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Erschienen in: Ausgabe #3 vom Juli 2004


von Michael Wehren

Asoziale Postmoderne? Ein paar Gedankensplitter

“This is not a science-fiction novel. Or maybe it is. I don’t care if you don’t.” Richard Meltzer


I

„Jeder geschlossene Raum ist ein Sarg.“ - Blumfeld


Er hat ein Problem. Zumindest sieht er eins. So geht das nicht, aber anders muss es gehen. Sein Name ist Richard Rorty, er nennt sich selbst einen Liberalen. Er mag Leute, die er „ironistische Intellektuelle“ nennt, aber er sieht da, wie bereits oben erwähnt, auch ein Problem. Liberaler zu sein – das bedeutet für ihn, eine politische Haltung einzunehmen welche „ja“ sagt zum Modell dessen, was wir als „westliche Demokratie“ bezeichnen. Sie wird von ihm als beste Chance angesehen, „Solidarität“ zu fördern und zu verwirklichen. Ironie wiederum bezeichnet aus seiner Perspektive eine Denkrichtung der es primär um „Autonomie“ in beinahe allen denkbaren Formen geht. Diese Linie führt laut Rorty von Nietzsche und Hegel bis hin zu Foucault und Derrida. Doch leider wollen sich diese sogenannten Denker in ihren Autonomiebemühungen nur recht selten auf ihre Privatsphäre beschränken – High Noon. Das Problem ist „dass das Streben nach Autonomie sich nicht mit Solidaritätsregungen verträgt.“ [1] Und als es anders scheinbar nicht mehr geht, sagt er: trennen wir doch. Das konnten Philosophen schon immer gut – im Zweifelsfall differenzieren und vereinfachen. Die hohe Kunst der analytischen Amputation.


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Richard Rorty


II

„Der Mensch des Supermarktes kann organisch gesehen nicht der Mensch eines einzigen Willens, eines einzigen Verlangens sein.“ – sagt Michel Houellebecq, da antwortet Gilles Deleuze Jahre zuvor: „Aber da jeder andere auch, schon mehrere ist, kommen da nicht wenige zusammen.“


Durch die Problematisierung der Praktiken des Wirklichen (also zum Beispiel des Wissens), dem Insistieren auf ihre Performativität, wird ein Handlungsspielraum eröffnet. In diesem „müssen [wir] uns das, was wir sein könnten, ausdenken und aufbauen“ [2]. Diese Kritikkonzeption, die ich hier am Beispiel Foucault exemplarisch vorgeführt habe, entwirft Theorie als Teil lebensweltlicher Praxis, in dem Sinne, dass sie gesellschaftliche Identitäten reformulieren, ausbauen und umformen hilft. Sie schreibt nicht vor, sondern stellt aus, exponiert Gedanken. Anstelle des Wahnsinns, der Kranken, des Philosophen – tritt eine Polyphonie der Identitäten. Die Kritik als Neudeutung und Neubeschreibung der eigenen Zeit, des eigenen Geworden-seins, der eigenen Identität – erzählt und transformiert (potentiell) dadurch. Erzählen, als „weben“. An diesem Punkte setzt die Kritik Richard Rortys an. Das Theorieverständnis von Foucault reiht er ein in die Gruppe solcher Denker, die er als ironische Intellektuelle bezeichnet. Deren Bemühungen um Autonomie stehen für ihn im Kontext von Ent-Solidarisierung und dem Verlust kollektiver Werte. Mit Habermas sieht er durch Denker wie diese den demokratischen und liberalen Grundkonsens gefährdet. Die Situation stellt sich als potentielles Dilemma dar, doch ist Rorty in der Lage beide Ansprüche zu retten - mittels einer strengen Trennung in den Bereich des Öffentlichen und den Bereich des Privaten. „Ironistische Theoretiker wie Hegel, Nietzsche, Derrida und Foucault scheinen mir von unschätzbarem Wert für unsere Versuche, uns ein privates Selbstbild zu machen, aber reichlich nutzlos, wenn es um Politik geht.“ [3] Theorie wird dabei privatisiert, Mittel der eigenen Vervollkommnung – abgetrennt von der liberalen Sphäre der Öffentlichkeit. Diese wiederum will er nicht auf eine fundamentale Konzeption wie zum Beispiel Habermas’ Universalpragmatismus stützen, sondern auf Solidarität. “Die liberale Ironikerin möchte nur, dass unsere Chancen, freundlich zu sein und die Demütigung anderer zu vermeiden, durch Neubeschreibung erhöht werden.“ [4] Mittel zur Realisierung liberaler Werte wird dabei die Kunst im weitesten Sinne. Es findet also eine Vertauschung statt – Theorie wird privat, Fiktion wird öffentlich.


Theorie bezeichnet Rorty hier als in seinen Augen sinnloses Bemühen, das menschliche Miteinander humaner zu gestalten.


III

„Ich suche in den Räumen Ähnliches, wobei mich anzieht, wie verschieden ähnliches ist.“ Candida Höfer


Die Trennung zwischen öffentlich und privat konstituiert in Rortys Diskurs die Sphäre des Öffentlichen als autarke und vollendete. Sie besitzt sogar ein eigenes Gesetz, dass der Solidarität. Um diese verwirklichen zu können, muss die Identität als Liberaler gesichert sein. Gesichert auf der Ebene des Politischen – nicht auf der Ebene des Privaten. Dabei ist eben dieses Politische in Rortys Augen primär poetisch, nicht theoretisch. Die Frage nach der Identität des Subjekts im Bereich des Politischen scheint die Gefahr der Asozialität, also der fehlenden Solidarität herauf zu beschwören. Es gilt nun folgende Punkte kritisch zu hinterfragen: a) Berechtigung der Trennung in öffentlich und privat b) die Trennung in Theorie und Fiktion. Grundlage der ersten Differenzierung ist eine Vorstellung von Öffentlichkeit, ist eine Vorstellung des Politischen, welche diese vom Alltag, besser gesagt dem Privatleben der Menschen abtrennt. Wir leben sozusagen in zwei Sphären, die jeweils eine eigene Logik besitzen. Dagegen lässt sich eine Theorie des Politischen entwerfen in der das „Politische[...] das in jedem Lebenszusammenhang versteckt ist“ [5] die Perspektive darstellt. In solch einem Kontext ist das Politische als ein sozialer Produktionsprozeß, eben auf die Ebene des konkreten, persönlichen Lebenszusammenhanges angewiesen. „Der arbeitsteilig entwickelte Sachbereich Politik umfasst nur einen Teil des Politischen, andere Teile grenzt er notwendig aus.“ [6] Anzumerken bleibt dabei: Rortys Position schließt eine solche Ebene des zwischenmenschlichen Zusammenhanges (im Gegensatz zur sozialen, moralischen Abstraktion) nicht zwangsläufig aus – um so fragwürdiger sind die von ihm gezogenen Konsequenzen. Denn gerade in der Sphäre des Politischen geht es ja um Solidarität. Diese ist allerdings auch notwendig an die Sphäre des eigenen Lebens, der eigenen Identität, gebunden. Letztlich handelt es sich bei Rortys Differenzierung um eine zweideutige Wiederaufnahme der Definition der traditionellen Öffentlichkeit „deren charakteristische Schwäche auf dem Ausgrenzungsmechanismus zwischen öffentlich und privat beruht“ [7]. Von einer solchen Warte aus betrachtet ist der Öffentlichkeitsbegriff Rortys zusammenhanglos – die Solidaritätsregungen des Liberalen sind abstrakt, zumindest wenn Rortys Differenzierung zutrifft.


Die zweite Unterscheidung – die in Theorie und Fiktion scheint noch problematischer. Denn Foucaults genealogisch-kritisches Unternehmen setzt z.B. gerade dort ein wo sich Theorie und Fiktion treffen. Er poetisiert die Kritik – macht sie zur Theoriefiktion [8] – wie Lyotard diese Gattung nennt. Damit ist aber genau der Schnittpunkt zwischen öffentlich und privat betroffen, in dem eine Kritik, die den normativ-prüfenden Standpunkt verlassen hat, sich verorten lässt. Ist die „alte“ Dimension die folgende: „Die Kritik ist eine wesentliche Dimension der Repräsentation: sie ist in der Ordnung des Theatralischen das, was sich „raushält“, das Äußere“ – so stellen die Formen der Kritik, denen unsere Aufmerksamkeit momentan gilt, genau das Gegenteil dar: sie beziehen sich nicht auf dieses Zentrum, sind Teil einer Analyse die „nicht [glaubt] [...] dass das Gesetz oder die zentrale Macht miteinander verwachsen sind, sie sagen ja zu einem anderen Raum [...] einem Patchwork“ [9] . Hier lässt sich die Perspektive von Rortys Kritik finden: Foucault und andere liefern Konzepte mit denen Minderheiten und einzelne Gruppen in den Fokus treten – im Bereich des Öffentlichen.


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Foucault und die "Öffentlichkeit"


Lyotard und Foucault formulieren eine Kritik die nicht richtend, also prüfend ist, sondern relativierend und konstruktiv. Weniger geht es ihnen darum den Bereich der Legitimität zu hegen, sondern viel eher darum diesen auszuweiten, Alternativen aufzuzeigen – kurz ihn durch alternative Produktion zu kritisieren. Wenn der Sphäre der Öffentlichkeit die Fiktion entspricht und der Sphäre des Privaten die Theorie – so sind Theoriefiktionen (oder Genealogien) Techniken der Verbindung beider Sphären. Durch sie werden Interdependenz,- sowie Reziprozitätsverhältnisse artikuliert und verwirklicht, in jeweils konkret lokalen Konflikten. Nun ist es aber völlig uneinsichtig warum diese „Politik der Minderheiten“ asozial sein soll – denn wenn die Identität eines Subjekts sich durch vielerlei Erzählungen definiert, und wenn die Erzählungen auch (wie bei Foucault) den Umweg über die Problematisierung der Entstehungsmechanismen von Subjekten nehmen – so ist Solidarität durchaus gegeben. Im Produzieren von gesellschaftlicher Spezifität sind konkrete Zusammenhänge der Solidarität möglich und nötig. Als Beispiel mögen hier, aufgrund ihrer Aussagekraft, Diskussionen um ethnische Identitäten, Geschlecht und Sexualität [10] genannt sein. Dabei widerspricht dies eindeutig nicht Rortys These der politischen Signifikanz von Fiktion. Wenn wir uns mit Hilfe von Erzählungen jedoch „sensitiv“ gegenüber anderen Menschen machen können, so steht die Frage im Raum wieso dies im Kontext von Theoriefiktionen nicht der Fall sein soll – problematisieren diese doch Identität und Kontext, machen Vorschläge – hinweisend auf den polymorphen Bereich der Virtualitäten, que(e)r zu binär codierten Identitäten liegend. Die Dimension des Zusammenhangs, der vielgestaltigen Identität dessen was man wird, die Anwesenheit von „Anderem“ im eigenen Leben ist hochgradig politisch. Die Arbeit an ihr – z.B. genealogisch-kritisch – dies wäre „Philosophie als Aktivität“ – wie Michel Foucault sie nannte. „Philosophie ist jene Verschiebung und Transformation der Denkrahmen, die Modifizierung etablierter Werte und all der Arbeit, die gemacht wird, um anders zu denken, um anderes zu machen und anders zu werden als man ist.“ [11] Auf solchen Wegen trifft man Menschen. Und die sind bekanntermaßen ja nicht unbedingt egal.


Anmerkung

[1] Rorty, Richard: Kontingenz, Ironie und Solidarität. S.259. Frankfurt am Main. Suhrkamp Verlag. 1992

[2] Foucault, Michel; Walter Seitter: Das Spektrum der Genealogie. S.28. Bodenheim. Philo Verlagsgesellschaft mbh.

[3] Rorty, Richard: S.142f.

[4] Ebd., S.156

[5] Negt, Oskar; Kluge, Alexander: Der unterschätze Mensch. Band 1. Gemeinsame Philosophie in zwei Bänden. S.708. Frankfurt am Main. Zweitausendeins. 2001

[6] Ebd., S.717

[7] Ebd., S.354

[8] Lyotard, Jean-Francois: Das Patchwork der Minderheiten. Für eine herrenlose Politik. S.93 Berlin. Merve Verlag. 1977

[9] Ebd., S.9

[10] Stellvertretend sei verwiesen auf: Butler, Judith: Körper von Gewicht. Gender Studies. Frankfurt am Main. Suhrkamp Verlag. 1997

[11] Foucault, Michel: Von der Freundschaft. S.22. Berlin. Merve Verlag. 1984