Nachgefragt bei Ulrich Johannes Schneider
EiGENSiNN: In Ihrem Lebenslauf steht, Sie kommen aus Frankfurt,
wohnen in Berlin, haben
unter anderem in Paris studiert. Wie kam
Paris und damit Frankreich zustande?
SCHNEIDER: Ich habe mein Studium in Frankfurt a.M. begonnen und
bin nach der
Zwischenprüfung – vor allem wegen meiner
Nebenfächer Germanistik und Musikwissenschaft
– nach
Berlin an die Technische Universität gewechselt, aber auch
weil ich aus
Frankfurt weg wollte. Damals war ich sehr interessiert
an dem, was in englischer Sprache geschrieben und
gedacht wurde.
Das hat sich dann sehr schnell verloren. Ich habe gemerkt, dass
ich mich
weit mehr für französische Philosophen interessiere.
Ich habe dann im Hauptstudium angefangen,
Französisch zu lernen,
was ich auf der Schule zwar hatte, aber sehr lustlos betrieb. So
kam es dann relativ rasch zu einer Umorientierung.
1980 hatte ich die Gelegenheit, mit einem
Stipendium der Studienstiftung
irgendwo hinzugehen. Nachdem ich eigentlich schon Pläne für
England geschmiedet hatte, bin ich dann nach Frankreich gegangen.
Ich habe mein Französisch
verbessert und wollte eigentlich
gar nicht mit der Philosophie weitermachen, sondern als Journalist
arbeiten. Mit anderen Leuten habe ich gemeinsam eine Zeitschrift
gegründet und in den Sand
gesetzt, weil eben doch das Geld
fehlte. Ich bin zur Philosophie zurückgekehrt, als ich Michel
Foucault las und hörte.
Ulrich Johannes Schneider
EiGENSiNN: Wann
waren Sie in Frankreich und wie lange?
SCHNEIDER: Erstmal 1980 für 1 Jahr. Damals war ich 24
und
frisch magistriert. Das war relativ früh und ich war offen
für Neues. Nach
meinem Frankreichaufenthalt – ich konnte
nur ein Jahr bleiben, weil danach absolut kein Geld mehr da
war
– bin ich nach Frankfurt zurückgekehrt, zu meinen Eltern.
Ich habe als
Journalist beim „Hessischen Rundfunk“ gearbeitet,
um ein bisschen Geld zu verdienen, aber da
meine Interessen in der
Philosophie stärker waren, habe ich ein Dissertationsprojekt
ausgearbeitet und mit dem bin ich wieder nach Berlin gegangen.
EiGENSiNN: Was war das für ein
Dissertationsprojekt?
SCHNEIDER: Das war ein Projekt zu einer Arbeit, die für die
Geisteswissenschaften das leisten sollte, was Michel Foucault mit
der „Ordnung der Dinge“
für die Humanwissenschaften
getan hat. So eine Art Rekonstruktion des Weltverständnisses
in diesen Wissenschaften. Die Skizze, die ich damals vorgelegt habe,
handelte über das 19.
Jahrhundert. Das Buch, das nachher herauskam,
hat die Vorgeschichte dieses 19. Jahrhunderts thematisiert.
Der
Akzent hat sich dann noch einmal verschoben und sich beschränkt
auf die
Geschichte der Philosophiegeschichte. Es ist auch nicht
annährend so etwas Großartiges geworden
wie die „Ordnung
der Dinge“, aber es war ein Buch, das mich über die Geschichte
der Philosophie wieder zur Philosophie gebracht hat.
EiGENSiNN: Sie haben nach dem Studium
in Frankreich gearbeitet.
Wie waren Ihre Erfahrungen?
SCHNEIDER: Ich habe zum
Geldverdienen Deutschunterricht gegeben,
dafür musste ich sehr früh aufstehen. Ich habe mir
dafür
einen Wecker gekauft, den ich neulich erst verloren habe. Dieser
hat mich
immer daran erinnert, dass ich damals in Paris sehr früh
aufstehen musste, um in irgendeinen Vorort zu
fahren und irgendwelche
traurigen Franzosen, die von einer deutschen Firma gekauft worden
waren, im Deutschen zu unterrichten. Denn mit dem bescheidenen Stipendium
von 300 oder 400 DM konnte man in
Paris nicht viel machen. Ich habe
in so einer „chambre de bonne“ ohne Telefon und Klingel
gewohnt. Zum Schluss, als mein Geld definitiv alle war, war es so,
dass ich im „Parc
Monceau“ einem Leberstück hinterher
getrauert habe, das eine alte Dame der Katze hingeworfen
hatte –
denn ich konnte mir diese Leber nicht mehr leisten. Ansonsten habe
ich in
der ersten Hälfte meines Aufenthaltes versucht, gemeinsam
mit anderen Leuten, eine
deutsch-französische Zeitschrift zu
gründen. Auch wenn diese Zeitschrift letztlich niemals
herausgekommen
ist, habe ich doch sehr viele Freunde aus der Zeit bis heute behalten.
In
der zweiten Hälfte dann, ab Januar 1981, also recht spät,
habe ich an mehreren Universitäten
als „auditeur libre“
richtiggehend studiert. Damals war das mit der Annerkennung
wechselseitiger
Grade noch nicht so weit gediehen, was mich auch nicht so sehr gekümmert
hat, weil ich aus der Philosophie aussteigen wollte. Ich habe an
der Universität „Paris
VIII“ François Châtelet
gehört, leider aber nicht Deleuze, Lyotard und Derrida, die
alle Kantseminare angeboten haben und ich dachte: „Kant kenne
ich schon“
– heute weiß ich, dass ich davon profitiert
hätte. Ich habe dann noch bei Foucault selbst
gehört und
bei verschiedenen anderen Dozenten am „Collège de France“.
EiGENSiNN: War Ihnen damals schon klar, dass Sie an der Universität
unterrichten
wollen?
SCHNEIDER: Damals war mir eher klar, dass ich die Universität
aus
verschiedenen Gründen verlassen will: Meine eigene Magisterarbeit
hat mir nicht gefallen. Ich fand,
dass ich ein System im Denken
und im Schreiben exekutiert habe, das gar nicht mein eigenes war.
Erst als ich dann ein wenig mehr Französisch sprechen konnte
und Foucault las, ist mir klar
geworden, dass es auch anders geht.
Mir wurde klar, dass man die Geschichte der Philosophie nicht im
allerengsten Sinne betreiben muss. Mithilfe dieses Gedanken habe
ich, als ich wieder in
Deutschland war, obwohl ich zu dieser Zeit
auch als Journalist gearbeitet habe, versucht, ein
Dissertationsprojekt
zu entwerfen. Ich bekam sogar eine Stelle und ein Stipendium. Ohne
Unterstützung einerseits von den Professoren und andererseits
von den Geldgebern wäre es
vielleicht nichts geworden. 1983
hatte ich dann die Möglichkeit, eine Zweidrittelstelle für
fünf Jahre (eine Assistentenstelle für Nichtpromovierte)
an der TU Berlin anzutreten,
mein Stipendium musste ich wieder zurückgeben.
In diesem Zeitraum (1983-1988) habe ich
promoviert.
EiGENSiNN: Was sind Ihrer Meinung nach Unterschiede und Gemeinsamkeiten
des Studiums an einer französischen und an einer deutschen
Universität?
SCHNEIDER: Das frage ich mich bis heute. Die Unterschiede sind
ganz eklatant. Wenn man in
eine französische Vorlesung geht,
sieht man, dass die Leute dort sehr schülerhaft lernen. So
kommt es einem jedenfalls vor, wenn man aus Deutschland kommt. Sie
schreiben fleißig
mit, was der Dozent sagt, und der Dozent
steht ganz offensichtlich unter dem enormen Druck, einen sehr
magistralen
Diskurs abzuliefern, definitives Wissen in einprägsamen Formulierungen
vorzutragen. Das ist so gut, wie der Dozent gut ist. Und ich habe
sehr gute Dozenten erlebt. Ich habe aber
auch nicht so gute Dozenten
erlebt.
EiGENSiNN: Haben Sie auch versucht, an
Diskussionen in Seminaren
teilzunehmen?
SCHNEIDER: Ja, das habe ich versucht,
das ist aber nicht gut angekommen.
In einem Seminar am „Collège de France“ hat jemand
über Hobbes eine Sitzung gestaltet. Vieles von dem, was er
vortrug, war nicht
richtig, unter anderem das Geburtsdatum. Es war
von Fehlern und von Unrichtigkeiten durchsetzt. Ich habe
mich einfach
gemeldet, und völlig erstaunt wurde ich dann auch drangenommen.
Als ich
dann sagte "Das und das stimmt nicht!", konnte
damit weder der Dozent noch die Studenten
irgendwie umgehen. Der
Dozent hat dann einfach gesagt "Vielen Dank!" und hat
weitergeredet. Weil die Stunde noch nicht um war, hat er sich wiederholt
– wie eine Schallplatte. Es
war etwas bizarr. Zu erwähnen
ist aber: Am Ende des französischen Unterrichtssystems stehen
wie im deutschen sehr ähnliche Fähigkeiten und Befähigungen.
Wenn man sich mit
französischen Absolventen, mit Promovierenden
und Promovierten des französischen Systems
unterhält,
ist der Unterschied des Wissens und auch des Schreibens nicht mehr
so
groß. Wie unterschiedlich Bildungssysteme auch immer sind
– und man könnte auch das
italienische hinzunehmen, was
so ähnlich wie das französische ist, oder das ganz andere
englische – läuft alles am Ende auf etwas Vergleichbares
hinaus.
EiGENSiNN: Hat Ihnen ihr deutsches Philosophie-Grundstudium an
der französischen
Universität weiter geholfen?
SCHNEIDER: Viele berühmte Philosophen behandelten damals
Kant,
und allgemein ist die deutsche Philosophie traditionell in Frankreich
stark
vertreten. Englische Philosophie, Logik, Analytische Philosophie
gehörte nicht so sehr zum Kanon der
Philosophie. Mich selber
hat die "Philosophie der Philosophie" wenig interessiert,
eher die Philosophie bestimmter Thematiken und Probleme, so wie
man sie bei Focault findet:
Kriminalität, Sexualität,
griechische Ethik, also alles was eher am Rande der Philosophie
angesiedelt ist und nicht in der Mitte wie das Evidenzproblem bei
Husserl oder Dasein bei
Heidegger.
EiGENSiNN: Sie arbeiten unter anderem bei der „Deutschen
Gesellschaft für französische Philosophie“. Wie
wird deutsche Philosophie in Frankreich und
umgekehrt französische
Philosophie in Deutschland rezipiert?
SCHNEIDER:
Ich habe keinen besonders guten Überblick über
das, was in Frankreich läuft. In Paris selber
gibt es sehr
unterschiedliche Agenturen des philosophischen Diskurses. Einerseits
die
Universitäten, darunter wieder die Sorbonne mit einem relativ
traditionellen Programm, und auf der
anderen Seite "Paris VIII",
die Experimentaluniversität in Saint Denis – diese beiden
haben ein abweichendes Programm. Daneben gibt es inzwischen seit
Beginn der Achtziger
Jahre auch das "Collège International
de Philosophie" mit einem freien Programm. Dort gibt
es Angebote
zur Philosophie der Arbeitslosigkeit und ähnliches - viele
Sachen am
Grenzbereich zwischen Künsten und Philosophie. So
dass das Angebot in Paris sehr breit ist. Allerdings
ist der Unterricht
viel stärker als in Deutschland auf das Kanonische ausgerichtet.
EiGENSiNN: Sie sind Projektleiter an der „Herzog August Bibliothek“
in
Wolfenbüttel, einer der ältesten Bibliotheken in Europa.
Sie leben in Berlin, arbeiten als Dozent
in Leipzig, im Internet
liest man von Tagungen, auf denen Sie vortragen, die Sie organisieren
oder an denen Sie teilnehmen. Sie sind viel unterwegs. Lieben Sie
Reisen und Unterwegssein oder ist das
nur Beigabe ihres Lebens?
Was heißt es für Sie, unterwegs zu sein?
SCHNEIDER: "Unterwegs zu sein" heißt für mich,
im Zug zu sitzen, ohne
Telefon, nicht erreichbar zu sein und endlich
in Ruhe lesen zu können. Ansonsten bin ich durch meine
Tätigkeit
in Wolfenbüttel verpflichtet, auch dort zu leben. Berlin ist
nur noch
auf das Wochenende reduziert, wenn überhaupt. Den
vielen Aktivitäten, denen ich schon seit meiner
Zeit als Assistent
sowohl in Berlin als auch in Leipzig in den 90er Jahren nachgegangen
bin, verdanke ich die Überzeugung, dass das Gespräch unter
Philosophen mitunter interessanter ist
als der Wettbewerb der Schriften.
Da es in der Philosophie viele einseitige Ausrichtungen gibt, die
schlichtweg daran leiden, dass man sich gegenseitig zu wenig zur
Kenntnis nimmt, sind Kolloquien
immer gut. Auch internationale Veranstaltungen
sind ein sehr guter Weg, um gegenseitige
Wahrnehmungsdefizite aufzuheben.
Und das läuft weit besser über persönliche Kontakte.
Als Vorsitzender der „Deutschen Gesellschaft für französische
Philosophie“ – ein Job, den ich übernommen habe,
weil ich die Idee des Vereins gut
finde, aber eigentlich zu wenig
Zeit dafür habe – habe ich jüngst eine Tagung in
Berlin organisiert, die sehr gut gelaufen ist, unter anderem aus
dem Grund, weil es Leute gab, die
bereit waren, den anderen zu zuhören,
freundlich zu kritisieren und Äußerungen als
Beiträge
zu einem Gespräch aufzufassen und nicht als bloße Elemente
in
einem Diskursuniversum. Dieser Anspruch von Philosophen, etwas
Letztgültiges zu sagen, hat mich
eigentlich immer schon genervt.
Besonders erstaunlich ist er wegen seiner geschichtlichen Entwicklung,
die ja deutlich zeigt, dass es in der Philosophie am allerwenigsten
Einigkeit geben kann, und
zwar von Anfang an: Wir wissen von keiner
langfristigen dogmatischen Verhärtung im philosophischen
Leben
des Abendlandes, übrigens auch nicht außerhalb. Überall
gab es
immer Schulen und verschiedene Interessen. Es kam erst durch
die pädagogische Zurichtung der
Philosophie, durch ihre Ansiedlung
an der Universität im 19. Jahrhundert, dass man aus rein
didaktischen
Gründen den Inhalt des Philosophierens verknappte und sagte,
„das
und das muss zuerst gelesen werden und dann darf man
sich für anderes interessieren“. Das
führte zu einer
Art Heldendiskurs in der Philosophie, der schädlich für
ein Denken über den Tellerrand hinaus ist, weil man zuviel
Zeit verliert, sich in bestimmte Texte
einzuarbeiten, aus dem einfachen
Vorurteil heraus, dass der Autor lohnend sei. Ich will nicht sagen,
dass die großen Autoren für ein Studium nicht lohnend
sind, auch nicht für ein
längerjähriges Studium.
Sie sind aber auf alle Fälle eine Gefahr für junge
Interessierte,
sich zu verlieren und in paradoxen Übungen zu versinken, die
immer
wieder darauf hinauslaufen, einen bestimmten Denker zu rechtfertigen
und ihn vollkommen logisch und
verständlich zuzurichten, so
dass er als unbesiegbar erscheint. Diese Art von Unterordnung, die
man im Studium einübt, ist für das freie Denken nicht
besonders förderlich. Sie
ist aber unweigerlich mit dem Universitätsstudium
verbunden – eine Art Kampf zwischen Professor
und Student,
dem Vertreter des verknappten philosophischen Kanons und dem Interesse,
das
immer darüber hinausgeht.
Die Bibliotheca Augusta in
Wolfenbüttel wurde 1572 gegründet
EiGENSiNN: Woher kommt Ihr Interesse an Bibliotheken
und wie sind
Sie an die Herzog August Bibliothek gekommen? Hat sich das bereits
in Ihrer
Zeit in Frankreich ergeben, wo Sie die Möglichkeit
hatten, eine Bibliothek mit
einzuräumen?
Zur
Fotoserie "Bibliotheca Augusta in Wolfenbüttel"
SCHNEIDER: Mein Interesse
für Bibliotheken hat sich schon
relativ früh entwickelt. Auch ich selbst habe relativ früh
angefangen, mir eine anzulegen, die zwar bei weitem nicht besonders
groß ist, aber
ich finde es schön, mich mit Büchern
zu unterhalten, die mich überleben werden. Dass ich die
Stelle
in Wolfenbüttel bekam, war ein großer Glücksfall,
den ich
vielleicht auch den Interessen verdankte, die ich am 17.
Jahrhundert habe, sowie an Denkern, die sich
Gedanken über
die Welt und das Wissen von der Welt machten. Mit der Universalität
des Wissens und der Bedeutung, den historische Quellen dabei hatten
musste ich mich ja schon in meiner
Dissertation beschäftigen.
In der frühen Hälfte des 18. Jahrhunderts und gar im 17.
Jahrhundert gab es eine literar-historisch fixierte Beschäftigung
mit der Antike.
Intellektuell war das damals schon mit Bibliotheksmodellen
verbunden. Man nannte Bücher über die
Ordnung des Wissens
"Bibliothek" – das sind so ein paar Gründe
dafür, warum ich mich auf die Stelle in Wolfenbüttel beworben
habe. Inzwischen bin ich fünf
Jahre da und finde, dass es eine
ganz ideale Ergänzung zu meinen philosophischen Interessen
ist, obwohl oder gerade weil ich dort mehr als Philosophie mache.
Ich arbeite sehr viel zur
Literatur-, zur Rechts- und zur medizinischen
Kultur, momentan etwa auch an einem Projekt über die
Apotheke
in Wolfenbüttel. Meine eigenen Interessen werden dort gut bedient,
auch
wenn sie eher dilettantisch sind, das heißt, wo ich von
meiner Ausbildung her nicht unbedingt
kompetent bin, weil es ein
Ort ist, an dem ich gut Kooperationen realisieren kann, die ja immer
nötig sind, wenn man sich in bestimmten Bereichen nicht auskennt.
EiGENSiNN: Dort sind
sie dann auch auf Zedler gestoßen?
SCHNEIDER: Das „Universallexikon“ von Johann
Heinrich
Zedler ist und wird die nächsten Jahre mein Forschungsschwerpunkt
sein.
Angefangen hat die ganze Sache mit einem Artikel in der Zeitschrift
„Das 18. Jahrhundert“ von
Horst Dreitzel, der vor Jahren
ein Projekt dazu machen wollte. In einem Aufsatz monierte er sehr
deutlich, wie wenig man von dieser größten Enzyklopädie
des 18. Jahrhunderts, die
vor derjenigen Diderots und D`Alemberts
beendet war, weiß. Seit dem ich weiß, dass so wenig
über dieses Werk bekannt ist und dass es ein Hauptwerk der
Kultur des 18.
Jahrhunderts ist, interessiert es mich. Und es interessiert
mich immer mehr, je länger ich daran
forsche. Ich bin gerade
mitten in der Bearbeitung und habe auch Gelder von der „Deutschen
Forschungsgemeinschaft“ bekommen, ein Inhaltsverzeichnis für
die etwa 500.000
Stichwörter dieses Lexikons zu erstellen,
damit man annähernd weiß, was drin steht. Erst
dann kann
man sich mit einzelnen Wissensbereichen beschäftigen, über
die man
bisher keinen Überblick besitzt.
Zedlers Enzyklopädie
EiGENSiNN: Wie
gefällt Ihnen die Bibliothek hier in Leipzig?
Halten Sie sie für gut organisiert, ausgestattet
etc.?
SCHNEIDER: Die Bibliothek in Leipzig gefällt mir sehr gut.
Wäre
ich hier fest am Institut für Philosophie. würde
ich es sehr begrüßen, dass sich
direkt gegenüber
eine der größten Universitätsbibliotheken mit einem
Bestand von über 5 Millionen Bänden in Deutschland befindet,
darunter sehr viele aus der
Frühen Neuzeit. Die Bibliothek
selbst ist ja beinahe 500 Jahre alt. Ich finde den Neubau auch gelungen
und wüßte nicht, was man da kritisieren kann. Es gibt
sehr viele
Arbeitsmöglichkeiten auf verschiedenen Etagen. Die
Handapparate benutze ich zum Teil selbst, da
könnte man sich
sicher noch mehr wünschen, aber als Arbeitsinstrument ist die
Bibliothek gut ausgerüstet. Ich bin ein bisschen im Zweifel,
ob es viele kluge Fragen gibt, die man an
diese Bibliothek heran
trägt, aber das ist überall so. Große alte Bibliotheken,
auch die in Wolfenbüttel, werden zu etwa fünf bis zehn
Prozent ihres Bestandes genutzt;
aktuelle Forschungsfragen und Interessen
richten sich nur auf einen Bruchteil der Bücher, die dort
stehen
und mit denen man arbeiten könnte. Es ist darum sehr wichtig,
dass man Fragen
an die Geschichte der Philosophie, der Geistes-
und Kulturgeschichte heranträgt und dass man diese
Fragen in
kritischer Auseinandersetzung mit modernen Theorien und Hypothesen
weiter
entwickelt. Es ist nicht minder wichtig, dass man sich darüber
informiert, was es denn an
Kulturbestand gibt, was einfach da ist
und mögliche Antworten geben kann, hätte man nur die
richtige
"Frage". –Von den potentiellen Antworten her kann
man sich
interessante Fragen vorgeben lassen.
Es ist zum Beispiel so bei Zedler. Sein Universal-Lexicon
wurde
als Dokument einer nicht richtig vollzogenen Aufklärung abgewertet,
man fand
es zu wenig liberal und wissenschaftsfreundlich im Vergleich
zur „Encyclopédie“ –
damit hat man eigentlich
völlig verkannt, was der Zedler ist und was er bietet. Die
„Encyclopédie“ ist Teil des Werkes großer
Aufklärer wie Rousseau, Diderot und
D'Alembert. Sie ist ein
Stück Textmasse, die man bestimmten Autoren, Intentionen und
Absichten zuordnen kann. Sie ist im Grunde keine Enzyklopädie
im Sinne der Versammlung eines
bestimmten Wissens, sie ist vielmehr
ein Stück Meinungskultur und Theoriekultur des 18. Jahrhunderts.
Der Zedler verzichtet darauf, seine Autoren zu benennen, und indem
er riesige Assemblagen
verschiedenen Wissens veranstaltet, ist das
„Universal-Lexikon“ eigentlich das interessantere
Dokument.
Natürlich muss man sich für eine quasi anonyme Wissenskultur
interessieren, die entscheidend auf die Konversationslexika des
19. Jahrhunderts hindeutet. Diese
Zusammenstellung von Wissen, die
im Zedler vorliegt, geht in vielen Bereichen darüber hinaus,
was in der „Encyclopédie“ vorliegt, die sich
mit Künsten, Wissenschaften
und Handwerken beschäftigt.
Der Zedler beschäftigt sich in einem viel größerem
Maße mit Geschichte und Personen - insofern kann man die beiden
Werke auch gar nicht
vergleichen. Man kann nicht sagen, in der „Encyclopédie“
ist ein wissenschafts- und
aufklärungsfreundliches Klima und
im Zedler nicht, denn dann hat man es nur unter dem Gesichtspunkt
der Meinungs- und Ideengeschichte verglichen. Wenn man wissensgeschichtlich
vorgeht,
sieht das ganz anders aus. Man sollte versuchen, eine Art
Verständnis für diese
Redaktionsleistung zu entwickeln,
überhaupt sind in der Redaktion und Kompilitation keine
minderwertigen
Tätigkeiten zu sehen, sondern genuine geistige Übungen,
so
ähnlich, wie man heute auch von Studenten Referate verlangt,
die nur darin, dass sie etwas referieren,
gut sein müssen,
nicht unbedingt darin, dass sie über das Referierte hinausgehen.
Vielleicht ist jemand, der von Foucault herkommt, eher prädestiniert,
so ein Stück anonyme
Wissenskultur anzuerkennen, als die bisherige
Aufklärungsforschung, die ganz stark von einem
Heldendiskurs
durchsetzt ist. In jedem Fall ist es eine große Herausforderung.
Ich
stehe mittlerweile fast mit allen Leuten in Kontakt, die mit
dem Zedler zu tun haben und die Begeisterung
ist groß, dass
endlich etwas getan wird, um das Werk annähernd in den Griff
zu
bekommen, es überhaupt intelligent beschreiben zu können.
EiGENSiNN: Als sie nach
Leipzig kamen, haben Sie eine Ausstellung
über Philosophie in Leipzig gemacht, die immer noch am
Institut
angeschaut werden kann. Wie kamen Sie darauf, gab es Gründe,
die den
Ausschlag für eine solche Ausstellung gegeben haben?
SCHNEIDER: Es gab zwei Gründe. Die
Ausstellung war ein Beitrag
zum „Deutschen Philosophie-Kongress“, der damals in
Leipzig stattfand. Sie sollte zum einen zeigen, dass Philosophie
eine lange Tradition hat, hier in
Leipzig zum Beispiel eine der
längsten in Deutschland - eine lange Tradition, die die Diversität
des Faches zeigt bzw. die großen, schwankenden und unscharfen
Ränder
demonstriert vom humanistischen und aufklärerischen
Diskurs bis in das 19. und 20. Jahrhundert. Der
eine Grund war also,
retrospektiv zu entgrenzen, was man für einfach zu beschreiben
hält. Auf der anderen Seite haben wir ja nicht die gesamte
Geschichte der Philosophie durchgängig
erzählt, sondern
wir haben sie in Brüchen und Schnitten erzählt und ganz
bewusst die 80er Jahre ausgewählt, weil wir auch einen Blick
auf die Philosophie im letzten Jahrzehnt
der DDR werfen wollten.
So ein Stück aktuelle Philosophie in das Bewusstsein der etwa
1000 Besucher des Philosophie-Kongresses einzuschmuggeln, ist uns
gelungen, während viele aus den
unterschiedlichsten Gründen
gerade dabei waren, all das zu verdrängen und zu vergessen:
Wenn sie aus dem Westen kamen, häufig deswegen, weil sie die
Stellen von Leuten eingenommen
hatten, die vorher da saßen
und wenn sie aus dem Osten kamen, weil sie um dieselben neuen Stellen
buhlen mussten, die sie zum Teil gerade erst abgegeben hatten.
Die Ausstellung
habe ich aber keineswegs alleine gemacht, sondern
mit Klaus Dieter Eichler, der heute in Mainz
unterrichtet, und mit
einer Gruppe von Studenten. Es hat drei Semester gedauert und ich
bin sehr froh, dass es demnächst einen Katalog zu dieser Ausstellung
geben wird.
EiGENSiNN: Sie sind zum außerplanmäßigen Professor
der Universität
Leipzig ernannt wurden. Wie kam es dazu? Erweitern
sich damit Ihre Schwerpunkte in der Lehre?
SCHNEIDER: Die Übertragung des Titels „außerplanmäßiger
Professor“ muss das Institut beantragen. Institute tun das
üblicherweise dann, wenn sie einen
Privatdozenten auf Dauer
halten wollen oder nicht anders können. Er ist tatsächlich
nur eine Umwandlung des Titels „Privatdozent“. Eine
formelle Erweiterung der Befugnisse ist
damit nicht gegeben. Da
ich die Lehrbefugnis für Philosophie habe, kann ich in diesem
Rahmen im Prinzip sowieso lehren, was ich will, denn als nicht festangestellter
Dozent bin ich im
Gegensatz zu meinen Kollegen von der Pflicht,
bestimmte Veranstaltungen des Curriculums anbieten zu
müssen,
frei. Ich werde künftig versuchen, meine Lehrveranstaltungen
enger mit
dem zu kombinieren, was ich erforsche. Ich mache in diesem
und in den nächsten beiden Jahren viel zu
Wissens- und Enzyklopädiegeschichte,
im Winter immer als Vorlesung und im Sommer als Seminar. Das
nächste
Seminar will ich direkt als Projektseminar anbieten, vielleicht
sogar an der
Universitätsbibliothek, so dass man mit alten
Quellen arbeiten kann.
EiGENSiNN: Haben Sie einen Lieblingssatz bei Foucault oder einem
anderen
Philosophen?
SCHNEIDER: Ich habe einen Lieblingssatz bei Foucault. Das ist ein
Zitat, das ich immer mal wieder finde, aber wenn ich es suche, nicht
mehr weiß, wo es eigentlich
steht. Foucault sagt: „Das
Gesetz folgt jeder Handlung wie ihr Schatten.“ Ich lese das
so: Es ist egal,was man tut; die Gefahr, dass sich daraus etwas
Gesetzmäßiges, etwas
Festes oder Verpflichtendes entwickelt,
ist immer vorhanden. Die Gefahr, dass die Freiheit des Denkens in
eine Vorschrift für andere umschlägt, ist immer unmittelbar.
Denken führt
nicht aus Zwangsverhältnissen und der eigenen
Lebenswelt heraus, sondern wieder in neue herein. Das
finde ich
eine sehr eindrückliche Warnung vor den Effekten, auch gerade
philosophischer Überlegungen, so dass mich der Satz in dieser
Interpretation oft begleitet hat und ich
ihn einfach nicht vergessen
kann.
EiGENSiNN: Was ist die die momentan
spannendste Buchempfehlung,
die Sie uns geben können?
SCHNEIDER: Ich lese
abends immer Krimis und spannend erzählte
Romane, auch als Ablenkung, damit ich nicht an die Dinge des
Tages
denke, wenn ich träume. Und aus diesem Kontext kann ich momentan
keine
besonders hohe Literatur empfehlen. Meine Lieblingsgestalt
in der Literatur ist zurzeit der Detektiv
Fandorin von Boris Akunin,
und den kann ich nur wärmstens empfehlen. Ich habe in Wolfenbüttel
ein regelrechtes Fandorin-Fieber ausgelöst. Leider sind bisher
von den zwölf
russischen Romanen nur sieben ins Deutsche übersetzt.
Vielleicht sollte ich Russisch lernen.
EIGENSINN: Vielen Dank für das Gespräch.
Das
Gespräch führten Ramona Krons und Jan Hanisch
Apl. Prof. Schneider ist
Dozent am Institut für Philosophie in Leipzig und Projektleiter der Bibliotheca Augusta in Wolfenbüttel