von Konstanze Schwarzwald
Über Lebenskünstlertum - mit Nietzsche und über ihn 
hinaus
Ein „Lebenskünstler“ und der von 
     
         ihm abgeleitete Begriff der „Lebenskunst“ wird im allgemeinen 
              Sprachgebrauch meist mit 
einer Art cleverem Müßiggang, 
              der alles überlebensnotwendige in letzter Minute gerade noch 
              irgendwie zu bewältigen weiß, verstanden, als jemand, 
              der es eben versteht, 
sich so oder so durchs Leben zu schlagen. 
              Als ewig schwankender Traumtänzer, als 
Vorwärtsstolpernder, 
              der sich nach dem Eintritt eines Ereignisses ungläubig zurückdreht, 
              die Gefahr erkennt und nun erleichtert ist, „Glück gehabt“ 
              zu haben. 
Dies soll an dieser Stelle nicht gemeint sein!
            Die Frage, was 
„Lebenskünstlertum“ für den 
              einzelnen meinen kann, stellt sich ernsthaft nur dem, den 
der werdende 
              Inhalt im Prozeß der Antwortsuche nicht überfordert und 
              den er 
damit selbst existenziell betrifft. 
			  

            Im nietzscheanischen Sinne ist der Begriff der Lebenskunst im Zusammenhang 
              mit seinem 
Gedanken des „Willens zur Macht“ und seiner 
              Konzeption des „Übermenschen“ zu 
verstehen. Es 
              gibt zwei Stilmittel, die das Leben des Künstlers aus sich 
              heraus 
begründen: das Apollinische und das Dionysische, verkörpert 
              in Apollon, dem Gott der 
Maßgebung und Dionysos, dem Gott 
              des Rausches.
            Das 
Apollinische impliziert die „Kunst des 
              Bildners“ das Dionysische die „unbildliche Kunst, 
die 
              Musik“. Es sind die zwei Urtriebe der Kunst, die in den „getrennten 
              
Kunstwelten des Traumes und des Rausches“ das „ebenso 
              dionysische und apollinische Kunstwerk 
der attischen Tragödie 
              erzeugen“.[1] Die künstlerische Welt 
              des Traumes 
ist die des „schönen Scheins“, des 
              Stilvollen und Harmonischen als maßgebende 
Komponente, die 
              das Rauschvolle, Orgiastische – die überschäumende 
              Welt 
der Phantasie und Lust, den dionysischen Trieb, zügelnd 
              beherrscht. Das Dionysische ist das 
Ursprünglichere, wobei 
              beide nicht voneinander zu trennen sind – eines existiert 
            
  nicht ohne das andere. Das Dionysische wäre der Welt nicht 
              zugänglich ohne das Apollinische und 
das Apollinische wäre 
              gehalt- und wesenlos ohne das Dionysische. 
            „Damit es Kunst giebt, damit es irgend ein 
              ästhetisches Thun und Schauen giebt, 
dazu ist eine physiologische 
              Vorbedingung unumgänglich: der Rausch.“ [2] 
              Der 
Rausch, der den Künstler lebensleitend erfaßt ist 
              also sowohl apollinischer als auch 
dionysischer Rausch als einerseits 
              vermittelt-kontrollierter und andererseits unmittelbar-affektiver 
   
           Rausch. Eben diese beiden Triebe gegeneinander abwägend zu 
              beherrschen, ihnen damit die 
Möglichkeit gebend, sich zu ergänzen 
              und zu vervollkommnen, ist des Künstlers Leben. Er 
begreift 
              das Leben als Objekt seines künstlerischen Selbst und transzendiert 
              es 
damit zum selbstbestimmten Werk.
            Der Leib des Künstlers ist eine 
„große Vernunft̶, 
              indem er mit eben den beiden Urtrieben seiner Natur umzugehen 
weiß, 
              indem er damit seine Fähigkeiten experimentell und risiokobereit 
              zu 
nutzen versteht und in jedem Moment erweitern kann, als Grenzgang, 
              als selbstbestimmte immanente 
Transzendenz seiner künstlerischen 
              Macht.
            In diesem Sinne ist 
Lebenskunst Extremismus, Grenzgang, 
              Abgründigkeit, Experiment, als ein erst einmal individuelles 
  
            Lebenskonzept. Nietzsches Hoffnung ruhte auf den „kommenden 
              Philosophen“, den 
„Philosophen der Zukunft“, die 
              nicht an seinem individuellen Konzept, das hier nur der Beginn 
einer 
              Neuordnung sein kann, hängen bleiben, sondern über ihn 
              hinaus denken und 
damit über eine neue Form der Gemeinschaft. 
              Eine Gemeinschaft, in der „Übermenschen“ 
[3] 
              als Elite die Führung haben, in einer transdemokratisch-hierarchischen 
              Form, 
welche sich nicht nach Stand und Blut ordnet, sondern nach 
              den Fähigkeiten der einzelnen. Eine 
Gemeinschaftsform, die 
              im praktischen Vollzug die Inhalte ihrer Insassen flexibel zuläßt, 
   
           sie nicht dogmatisiert, sondern in ihre werdende Bewegung einschließt, 
              die sie zwar lenkt, 
aber nicht theoretisch einschränkt. Soweit 
              dies als Ausblick.
            Aber schon im nietzscheanisch-individuellen Sinne bedeutet „Lebenskunst“ 
              immer 
mehr als eine Theorie zu erstellen, jede Theorie kann als 
              solche nur Totgeburt sein, weil sie ein 
Erreichen, einen Endpunkt 
              suggeriert. Als dogmatische Anleitung hat sie nämlich keinen 
            
  Wert und wäre eben nicht im Sinne wirklicher Lebenskunst, weil 
              man nicht Lebenskünstler werden 
kann, wie man etwas wird, wenn 
              man für den entsprechenden Kurs an der Volkshochschule ein 
         
     Zertifikat bekommen hat. Es geht im Gegensatz dazu um Selbstbildung, 
              um Ergreifung 
selbstgewählter Möglichkeiten im Kontrast 
              zu den allgemeinen Vorgaben, die dem einzelnen ein mehr 
oder weniger 
              „glückliches Leben“ garantieren wollen.
            Zur Lebenskunst gehört also der Mut zum Sprung in die eigene 
              Abgründigkeit, der 
Wille zum aktiven Wahnsinn, zur Verrücktheit 
              im Kontrast zu einer Welt, deren Rezepte nur noch 
Passivität 
              verschreiben. „Wille zur Macht“ und „Übermensch“ 
          
    ist bei Nietzsche vielmehr als Weg- bzw. Richtungsweiser, nicht 
              aber als End- oder Zielpunkt zu 
verstehen.
            Der Begriff des „Tanzes“ ist also doch nicht falsch, 
       
       wenn man von selbstbestimmtem Lebenskünstlertum spricht, wenn 
              man den ewigen Seiltanz des 
Lebens zwischen dionysisch-rauschvoll 
              erlebter Existenz und maßvoller Apollinik, von der Welt der 
              innigsten Lebenssehnsüchte, und der Welt, die diese zu stilisieren 
              sucht, 
spricht.
            In diesem Sinne ist der „Traumtänzer“, der seine 
        
      Tanzschritte von Moment zu Moment weiter stilisiert, Rausch-und 
              Lebenskünstler und hat als 
einziger die Chance, mit Nietzsche 
              und über ihn hinaus, tanzende Sterne zu gebären.
       
     
			Anmerkungen
            [1] Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem geiste der Musik. KSA 1, 26
       
     [2]Friedrich Nietzsche, Götzendämmerung. KSA 6, 116
            [3]„Übermenschen“ meint Menschen, 
                    die fähig sind in jeder 
Situation über ihr „Menschlich-Allzumenschliches“ 
                    hinauszugehen, das ewig 
Menschliche in sich stets zu transzendieren, 
                    es zu überwinden, um einer höheren Aufgabe 
willen,um 
                    einer Gemeinschaft willen. Das allein befähigt sie,andere 
                    zu 
führen.