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Erschienen in: Ausgabe #3 vom Juli 2004



Nachgefragt bei Ulrich Johannes Schneider

EiGENSiNN: In Ihrem Lebenslauf steht, Sie kommen aus Frankfurt, wohnen in Berlin, haben unter anderem in Paris studiert. Wie kam Paris und damit Frankreich zustande?

SCHNEIDER: Ich habe mein Studium in Frankfurt a.M. begonnen und bin nach der Zwischenprüfung – vor allem wegen meiner Nebenfächer Germanistik und Musikwissenschaft – nach Berlin an die Technische Universität gewechselt, aber auch weil ich aus Frankfurt weg wollte. Damals war ich sehr interessiert an dem, was in englischer Sprache geschrieben und gedacht wurde. Das hat sich dann sehr schnell verloren. Ich habe gemerkt, dass ich mich weit mehr für französische Philosophen interessiere. Ich habe dann im Hauptstudium angefangen, Französisch zu lernen, was ich auf der Schule zwar hatte, aber sehr lustlos betrieb. So kam es dann relativ rasch zu einer Umorientierung.

1980 hatte ich die Gelegenheit, mit einem Stipendium der Studienstiftung irgendwo hinzugehen. Nachdem ich eigentlich schon Pläne für England geschmiedet hatte, bin ich dann nach Frankreich gegangen. Ich habe mein Französisch verbessert und wollte eigentlich gar nicht mit der Philosophie weitermachen, sondern als Journalist arbeiten. Mit anderen Leuten habe ich gemeinsam eine Zeitschrift gegründet und in den Sand gesetzt, weil eben doch das Geld fehlte. Ich bin zur Philosophie zurückgekehrt, als ich Michel Foucault las und hörte.

Ulrich Johannes Schneider
Ulrich Johannes Schneider

EiGENSiNN: Wann waren Sie in Frankreich und wie lange?

SCHNEIDER: Erstmal 1980 für 1 Jahr. Damals war ich 24 und frisch magistriert. Das war relativ früh und ich war offen für Neues. Nach meinem Frankreichaufenthalt – ich konnte nur ein Jahr bleiben, weil danach absolut kein Geld mehr da war – bin ich nach Frankfurt zurückgekehrt, zu meinen Eltern. Ich habe als Journalist beim „Hessischen Rundfunk“ gearbeitet, um ein bisschen Geld zu verdienen, aber da meine Interessen in der Philosophie stärker waren, habe ich ein Dissertationsprojekt ausgearbeitet und mit dem bin ich wieder nach Berlin gegangen.

EiGENSiNN: Was war das für ein Dissertationsprojekt?

SCHNEIDER: Das war ein Projekt zu einer Arbeit, die für die Geisteswissenschaften das leisten sollte, was Michel Foucault mit der „Ordnung der Dinge“ für die Humanwissenschaften getan hat. So eine Art Rekonstruktion des Weltverständnisses in diesen Wissenschaften. Die Skizze, die ich damals vorgelegt habe, handelte über das 19. Jahrhundert. Das Buch, das nachher herauskam, hat die Vorgeschichte dieses 19. Jahrhunderts thematisiert. Der Akzent hat sich dann noch einmal verschoben und sich beschränkt auf die Geschichte der Philosophiegeschichte. Es ist auch nicht annährend so etwas Großartiges geworden wie die „Ordnung der Dinge“, aber es war ein Buch, das mich über die Geschichte der Philosophie wieder zur Philosophie gebracht hat.

EiGENSiNN: Sie haben nach dem Studium in Frankreich gearbeitet. Wie waren Ihre Erfahrungen?

SCHNEIDER: Ich habe zum Geldverdienen Deutschunterricht gegeben, dafür musste ich sehr früh aufstehen. Ich habe mir dafür einen Wecker gekauft, den ich neulich erst verloren habe. Dieser hat mich immer daran erinnert, dass ich damals in Paris sehr früh aufstehen musste, um in irgendeinen Vorort zu fahren und irgendwelche traurigen Franzosen, die von einer deutschen Firma gekauft worden waren, im Deutschen zu unterrichten. Denn mit dem bescheidenen Stipendium von 300 oder 400 DM konnte man in Paris nicht viel machen. Ich habe in so einer „chambre de bonne“ ohne Telefon und Klingel gewohnt. Zum Schluss, als mein Geld definitiv alle war, war es so, dass ich im „Parc Monceau“ einem Leberstück hinterher getrauert habe, das eine alte Dame der Katze hingeworfen hatte – denn ich konnte mir diese Leber nicht mehr leisten. Ansonsten habe ich in der ersten Hälfte meines Aufenthaltes versucht, gemeinsam mit anderen Leuten, eine deutsch-französische Zeitschrift zu gründen. Auch wenn diese Zeitschrift letztlich niemals herausgekommen ist, habe ich doch sehr viele Freunde aus der Zeit bis heute behalten. In der zweiten Hälfte dann, ab Januar 1981, also recht spät, habe ich an mehreren Universitäten als „auditeur libre“ richtiggehend studiert. Damals war das mit der Annerkennung wechselseitiger Grade noch nicht so weit gediehen, was mich auch nicht so sehr gekümmert hat, weil ich aus der Philosophie aussteigen wollte. Ich habe an der Universität „Paris VIII“ François Châtelet gehört, leider aber nicht Deleuze, Lyotard und Derrida, die alle Kantseminare angeboten haben und ich dachte: „Kant kenne ich schon“ – heute weiß ich, dass ich davon profitiert hätte. Ich habe dann noch bei Foucault selbst gehört und bei verschiedenen anderen Dozenten am „Collège de France“.

EiGENSiNN: War Ihnen damals schon klar, dass Sie an der Universität unterrichten wollen?

SCHNEIDER: Damals war mir eher klar, dass ich die Universität aus verschiedenen Gründen verlassen will: Meine eigene Magisterarbeit hat mir nicht gefallen. Ich fand, dass ich ein System im Denken und im Schreiben exekutiert habe, das gar nicht mein eigenes war. Erst als ich dann ein wenig mehr Französisch sprechen konnte und Foucault las, ist mir klar geworden, dass es auch anders geht. Mir wurde klar, dass man die Geschichte der Philosophie nicht im allerengsten Sinne betreiben muss. Mithilfe dieses Gedanken habe ich, als ich wieder in Deutschland war, obwohl ich zu dieser Zeit auch als Journalist gearbeitet habe, versucht, ein Dissertationsprojekt zu entwerfen. Ich bekam sogar eine Stelle und ein Stipendium. Ohne Unterstützung einerseits von den Professoren und andererseits von den Geldgebern wäre es vielleicht nichts geworden. 1983 hatte ich dann die Möglichkeit, eine Zweidrittelstelle für fünf Jahre (eine Assistentenstelle für Nichtpromovierte) an der TU Berlin anzutreten, mein Stipendium musste ich wieder zurückgeben. In diesem Zeitraum (1983-1988) habe ich promoviert.

EiGENSiNN: Was sind Ihrer Meinung nach Unterschiede und Gemeinsamkeiten des Studiums an einer französischen und an einer deutschen Universität?

SCHNEIDER: Das frage ich mich bis heute. Die Unterschiede sind ganz eklatant. Wenn man in eine französische Vorlesung geht, sieht man, dass die Leute dort sehr schülerhaft lernen. So kommt es einem jedenfalls vor, wenn man aus Deutschland kommt. Sie schreiben fleißig mit, was der Dozent sagt, und der Dozent steht ganz offensichtlich unter dem enormen Druck, einen sehr magistralen Diskurs abzuliefern, definitives Wissen in einprägsamen Formulierungen vorzutragen. Das ist so gut, wie der Dozent gut ist. Und ich habe sehr gute Dozenten erlebt. Ich habe aber auch nicht so gute Dozenten erlebt.

EiGENSiNN: Haben Sie auch versucht, an Diskussionen in Seminaren teilzunehmen?

SCHNEIDER: Ja, das habe ich versucht, das ist aber nicht gut angekommen. In einem Seminar am „Collège de France“ hat jemand über Hobbes eine Sitzung gestaltet. Vieles von dem, was er vortrug, war nicht richtig, unter anderem das Geburtsdatum. Es war von Fehlern und von Unrichtigkeiten durchsetzt. Ich habe mich einfach gemeldet, und völlig erstaunt wurde ich dann auch drangenommen. Als ich dann sagte "Das und das stimmt nicht!", konnte damit weder der Dozent noch die Studenten irgendwie umgehen. Der Dozent hat dann einfach gesagt "Vielen Dank!" und hat weitergeredet. Weil die Stunde noch nicht um war, hat er sich wiederholt – wie eine Schallplatte. Es war etwas bizarr. Zu erwähnen ist aber: Am Ende des französischen Unterrichtssystems stehen wie im deutschen sehr ähnliche Fähigkeiten und Befähigungen. Wenn man sich mit französischen Absolventen, mit Promovierenden und Promovierten des französischen Systems unterhält, ist der Unterschied des Wissens und auch des Schreibens nicht mehr so groß. Wie unterschiedlich Bildungssysteme auch immer sind – und man könnte auch das italienische hinzunehmen, was so ähnlich wie das französische ist, oder das ganz andere englische – läuft alles am Ende auf etwas Vergleichbares hinaus.

EiGENSiNN: Hat Ihnen ihr deutsches Philosophie-Grundstudium an der französischen Universität weiter geholfen?

SCHNEIDER: Viele berühmte Philosophen behandelten damals Kant, und allgemein ist die deutsche Philosophie traditionell in Frankreich stark vertreten. Englische Philosophie, Logik, Analytische Philosophie gehörte nicht so sehr zum Kanon der Philosophie. Mich selber hat die "Philosophie der Philosophie" wenig interessiert, eher die Philosophie bestimmter Thematiken und Probleme, so wie man sie bei Focault findet: Kriminalität, Sexualität, griechische Ethik, also alles was eher am Rande der Philosophie angesiedelt ist und nicht in der Mitte wie das Evidenzproblem bei Husserl oder Dasein bei Heidegger.

EiGENSiNN: Sie arbeiten unter anderem bei der „Deutschen Gesellschaft für französische Philosophie“. Wie wird deutsche Philosophie in Frankreich und umgekehrt französische Philosophie in Deutschland rezipiert?

SCHNEIDER: Ich habe keinen besonders guten Überblick über das, was in Frankreich läuft. In Paris selber gibt es sehr unterschiedliche Agenturen des philosophischen Diskurses. Einerseits die Universitäten, darunter wieder die Sorbonne mit einem relativ traditionellen Programm, und auf der anderen Seite "Paris VIII", die Experimentaluniversität in Saint Denis – diese beiden haben ein abweichendes Programm. Daneben gibt es inzwischen seit Beginn der Achtziger Jahre auch das "Collège International de Philosophie" mit einem freien Programm. Dort gibt es Angebote zur Philosophie der Arbeitslosigkeit und ähnliches - viele Sachen am Grenzbereich zwischen Künsten und Philosophie. So dass das Angebot in Paris sehr breit ist. Allerdings ist der Unterricht viel stärker als in Deutschland auf das Kanonische ausgerichtet.

EiGENSiNN: Sie sind Projektleiter an der „Herzog August Bibliothek“ in Wolfenbüttel, einer der ältesten Bibliotheken in Europa. Sie leben in Berlin, arbeiten als Dozent in Leipzig, im Internet liest man von Tagungen, auf denen Sie vortragen, die Sie organisieren oder an denen Sie teilnehmen. Sie sind viel unterwegs. Lieben Sie Reisen und Unterwegssein oder ist das nur Beigabe ihres Lebens? Was heißt es für Sie, unterwegs zu sein?

SCHNEIDER: "Unterwegs zu sein" heißt für mich, im Zug zu sitzen, ohne Telefon, nicht erreichbar zu sein und endlich in Ruhe lesen zu können. Ansonsten bin ich durch meine Tätigkeit in Wolfenbüttel verpflichtet, auch dort zu leben. Berlin ist nur noch auf das Wochenende reduziert, wenn überhaupt. Den vielen Aktivitäten, denen ich schon seit meiner Zeit als Assistent sowohl in Berlin als auch in Leipzig in den 90er Jahren nachgegangen bin, verdanke ich die Überzeugung, dass das Gespräch unter Philosophen mitunter interessanter ist als der Wettbewerb der Schriften. Da es in der Philosophie viele einseitige Ausrichtungen gibt, die schlichtweg daran leiden, dass man sich gegenseitig zu wenig zur Kenntnis nimmt, sind Kolloquien immer gut. Auch internationale Veranstaltungen sind ein sehr guter Weg, um gegenseitige Wahrnehmungsdefizite aufzuheben. Und das läuft weit besser über persönliche Kontakte.

Als Vorsitzender der „Deutschen Gesellschaft für französische Philosophie“ – ein Job, den ich übernommen habe, weil ich die Idee des Vereins gut finde, aber eigentlich zu wenig Zeit dafür habe – habe ich jüngst eine Tagung in Berlin organisiert, die sehr gut gelaufen ist, unter anderem aus dem Grund, weil es Leute gab, die bereit waren, den anderen zu zuhören, freundlich zu kritisieren und Äußerungen als Beiträge zu einem Gespräch aufzufassen und nicht als bloße Elemente in einem Diskursuniversum. Dieser Anspruch von Philosophen, etwas Letztgültiges zu sagen, hat mich eigentlich immer schon genervt. Besonders erstaunlich ist er wegen seiner geschichtlichen Entwicklung, die ja deutlich zeigt, dass es in der Philosophie am allerwenigsten Einigkeit geben kann, und zwar von Anfang an: Wir wissen von keiner langfristigen dogmatischen Verhärtung im philosophischen Leben des Abendlandes, übrigens auch nicht außerhalb. Überall gab es immer Schulen und verschiedene Interessen. Es kam erst durch die pädagogische Zurichtung der Philosophie, durch ihre Ansiedlung an der Universität im 19. Jahrhundert, dass man aus rein didaktischen Gründen den Inhalt des Philosophierens verknappte und sagte, „das und das muss zuerst gelesen werden und dann darf man sich für anderes interessieren“. Das führte zu einer Art Heldendiskurs in der Philosophie, der schädlich für ein Denken über den Tellerrand hinaus ist, weil man zuviel Zeit verliert, sich in bestimmte Texte einzuarbeiten, aus dem einfachen Vorurteil heraus, dass der Autor lohnend sei. Ich will nicht sagen, dass die großen Autoren für ein Studium nicht lohnend sind, auch nicht für ein längerjähriges Studium. Sie sind aber auf alle Fälle eine Gefahr für junge Interessierte, sich zu verlieren und in paradoxen Übungen zu versinken, die immer wieder darauf hinauslaufen, einen bestimmten Denker zu rechtfertigen und ihn vollkommen logisch und verständlich zuzurichten, so dass er als unbesiegbar erscheint. Diese Art von Unterordnung, die man im Studium einübt, ist für das freie Denken nicht besonders förderlich. Sie ist aber unweigerlich mit dem Universitätsstudium verbunden – eine Art Kampf zwischen Professor und Student, dem Vertreter des verknappten philosophischen Kanons und dem Interesse, das immer darüber hinausgeht.


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Die Bibliotheca Augusta in Wolfenbüttel wurde 1572 gegründet

EiGENSiNN: Woher kommt Ihr Interesse an Bibliotheken und wie sind Sie an die Herzog August Bibliothek gekommen? Hat sich das bereits in Ihrer Zeit in Frankreich ergeben, wo Sie die Möglichkeit hatten, eine Bibliothek mit einzuräumen?

Zur Fotoserie "Bibliotheca Augusta in Wolfenbüttel"

SCHNEIDER: Mein Interesse für Bibliotheken hat sich schon relativ früh entwickelt. Auch ich selbst habe relativ früh angefangen, mir eine anzulegen, die zwar bei weitem nicht besonders groß ist, aber ich finde es schön, mich mit Büchern zu unterhalten, die mich überleben werden. Dass ich die Stelle in Wolfenbüttel bekam, war ein großer Glücksfall, den ich vielleicht auch den Interessen verdankte, die ich am 17. Jahrhundert habe, sowie an Denkern, die sich Gedanken über die Welt und das Wissen von der Welt machten. Mit der Universalität des Wissens und der Bedeutung, den historische Quellen dabei hatten musste ich mich ja schon in meiner Dissertation beschäftigen. In der frühen Hälfte des 18. Jahrhunderts und gar im 17. Jahrhundert gab es eine literar-historisch fixierte Beschäftigung mit der Antike. Intellektuell war das damals schon mit Bibliotheksmodellen verbunden. Man nannte Bücher über die Ordnung des Wissens "Bibliothek" – das sind so ein paar Gründe dafür, warum ich mich auf die Stelle in Wolfenbüttel beworben habe. Inzwischen bin ich fünf Jahre da und finde, dass es eine ganz ideale Ergänzung zu meinen philosophischen Interessen ist, obwohl oder gerade weil ich dort mehr als Philosophie mache. Ich arbeite sehr viel zur Literatur-, zur Rechts- und zur medizinischen Kultur, momentan etwa auch an einem Projekt über die Apotheke in Wolfenbüttel. Meine eigenen Interessen werden dort gut bedient, auch wenn sie eher dilettantisch sind, das heißt, wo ich von meiner Ausbildung her nicht unbedingt kompetent bin, weil es ein Ort ist, an dem ich gut Kooperationen realisieren kann, die ja immer nötig sind, wenn man sich in bestimmten Bereichen nicht auskennt.

EiGENSiNN: Dort sind sie dann auch auf Zedler gestoßen?

SCHNEIDER: Das „Universallexikon“ von Johann Heinrich Zedler ist und wird die nächsten Jahre mein Forschungsschwerpunkt sein. Angefangen hat die ganze Sache mit einem Artikel in der Zeitschrift „Das 18. Jahrhundert“ von Horst Dreitzel, der vor Jahren ein Projekt dazu machen wollte. In einem Aufsatz monierte er sehr deutlich, wie wenig man von dieser größten Enzyklopädie des 18. Jahrhunderts, die vor derjenigen Diderots und D`Alemberts beendet war, weiß. Seit dem ich weiß, dass so wenig über dieses Werk bekannt ist und dass es ein Hauptwerk der Kultur des 18. Jahrhunderts ist, interessiert es mich. Und es interessiert mich immer mehr, je länger ich daran forsche. Ich bin gerade mitten in der Bearbeitung und habe auch Gelder von der „Deutschen Forschungsgemeinschaft“ bekommen, ein Inhaltsverzeichnis für die etwa 500.000 Stichwörter dieses Lexikons zu erstellen, damit man annähernd weiß, was drin steht. Erst dann kann man sich mit einzelnen Wissensbereichen beschäftigen, über die man bisher keinen Überblick besitzt.

Zedlers Enzyklopädie
Zedlers Enzyklopädie

EiGENSiNN: Wie gefällt Ihnen die Bibliothek hier in Leipzig? Halten Sie sie für gut organisiert, ausgestattet etc.?

SCHNEIDER: Die Bibliothek in Leipzig gefällt mir sehr gut. Wäre ich hier fest am Institut für Philosophie. würde ich es sehr begrüßen, dass sich direkt gegenüber eine der größten Universitätsbibliotheken mit einem Bestand von über 5 Millionen Bänden in Deutschland befindet, darunter sehr viele aus der Frühen Neuzeit. Die Bibliothek selbst ist ja beinahe 500 Jahre alt. Ich finde den Neubau auch gelungen und wüßte nicht, was man da kritisieren kann. Es gibt sehr viele Arbeitsmöglichkeiten auf verschiedenen Etagen. Die Handapparate benutze ich zum Teil selbst, da könnte man sich sicher noch mehr wünschen, aber als Arbeitsinstrument ist die Bibliothek gut ausgerüstet. Ich bin ein bisschen im Zweifel, ob es viele kluge Fragen gibt, die man an diese Bibliothek heran trägt, aber das ist überall so. Große alte Bibliotheken, auch die in Wolfenbüttel, werden zu etwa fünf bis zehn Prozent ihres Bestandes genutzt; aktuelle Forschungsfragen und Interessen richten sich nur auf einen Bruchteil der Bücher, die dort stehen und mit denen man arbeiten könnte. Es ist darum sehr wichtig, dass man Fragen an die Geschichte der Philosophie, der Geistes- und Kulturgeschichte heranträgt und dass man diese Fragen in kritischer Auseinandersetzung mit modernen Theorien und Hypothesen weiter entwickelt. Es ist nicht minder wichtig, dass man sich darüber informiert, was es denn an Kulturbestand gibt, was einfach da ist und mögliche Antworten geben kann, hätte man nur die richtige "Frage". –Von den potentiellen Antworten her kann man sich interessante Fragen vorgeben lassen.

Es ist zum Beispiel so bei Zedler. Sein Universal-Lexicon wurde als Dokument einer nicht richtig vollzogenen Aufklärung abgewertet, man fand es zu wenig liberal und wissenschaftsfreundlich im Vergleich zur „Encyclopédie“ – damit hat man eigentlich völlig verkannt, was der Zedler ist und was er bietet. Die „Encyclopédie“ ist Teil des Werkes großer Aufklärer wie Rousseau, Diderot und D'Alembert. Sie ist ein Stück Textmasse, die man bestimmten Autoren, Intentionen und Absichten zuordnen kann. Sie ist im Grunde keine Enzyklopädie im Sinne der Versammlung eines bestimmten Wissens, sie ist vielmehr ein Stück Meinungskultur und Theoriekultur des 18. Jahrhunderts. Der Zedler verzichtet darauf, seine Autoren zu benennen, und indem er riesige Assemblagen verschiedenen Wissens veranstaltet, ist das „Universal-Lexikon“ eigentlich das interessantere Dokument. Natürlich muss man sich für eine quasi anonyme Wissenskultur interessieren, die entscheidend auf die Konversationslexika des 19. Jahrhunderts hindeutet. Diese Zusammenstellung von Wissen, die im Zedler vorliegt, geht in vielen Bereichen darüber hinaus, was in der „Encyclopédie“ vorliegt, die sich mit Künsten, Wissenschaften und Handwerken beschäftigt. Der Zedler beschäftigt sich in einem viel größerem Maße mit Geschichte und Personen - insofern kann man die beiden Werke auch gar nicht vergleichen. Man kann nicht sagen, in der „Encyclopédie“ ist ein wissenschafts- und aufklärungsfreundliches Klima und im Zedler nicht, denn dann hat man es nur unter dem Gesichtspunkt der Meinungs- und Ideengeschichte verglichen. Wenn man wissensgeschichtlich vorgeht, sieht das ganz anders aus. Man sollte versuchen, eine Art Verständnis für diese Redaktionsleistung zu entwickeln, überhaupt sind in der Redaktion und Kompilitation keine minderwertigen Tätigkeiten zu sehen, sondern genuine geistige Übungen, so ähnlich, wie man heute auch von Studenten Referate verlangt, die nur darin, dass sie etwas referieren, gut sein müssen, nicht unbedingt darin, dass sie über das Referierte hinausgehen. Vielleicht ist jemand, der von Foucault herkommt, eher prädestiniert, so ein Stück anonyme Wissenskultur anzuerkennen, als die bisherige Aufklärungsforschung, die ganz stark von einem Heldendiskurs durchsetzt ist. In jedem Fall ist es eine große Herausforderung. Ich stehe mittlerweile fast mit allen Leuten in Kontakt, die mit dem Zedler zu tun haben und die Begeisterung ist groß, dass endlich etwas getan wird, um das Werk annähernd in den Griff zu bekommen, es überhaupt intelligent beschreiben zu können.

EiGENSiNN: Als sie nach Leipzig kamen, haben Sie eine Ausstellung über Philosophie in Leipzig gemacht, die immer noch am Institut angeschaut werden kann. Wie kamen Sie darauf, gab es Gründe, die den Ausschlag für eine solche Ausstellung gegeben haben?

SCHNEIDER: Es gab zwei Gründe. Die Ausstellung war ein Beitrag zum „Deutschen Philosophie-Kongress“, der damals in Leipzig stattfand. Sie sollte zum einen zeigen, dass Philosophie eine lange Tradition hat, hier in Leipzig zum Beispiel eine der längsten in Deutschland - eine lange Tradition, die die Diversität des Faches zeigt bzw. die großen, schwankenden und unscharfen Ränder demonstriert vom humanistischen und aufklärerischen Diskurs bis in das 19. und 20. Jahrhundert. Der eine Grund war also, retrospektiv zu entgrenzen, was man für einfach zu beschreiben hält. Auf der anderen Seite haben wir ja nicht die gesamte Geschichte der Philosophie durchgängig erzählt, sondern wir haben sie in Brüchen und Schnitten erzählt und ganz bewusst die 80er Jahre ausgewählt, weil wir auch einen Blick auf die Philosophie im letzten Jahrzehnt der DDR werfen wollten. So ein Stück aktuelle Philosophie in das Bewusstsein der etwa 1000 Besucher des Philosophie-Kongresses einzuschmuggeln, ist uns gelungen, während viele aus den unterschiedlichsten Gründen gerade dabei waren, all das zu verdrängen und zu vergessen: Wenn sie aus dem Westen kamen, häufig deswegen, weil sie die Stellen von Leuten eingenommen hatten, die vorher da saßen und wenn sie aus dem Osten kamen, weil sie um dieselben neuen Stellen buhlen mussten, die sie zum Teil gerade erst abgegeben hatten.

Die Ausstellung habe ich aber keineswegs alleine gemacht, sondern mit Klaus Dieter Eichler, der heute in Mainz unterrichtet, und mit einer Gruppe von Studenten. Es hat drei Semester gedauert und ich bin sehr froh, dass es demnächst einen Katalog zu dieser Ausstellung geben wird.

EiGENSiNN: Sie sind zum außerplanmäßigen Professor der Universität Leipzig ernannt wurden. Wie kam es dazu? Erweitern sich damit Ihre Schwerpunkte in der Lehre?

SCHNEIDER: Die Übertragung des Titels „außerplanmäßiger Professor“ muss das Institut beantragen. Institute tun das üblicherweise dann, wenn sie einen Privatdozenten auf Dauer halten wollen oder nicht anders können. Er ist tatsächlich nur eine Umwandlung des Titels „Privatdozent“. Eine formelle Erweiterung der Befugnisse ist damit nicht gegeben. Da ich die Lehrbefugnis für Philosophie habe, kann ich in diesem Rahmen im Prinzip sowieso lehren, was ich will, denn als nicht festangestellter Dozent bin ich im Gegensatz zu meinen Kollegen von der Pflicht, bestimmte Veranstaltungen des Curriculums anbieten zu müssen, frei. Ich werde künftig versuchen, meine Lehrveranstaltungen enger mit dem zu kombinieren, was ich erforsche. Ich mache in diesem und in den nächsten beiden Jahren viel zu Wissens- und Enzyklopädiegeschichte, im Winter immer als Vorlesung und im Sommer als Seminar. Das nächste Seminar will ich direkt als Projektseminar anbieten, vielleicht sogar an der Universitätsbibliothek, so dass man mit alten Quellen arbeiten kann.

EiGENSiNN: Haben Sie einen Lieblingssatz bei Foucault oder einem anderen Philosophen?

SCHNEIDER: Ich habe einen Lieblingssatz bei Foucault. Das ist ein Zitat, das ich immer mal wieder finde, aber wenn ich es suche, nicht mehr weiß, wo es eigentlich steht. Foucault sagt: „Das Gesetz folgt jeder Handlung wie ihr Schatten.“ Ich lese das so: Es ist egal,was man tut; die Gefahr, dass sich daraus etwas Gesetzmäßiges, etwas Festes oder Verpflichtendes entwickelt, ist immer vorhanden. Die Gefahr, dass die Freiheit des Denkens in eine Vorschrift für andere umschlägt, ist immer unmittelbar. Denken führt nicht aus Zwangsverhältnissen und der eigenen Lebenswelt heraus, sondern wieder in neue herein. Das finde ich eine sehr eindrückliche Warnung vor den Effekten, auch gerade philosophischer Überlegungen, so dass mich der Satz in dieser Interpretation oft begleitet hat und ich ihn einfach nicht vergessen kann.

EiGENSiNN: Was ist die die momentan spannendste Buchempfehlung, die Sie uns geben können?

SCHNEIDER: Ich lese abends immer Krimis und spannend erzählte Romane, auch als Ablenkung, damit ich nicht an die Dinge des Tages denke, wenn ich träume. Und aus diesem Kontext kann ich momentan keine besonders hohe Literatur empfehlen. Meine Lieblingsgestalt in der Literatur ist zurzeit der Detektiv Fandorin von Boris Akunin, und den kann ich nur wärmstens empfehlen. Ich habe in Wolfenbüttel ein regelrechtes Fandorin-Fieber ausgelöst. Leider sind bisher von den zwölf russischen Romanen nur sieben ins Deutsche übersetzt. Vielleicht sollte ich Russisch lernen.

EIGENSINN: Vielen Dank für das Gespräch.

Das Gespräch führten Ramona Krons und Jan Hanisch


Apl. Prof. Schneider ist Dozent am Institut für Philosophie in Leipzig und Projektleiter der Bibliotheca Augusta in Wolfenbüttel