu einem ihrer Zahnräder, während der deutsche Student seinen Weg vergleichsweise selbstbestimmt gehen kann. Sicherlich stellt diese Selbstbestimmtheit für einige deutsche Studenten auch ein Problem dar, einigen gelingt es nicht, die Strukturierung selbst in die Hand zu nehmen, und sie wären froh über klarere Vorgaben von außen. Doch scheint mir solche Selbstständigkeit es wert zu sein, gelernt zu werden. So hat die Strenge des Systems bei den französischen Studenten verschiedene Folgen: Sie entwickeln weniger eigene Projekte, Berufsideen, oder eigene Lebensentwürfe. Sie sind weniger politisch und gehen weniger ins Ausland als die deutschen Studenten. Vielfach suchen sie einen Ausgleich zu den Engen des Bildungssystems in der Kultur, in Musik, Theater oder Kunst. Jedoch stellt dies eher eine unabhängige Gegenwelt dar, es gibt weniger fruchtbare Verbindung von Kreativität und Beruf, von Eigeninitiative und Arbeitswelt.


Wird in der Diskussion um eine deutsche Hochschulreform also Frankreich als Vorbild herangezogen, so ist dies mit Vorsicht zu genießen. Ein möglicher Gewinn an Effizienz und kürzere Studienzeiten stehen einem Verlust an Eigenständigkeit und starker Ungleichheit durch Elitenbildung gegenüber.