logo logo

Erschienen in: Ausgabe #3 vom Juli 2004


von Andre Reichert

Deleuze mit Schaub

Miriam Schaub:
Gilles Deleuze im Wunderland: Zeit- als Ereignisphilosophie und
Gilles Deleuze im Kino: Das Sichtbare und das Sagbare
Gilles Deleuze:
Das Bewegungs-Bild, Kino 1
Das Zeit-Bild, Kino 2
Was ist Philosophie?


„Die Philosophiegeschichte übt in der Philosophie eine ganz offenkundig
repressive Funktion aus, sie ist der eigentlich philosophische Ödipus:
'Du wirst doch wohl nicht wagen, in deinem Namen zu sprechen, bevor
du nicht dieses und jene gelesen hast, und diesesüber jenes und jenes über dieses.’
In meiner Generation sind viele nicht heil da rausgekommen ... Aber vor allem
bestand meine Art, heil da rauszukommen...darin, die Philosophiegeschichte als eine
Art Arschfickerei zu betrachten oder, was auf dasselbe hinausläuft, unbefleckte Empfängnis.
Ich stellte mir vor, einen Autor von hinten zu nehmen und ihm ein Kind zu machen, das seines,
aber trotzdem monströs wäre. Daß es wirklich seins war, ist sehr wichtig, denn der Autor musste tatsächlich all das sagen, was ich ihn sagen ließ.“
(Unterhandlungen, S. 14)


Die cinematographische Kunst entsteht als Lösung eines der Hauptprobleme der Philosophie im ausgehenden 19. Jahrhundert, für das die historische Krise der Psychologie steht (Deleuze). Die Position, Bilder ins Bewusstsein und die Bewegungen in die Materie zu versetzen, ist unhaltbar geworden. Wie von dem einen Bereich in den anderen kommen? Wieso erzeugen Bewegungen Bilder (Wahrnehmung), oder wie ist es zu erklären, dass ein Bild Bewegung hervorbringt (willensbestimmte Handlung). Deleuze nennt zwei Autoren, die sich der Aufgabe annahmen, die Dualität von Bild und Bewegung, Bewusstsein und Ding zu überwinden: Husserl und Bergson. Der eine durch den Schlachtruf: alles Bewusstsein ist Bewusstsein von etwas (Husserl), der andere dagegen: Bewusstsein ist etwas (Bergson). "Wie sollte da der Film außer acht bleiben - dessen Entstehung sich ebenfalls zu dieser Zeit anbahnte und der mit seiner eigenen Existenz die Evidenz eines Bewegungsbildes zu liefern vermochte? ... auf jeden Fall befreit er das Subjekt aus seiner Verankerung ebenso wie von der Horizontgebundenheit seiner Sicht der Welt, indem er die Bedingungen der natürlichen Wahrnehmung durch ein implizites Wissen und eine zweite Intentionalität ersetzt." (Kino1, S. 84 f.) Und so findet Deleuze in Bergson einen ständigen Begleiter durch das Kino.


bild
Gilles Deleuze


In Matiere et Memoire (1896) entwirft Bergson einen Bewegungsbegriff, den Deleuze den neuen Formen der Bewegung annähert, die die neue cinematographische Kunst mit ihren Bildern bereitstellt. "So wenig wie eine absolute Differenz zwischen Energie und Materie bestehe, sowenig könne man Bewegungen und Bilder ein für allemal unterscheiden; vielmehr bildeten sie die jeweils extremsten Positionen auf einer Skala mit fließenden Übergängen und Austauschprozessen."(Schaub 2, S.89) Wenngleich für Bergson das Kino bloß falsche oder illusionäre Bewegung zeigt, da es stillgestellte Bilder eines Photogramms nachträglich mittels eines Projektors in Bewegung setzt, entleiht Deleuze ihm Begriffe wie Bewegung, Ereignis, Dauer usw.. Deleuze argumentiert sogar gegen Bergson, dass nicht die Bewegung, die uns der Film zeigt, sich einer falschen Natürlichkeit bedient, sondern jegliche Bewegung auf einer Illusion beruht, auf Diskontinuität, Heterogenität und deren Synthetisierungen.


Hier setzt die Arbeit von Miriam Schaub ein, die in Deleuze`s Kinophilosophie Perspektiven für die Philosophie der Zeit findet. Schon in den Bewegungs-Bildern (Kino 1) und nicht erst in den Zeit-Bildern (Kino2) zeigt sich, wie Deleuze dem Kino-Bild eine zeitliche Dimension abgewinnt, die sich nicht aus dem Gezeigten erschöpft, so die These. Genau wie die natürliche Bewegung besteht auch das Bewegungsbild in einem Wechsel der Dauer, einem Bewegungsschnitt, wie Deleuze sagt, einer Verlagerung im Raum und zugleich einem Wechsel der Qualität (Bergsons Beispiel: Wenn ich Zucker in ein gefülltes Wasserglas gebe und einige Zeit warte, so erhalte ich nicht Wasser plus Zucker, sondern Zuckerwasser). Die ontologische Grundlage des Kinos ist in den nicht zentrierten, nicht abgeleiteten, nicht abgelenkten, nicht wahrgenommenen, herrenlosen Bildern (Schaub), in einem Chaosmos gegeben. "Es ist eine Welt universeller Veränderlichkeit, universeller Wellenbewegung, des Universellen Plätscherns: In ihr gibt es weder Achsen noch Zentrum, weder rechts noch links, weder oben noch unten." (Kino 1, S. 87) In diesem chaotischen Zustand reagieren die reinen Bewegungsbilder noch unmittelbar miteinander, ohne jegliche Verzögerung, zumal weder ihre räumliche Grenze noch ihre zeitliche Dauer bestimmbar sind. Die Identität von Bild und Bewegung wird erst aufgegeben, durch das Auftreten einer zirkulierenden Leerstelle, die sich als Intervall zwischen zwei Bilder schiebt. "Und das Gehirn ist nichts anderes: Intervall, Abstand zwischen Aktion und Reaktion. Das Gehirn ist gewiss kein Zentrum von Bildern, das man als Ausgangspunkt nehmen könnte, sondern es stellt für sich selbst ein besonderes Bild unter anderen dar, ein Indeterminiertheitszentrum im nicht-zentrierten Universum der Bilder."(Kino 1, S. 92) So transformiert sich das reine Bewegungsbild in Bewegungsbilder mit einem zweifachen Bezugssystem. In einem ersten System variiert jedes Bild in sich und alle Bilder reagieren und wirken wechselseitig aufeinander. In einem weiteren System variieren alle Bilder prinzipiell auf ein einziges Bild, wobei dieses die Einwirkung der anderen Bilder auf seiner einen Seite empfängt, während es auf der anderen Seite darauf reagiert. Da Deleuze von der Gesamtheit der Bilder ausgeht, wird die Bild-Materie-Ebene nicht verlassen.


Miriam Schaub versucht jetzt, die Leseerfahrung aus Logik des Sinns und Differenz und Wiederholung in ihrer praktischen Anwendung (, in der Theorie des Kinos?) zu zeigen (Theorie/Praxis?). Denn in dem Chaosmos der Bewegungsbilder bleibt nur die Vorstellung einer reinen Gegenwart, die keinerlei Verbindungen zu vergangenen und zukünftigen Zeiten unterhält, eine Gegenwart ohne Subjekte und Gedächtnis, in der man erlebte Zeit erinnern und künftige Zeiten antizipieren kann. Diese Zeit gibt aber auch etwas Neues, Mögliches und schafft durch ihre rettende Wiederholung eine Wiederkehr (des Glaubens, Bunuels Würgeengel). Die rettende Wiederholung bejaht alle vergangenen wie künftigen Wiederholungen und stellt deshalb keinen Bruch dar. In dieser derealisierten Gegenwart, diesem Metafilm hat potentiell jeder Augenblick die Möglichkeit zur Zäsur, Ereignis zu werden "in seiner „uranfänglichen Komplikation“ (PZ 40), deren sinnfälligster Ausdruck die „Außerzeitlichkeit“ der „Zeit im Zustand der Geburt“ (ibid.) ist, welche alle diese Ereignisse virtuell in sich schließt. In späteren Büchern wählte Deleuze hierfür andere Begriffe: im Kant-Buch ist es die 'gerade Linie’ als schlimmstes Labyrinth von allen, in Differenz und Wiederholung Zeit als 'leere Form’ der dritten Synthese, in Was ist Philosophie? ist es „die Unermesslichkeit der leeren Zeit, in der man sie noch als künftige und schon als geschehene sieht“ (Ph, 184 f.), eine Art „Zwischen-Zeit(entre-temps)“ (ibid.), wie es sich auch später im Zeit-Bild (1985) in Gestalt des unermesslich werdenden Intervalls des inexistenten, fehlenden Zwischen-Bilds(interstice) als ultima ratio des falschen Anschlusses (faux accord) präsentiert." (Schaub 1, S. 272)


Im gesamten Werk von Deleuze findet Schaub die Vorstellung, dass die Gegenwart mit sich selbst koexistiere (virtuelle Koexistenz) als schon-vergangene und als noch-zukünftige, wobei diese virtuellen Begleitzeiten nichts verdoppeln, sondern hier das An-sich des Virtuellen (Bergson) aufscheint. "Egal, ob es um die Koexistenz des jeweils gegenwärtigen Augenblicks mit sich selbst als bereits abgeschlossenen und als noch zukünftigem (vgl. N, 53; PZ, 49) geht, oder um die Koexistenz der Gegenwart mit sich selbst als abgeschlossene und immer noch offene (vgl. N, 54; DW, 113), oder um die Koexistenz des Werdens mit sich selbst als eines, das weder Anfang noch Ende hat und damit gleichermaßen ‚nie angefangen’ hat und 'nie enden’ wird (vgl. N, 53), immer erklärt Deleuze: Wenn es anders wäre, würden der Augenblick und das Gegenwärtige nicht vorübergehen, würde nichts werden."(Schaub 1, S. 273) Ein Werden wird erst ermöglicht durch eine assymetrische Spaltung des Gegenwärtigen, die die Koexistenz des Sukzedierenden mit sich als bleibenden bedeutet, Bewahren und Bruch zugleich. Doch wie komme ich auf die Höhe des Sichvollziehenden, des eigenen Werdens und Denkens? Schaub antwortet: Deleuze benötigt eine Parallelwelt, von der aus sich der Vollzug beobachten läßt, denn man muß immer in zwei Vollzüge verwickelt sein, um einen übersehen zu können."Heideggers Sein und Zeit, Deleuzes Differenz und Wiederholung sind Namen für eine solche Strategie, einen Begriff durch den jeweils anderen - in jeweils anderer Hinsicht - gegenzuverwirklichen; wobei beide Begriffe in ein Anders-Werden verwickelt sind." (Schaub 1, S. 276) Durch die Einrichtung dieser Parallelwelten entgeht Deleuze den performativen Widersprüchen des Selbstvollzugs. Bei Deleuze wird der Vollzug also nicht stillgestellt, um dessen Wahrheit zu enthüllen, sondern er wird potenziert durch ein Springen zwischen den Vollzügen, durch ihre Vervielfachung. Die Philosophie ist bei Deleuze nicht Geschichte, sondern Werden; nicht Abfolge von Systemen, sondern die Koexistenz von Ebenen.


bild
Kino in Paris


Jetzt gibt es aber zwei Kinobücher, Das Bewegungsbild (Kino 1) und das Zeitbild (Kino 2). Miriam Schaub hat mehrere Antworten gefunden, wobei die zeittheoretische die grundlegende bleibt. Ist es ihr beim Bewegungsbild gelungen, Zeit zwischen Sukzession und Simultanität zu denken, so gilt es nun im Zeitbild Zeit als reine Simultanität zu finden. Schaub argumentiert, dass Kino-Bilder als vorgeführte zwar sukzessiv sind (in Analogie zur Schrift oder zum gesprochenen Wort), nur im Moment ihrer Aktualisierung sichtbar werden. Jedoch können die Filmbilder Zeit anders zeigen, als beispielsweise die Sprache, die auf drei Modi, die nicht zugleich der Fall sein können, beschränkt bleibt. Cinematographische Bilder imitieren unsere modale Wirklichkeits - und Zeiterfahrung nur, teilen sie aber nicht. "Was immer ein Bild zeigt, seine Zeitlichkeit ist immer Produkt einer Inszenierung, immer ein Akt der Überschreitung, eine Behauptung, die durch keine genuin zeitliche Verfassung des Bildes gedeckt wäre. Genau deshalb kann es eine Zeitlichkeit in Szene setzen, die unseren sukzessionslogischen Konventionen, unseren Denk-, Vorstellungs- und Bildgewohnheiten zuwiderläuft, weil es kein Bewusstsein, kein modales Zeitbewusstsein seiner eigenen zeitlichen Aktualisierungsbedingungen haben muß." (Schaub 2, S. 276) Weil das Kinobild das Sichtbare und das Sagbare simultan in sich einschließt, als zwei getrennt zu inszenierende Ordnungen, kann es eine performativ richtige und triftige Darstellung des darstellungstheoretischen Dilemmas der Zeit als Sprache liefern. "Das stimmt tröstlich."(Schaub 2, S. 114)


Die zu Beginn ach so klassisch wirkende Frage, hat eine neue Antwort bei Deleuze gefunden. Deleuze, der die Zeit zwar nie nur sukzessiv gedacht hat, dem Modell der Zeit als Sprache aber nie ganz entkam. Geleitet durch die, von Schaub als Deleuzesche Sehnsuchtsformel hervorgehobene Wendung von Proust: Un peu de temps à l' état pur, zeigte sich Zeit im gesamten Werk von Deleuze - selbst im Anti-Ödipus findet Schaub im 'Psychischen als Maschine’ einen Decknamen, unter dem zeitliche Prozesse analysierbar werden. Und so wird auch ein Denken in Theorie und Praxis durchgehalten: "Den im ersten Teil entworfenen Zeitmodellen werden im zweiten Buch Doubles, Anwendungsfälle in Bildern an die Seite gestellt. Wir werden sehen, dass die in Differenz und Wiederholung beschriebene 'rettende Wiederholung' der dritten Synthese, am Beispiel eines Bunuel-Films wie Der Würgeengel nachgeholt, eine natürliche Anwendung erfährt. Lewis Carrols Teegesellschaft mit ihren getrennten Inszenierungen von äonischer und chronologischer Zeit aus Logik des Sinns kehrt wieder in leicht veränderter Gestalt im Film Letztes Jahr in Marienbad"(Schaub 2, S. 25). Wobei die Theorie unbefriedigend endete, in der Praxis fortbestand und eine neue Antwort in der Anwendung möglich wurde. Schaub zeichnet eine Entwicklungslinie im Deleuzeschen Denken, das sich an Klassikern der Philosophiegeschichte misst (Kant, Hegel, Heidegger ...). An einem Leitmotiv, die Frage nach der Zeit, wird planmäßig das Deleuzesche Werk abgeschritten, einem Leitmotiv, dem der Leser und auch Deleuze sich fügen müssen. "Ich nähere mich hier eher konservativ, schulmäßig den Texten, klopfe sie auf Thesen ab, versuche wiederkehrende Gedankenfiguren in eine diskutierbare Form zu bringen, forsche nach werkimmanenten Gründen für offensichtliche Vorlieben und Merkwürdigkeiten, spitze vielfach zu, werfe Fragen auf, probiere Antworten oder muß passen"(Schaub 1, S. 43), charakterisiert Schaub ihr Vorgehen selbst.


Bei Deleuze ist das Kino jedoch vielmehr "eine neue Praxis der Bilder und Zeichen, und es ist Sache der Philosophie, zu dieser Praxis die Theorie (im Sinne begrifflicher Praxis) zu liefern." (Kino 2, S.358) "Denn Theorie ist ebenso wie ihr Gegenstand etwas, das man macht. Für viele Leute ist Philosophie etwas, das nicht »gemacht« wird, sondern immer schon fertig in einem Ideenhimmel existiert." (Kino 2, S. 358 f.) Die philosophische Praxis der Begriffe ist keineswegs abstrakter als ihr Gegenstand, da die Philosophie nicht über ihren Gegenstand handelt, sondern über die von ihm hervorgebrachten Begriffe. Die Frage, die sich für Deleuze stellt, ist also nicht die, nach dem Vorrecht einer Praxis gegenüber einer anderen, sondern vielmehr: in welchen Verhältnissen stehen die Begriffe, was sind die korrespondierenden Praxen? Philosophie ist für Deleuze Konstruktivismus: eine Immanenzebene erschaffen, auf der sich singuläre Begriffe gruppieren, wobei diese nicht ein Puzzle ergeben, sondern Würfelwürfe wagen. Die Begriffe können also nicht an einer Grammatik gemessen werden, weil sie keine Propositionen sind. Propositionen definieren sich durch ihre Referrenz, einen Bezug zum Sachverhalt und ebenso die Bedingungen dieses Bezugs. Die Begriffe hingegen sind Schwingungszentren, deshalb herrscht überall Resonanz, nicht Abfolge. "Als fragmentarische Totalitäten sind die Begriffe nicht einmal Teil eines Puzzles, da ihre unregelmäßigen Umrisse einander nicht entsprechen. Sie bilden wohl eine Mauer, eine unverfugte Trockenmauer allerdings, und wenn alles zusammengetragen ist, so auf auseinanderlaufenden Wegen. Selbst die Brücken von einem Begriff zum anderen sind noch Kreuzungen oder Umwege, die keinerlei diskursiven Zusammenhang umschreiben." (Was ist Philosophie?, S.30)