logo logo

Erschienen in: Ausgabe #2 vom Januar 2004


von Konstanze Schwarzwald

Über Lebenskünstlertum - mit Nietzsche und über ihn hinaus

Ein „Lebenskünstler“ und der von ihm abgeleitete Begriff der „Lebenskunst“ wird im allgemeinen Sprachgebrauch meist mit einer Art cleverem Müßiggang, der alles überlebensnotwendige in letzter Minute gerade noch irgendwie zu bewältigen weiß, verstanden, als jemand, der es eben versteht, sich so oder so durchs Leben zu schlagen. Als ewig schwankender Traumtänzer, als Vorwärtsstolpernder, der sich nach dem Eintritt eines Ereignisses ungläubig zurückdreht, die Gefahr erkennt und nun erleichtert ist, „Glück gehabt“ zu haben. Dies soll an dieser Stelle nicht gemeint sein!

Die Frage, was „Lebenskünstlertum“ für den einzelnen meinen kann, stellt sich ernsthaft nur dem, den der werdende Inhalt im Prozeß der Antwortsuche nicht überfordert und den er damit selbst existenziell betrifft.

Nitzsche

Im nietzscheanischen Sinne ist der Begriff der Lebenskunst im Zusammenhang mit seinem Gedanken des „Willens zur Macht“ und seiner Konzeption des „Übermenschen“ zu verstehen. Es gibt zwei Stilmittel, die das Leben des Künstlers aus sich heraus begründen: das Apollinische und das Dionysische, verkörpert in Apollon, dem Gott der Maßgebung und Dionysos, dem Gott des Rausches.

Das Apollinische impliziert die „Kunst des Bildners“ das Dionysische die „unbildliche Kunst, die Musik“. Es sind die zwei Urtriebe der Kunst, die in den „getrennten Kunstwelten des Traumes und des Rausches“ das „ebenso dionysische und apollinische Kunstwerk der attischen Tragödie erzeugen“.[1] Die künstlerische Welt des Traumes ist die des „schönen Scheins“, des Stilvollen und Harmonischen als maßgebende Komponente, die das Rauschvolle, Orgiastische – die überschäumende Welt der Phantasie und Lust, den dionysischen Trieb, zügelnd beherrscht. Das Dionysische ist das Ursprünglichere, wobei beide nicht voneinander zu trennen sind – eines existiert nicht ohne das andere. Das Dionysische wäre der Welt nicht zugänglich ohne das Apollinische und das Apollinische wäre gehalt- und wesenlos ohne das Dionysische.

„Damit es Kunst giebt, damit es irgend ein ästhetisches Thun und Schauen giebt, dazu ist eine physiologische Vorbedingung unumgänglich: der Rausch.“ [2] Der Rausch, der den Künstler lebensleitend erfaßt ist also sowohl apollinischer als auch dionysischer Rausch als einerseits vermittelt-kontrollierter und andererseits unmittelbar-affektiver Rausch. Eben diese beiden Triebe gegeneinander abwägend zu beherrschen, ihnen damit die Möglichkeit gebend, sich zu ergänzen und zu vervollkommnen, ist des Künstlers Leben. Er begreift das Leben als Objekt seines künstlerischen Selbst und transzendiert es damit zum selbstbestimmten Werk.

Der Leib des Künstlers ist eine „große Vernunft̶, indem er mit eben den beiden Urtrieben seiner Natur umzugehen weiß, indem er damit seine Fähigkeiten experimentell und risiokobereit zu nutzen versteht und in jedem Moment erweitern kann, als Grenzgang, als selbstbestimmte immanente Transzendenz seiner künstlerischen Macht.

In diesem Sinne ist Lebenskunst Extremismus, Grenzgang, Abgründigkeit, Experiment, als ein erst einmal individuelles Lebenskonzept. Nietzsches Hoffnung ruhte auf den „kommenden Philosophen“, den „Philosophen der Zukunft“, die nicht an seinem individuellen Konzept, das hier nur der Beginn einer Neuordnung sein kann, hängen bleiben, sondern über ihn hinaus denken und damit über eine neue Form der Gemeinschaft. Eine Gemeinschaft, in der „Übermenschen“ [3] als Elite die Führung haben, in einer transdemokratisch-hierarchischen Form, welche sich nicht nach Stand und Blut ordnet, sondern nach den Fähigkeiten der einzelnen. Eine Gemeinschaftsform, die im praktischen Vollzug die Inhalte ihrer Insassen flexibel zuläßt, sie nicht dogmatisiert, sondern in ihre werdende Bewegung einschließt, die sie zwar lenkt, aber nicht theoretisch einschränkt. Soweit dies als Ausblick.

Aber schon im nietzscheanisch-individuellen Sinne bedeutet „Lebenskunst“ immer mehr als eine Theorie zu erstellen, jede Theorie kann als solche nur Totgeburt sein, weil sie ein Erreichen, einen Endpunkt suggeriert. Als dogmatische Anleitung hat sie nämlich keinen Wert und wäre eben nicht im Sinne wirklicher Lebenskunst, weil man nicht Lebenskünstler werden kann, wie man etwas wird, wenn man für den entsprechenden Kurs an der Volkshochschule ein Zertifikat bekommen hat. Es geht im Gegensatz dazu um Selbstbildung, um Ergreifung selbstgewählter Möglichkeiten im Kontrast zu den allgemeinen Vorgaben, die dem einzelnen ein mehr oder weniger „glückliches Leben“ garantieren wollen.

Zur Lebenskunst gehört also der Mut zum Sprung in die eigene Abgründigkeit, der Wille zum aktiven Wahnsinn, zur Verrücktheit im Kontrast zu einer Welt, deren Rezepte nur noch Passivität verschreiben. „Wille zur Macht“ und „Übermensch“ ist bei Nietzsche vielmehr als Weg- bzw. Richtungsweiser, nicht aber als End- oder Zielpunkt zu verstehen.

Der Begriff des „Tanzes“ ist also doch nicht falsch, wenn man von selbstbestimmtem Lebenskünstlertum spricht, wenn man den ewigen Seiltanz des Lebens zwischen dionysisch-rauschvoll erlebter Existenz und maßvoller Apollinik, von der Welt der innigsten Lebenssehnsüchte, und der Welt, die diese zu stilisieren sucht, spricht.

In diesem Sinne ist der „Traumtänzer“, der seine Tanzschritte von Moment zu Moment weiter stilisiert, Rausch-und Lebenskünstler und hat als einziger die Chance, mit Nietzsche und über ihn hinaus, tanzende Sterne zu gebären.

Anmerkungen

[1] Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem geiste der Musik. KSA 1, 26

[2]Friedrich Nietzsche, Götzendämmerung. KSA 6, 116

[3]„Übermenschen“ meint Menschen, die fähig sind in jeder Situation über ihr „Menschlich-Allzumenschliches“ hinauszugehen, das ewig Menschliche in sich stets zu transzendieren, es zu überwinden, um einer höheren Aufgabe willen,um einer Gemeinschaft willen. Das allein befähigt sie,andere zu führen.