von Tobias Prüwer
Vom Daß der Welt - Wittgenstein und Heidegger zu den Formen
menschlichen Seins
Ich kann mir wohl denken, was Heidegger mit Sein und Angst
meint. Der Mensch hat den Trieb gegen die Grenzen der Sprache anzurennen.
Denken Sie z.
B. an das Erstaunen, daß etwas existiert. Das
Erstaunen kann nicht in Form einer Frage
ausgedrückt werden,
und es gibt auch keine Antwort. Alles was wir sagen mögen,
kann apriori nur Unsinn sein. (Wittgenstein: Zu Heidegger; 68)
Seit Platon
und Aristoteles gilt als Quelle der Philosophie das
Staunen darüber, daß überhaupt etwas
ist und nicht
vielmehr nichts, über „das Wunder aller Wunder: daß
Seiendes ist.“ (WM 47) Schien dieses Wundernehmen aus dem
Gesichtsfeld der traditionellen Philosophie
gerückt zu sein,
so gehen Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein zurück und
nehmen abermals beim Staunen Anfang. Einsehend, daß sinnvolles
Fragen nach dem Daß-Sein der
Welt nicht möglich und die
Seinsfundierung abgänglich ist, verbleiben beide im Beschreiben
der conditio humana, den Formen unseres Seins.
Die Frage um Früh- und Spätwerk vermeidend, werden grundlegende
Züge als sich gleich
bleibend unterstellt, um zwei wirkungsmächtige
Philosophen des Zwanzigsten Jahrhunderts in der
Gemeinsamkeit ihres
Denkens zu skizzieren. Die Parallelen im Denken beider sind sicher
nicht augenscheinlich. Wurde Wittgenstein besonders durch die (anglophone)
analytische Philosophie
vereinnahmt, die in Heidegger ärgstes
Gegenbild sah, so war letzterer insbesondere für
Existenzialismus
und Hermeneutik impulsgebend. Ist Heideggers Fundamentalontologie
(später Seinsgeschichte) ein systematischer Entwurf, so übt
sich Wittgenstein durch aphoristisch
anmutende Gedankenspiele in
Sprachkritik. Die Ähnlichkeit beider Positionen zeigt sich
in der doppelten kritische Stoßrichtung beider Philosophen
gegen idealistische Metaphysik
einerseits und psychologisierenden
Materialismus auf der anderen Seite. Wie sich noch zeigen wird,
werden diese beiden Ansätze dem Vorwurf der Verdinglichung
ausgesetzt. Weder Heidegger noch
Wittgenstein versuchen sich in
der Konstruktion. Beide verbleiben in der Deskription, in der methodischen
Absage an Versuche der philosophischen Erklärung, deren Möglichkeit
nur
Chimäre ist. Der deskriptive Ansatz weist die Beziehung
zur Transzendentalphilosophie auf; dieser
beschreibt Bedingungen
der Möglichkeit von Phänomenen existentieller, jener von
sprachlicher Natur. Heidegger wendet die Frage nach dem Sinn von
Sein in das Fragen nach den
Möglichkeitsbedingungen eines Wesens,
das sich jene stellt. Indem die Frage auf den Fragenden
zurückgeworfen
wird, beschreibt er die Vorraussetzungen täglichen Handelns
und
Verstehens, der Möglichkeit eines Verhaltens zu sich und
der Rede darüber. Ebenso führen die
Betrachtungen Wittgensteins
in die alltägliche Lebenspraxis. Das Terrain der Idealsprachen
verlassend, verortet er seine Analyse in den situativen Sprachgebrauch,
dorthin wo sich das
Phänomen Sprache zeigt und stattfindet.
So nähern sich beide Philosophen von verschiedenen Seiten
der
philosophisch-anthropologischen Frage nach der conditio humana,
nach den
transzendentalen Formen menschlichen Seins. Was für
Heidegger die Existentiale sind, bezeichnet
Wittgenstein als Lebensformen.
Die Probleme der traditionellen Philosophie hoben an, weil die Frage
nach menschlicher Seinsweise und Sprachpraxis gar nicht oder schief
gestellt und damit die
Antwort verstellt worden ist. Diese Antwort
aber liegt offen vor uns. Für Heidegger wohnt uns ein
vorontologisches
Seinsverständnis inne, wir verstehen immer schon, was Sein
bedeutet, während wir es für Wittgenstein immer schon
verstehen, an Sprachspielen teilzunehmen.
Die alltäglichen
Phänomene sind uns, gerade weil sie alltäglich und immer
schon da sind, verborgen. (SZ 36 & PU 129) So wird das ontisch
Allbekannte ontologisch als Fremdes
gesehen. Wittgenstein und Heidegger
beschreiben jeder auf seine Weise einen Pfad, der zum beschreibenden
Freilegen der Möglichkeitsbedingungen von Bedeutung führt,
dem Aufzeigen der
Grenzen menschlichen Seins. Ist menschliches Dasein
Selbst- und Weltbezug, so gehören zur Form unseres
Seins die
gleichursprünglichen Phänomene Welt und sprachliche Verfaßtheit.
Martin Heidegger
Welt ist nach diesem Verständnis kein Gegenstand der Erfahrung,
sondern transzendentale
Lebensform. Wir haben immer schon eine Welt,
sind immer schon in der Welt. Welt ist kein Container, kein
materieller
Raum, in dem wir uns irgendwie aufhalten. Dieser Gefangenschaft
im
cartesianischen Bild der Subjekt-Objekt-Unterscheidung gilt es
zu entkommen, denn indem auch die cogitans
als Substanz vorgestellt
wurde, ward der Blick verstellt. Dem Körper stand nun die Entität
des Geistes inkommensurabel gegenüber. Auf diese dualistische
Verdopplung folgte die
Reduktion eines materialistischen Monismus.
Der Mensch wurde zur (biologischen) Maschine. Beiden
Vorstellungen
wohnt die Vergegenständlichung menschlichen Seins, die Verdinglichung
unseres Selbstverständnisses, inne. Deshalb üben Wittgenstein
und Heidegger Kritik an diesen
Modellen der Beziehung zwischen Mensch
und Natur und verweisen auf den kategorialen Unterschied zwischen
der Rede vom Menschen und gegenständlichen Prädikationen.
Sie gehen hinter
diese Vorstellung zurück, indem sie die Umkehr
des traditionellen Vorrangs des Unbeteiligten
vollziehen. Denn Menschen
sind immer schon in der Welt, in Geschehnissen und Lagen, involviert,
beschäftigt und eingebunden in den praktischen Lebensvollzug.
Das Phänomen der Welt ist
Möglichkeitsbedingung dieser
„Situationalität“ (Rentsch; 14). Daher muß
Welt holistisch verstanden werden. Sie ist ein Ganzes, nicht zusammengesetzt
aus Einzelfakten,
denn sie ist der Verstehenshorizont vor dem Einzelaspekte
erst verstehbar sind. Die Welt wird uns nicht
vermittelt, sie ist
ein Konstitutivum für unser Dasein; wir sind unvermittelt da.
Der Mensch ist immer schon eingebettet in ein Bedeutungsganzes,
in ein Weltbild und Bezugssystem (ÜG
§83, 93), einen Verweisungszusammenhang
(SZ 82).
Gleichursprünglich zum „Verstehensmedium“ (Stegmüller;
148) Welt
ist die Sprachlichkeit. Denn Menschsein findet Vollzug
in Lebenswelt und Sprachwelt, und unser
Selbstverhältnis ist
sprachlich verfaßt genauso wie sich der Sinn von Welt in der
Sprache artikuliert. So konstituieren Welt und Sprache die Grenzen
unseres Verstehens. Ein Hintergehen
beider Phänomene ist uns
unmöglich, sind sie immer schon Vorraussetzung jeglichen Verstehens.
Nur scheinbar ist der Rückzug aus der Welt möglich. Von
alltäglicher
Praxis distanziert ist die theoretische Perspektive
einnehmbar. Doch ist auch diese nicht frei von
Situationalität.
So ist es nur scheinbare Möglichkeit, wie Descartes den Wachsball
zwischen den Fingern zu rollen und in der Draufschau die Welt nach
Subjekten und Objekten, Innen und
Außen, zu sezieren. Dieser
Unterscheidung wird der Vorrang gegeben, weil übersehen wird,
daß sie nur Derivat eines ursprünglicheren Phänomens
ist. Denn der Zweifel an der
Existenz einer Außenwelt setzt
Welt schon voraus. Unsere vorgängige Erschlossenheit oder
Lebensform,
das Daß wir immer schon in der Welt sind und darum verstehen,
ist
Voraussetzung für alles Fragen nach dem Menschen, auch
nach dem Verhältnis von Mensch und Natur.
Dahinter kann nicht
zurückgegangen werden und darum muß auch ein naturalistischer
Reduktionismus die Situationalität immer mitbedenken, welche
er nicht in eigene Termini fassen
kann. Wir sind in der Welt und
darum denken und verstehen wir. Sonach greifen jene Bedeutungstheorien
zu kurz, welche auf Grundlage der Subjekt-Objekt-Differenz die mysteriösen
sinnstiftenden
Vorgänge zwischen mentalen Zuständen und
materiellen Gegenständen erklären.
Wittgenstein und Heidegger
weisen dies Bild mentaler Repräsentation der Wirklichkeit zurück,
denn Sinn läßt sich nicht über Objekte stülpen.
Zu Tatsachen Bedeutung zu
addieren, konstituiert keinen, macht keinen
Sinn. Es bedarf immer schon eines Bewandtniskontextes, vor
dessen
Hintergrund es erst möglich ist Urteile zu fällen. Dieser
muß
bereits verstanden sein, ehe etwas als etwas erfaßt
werden kann. „Alle Auslegung, die
Verständnis beistellen
soll, muß schon das Auszulegende verstanden haben.“
(SZ 152) Um an Heidegger anzuknüpfen: Eine Kombination aus
Holz und Eisen trägt seine Bedeutung
als Hammer nicht in sich,
sondern erlangt diese im Zusammenhang mit Nagel, Brett und Zweck
des Heimwerkelns. Und auch Holz und Eisen bekommen erst Bedeutung
vor dem Hintergrund der Materialkunde.
Ist die Frage nach dem Daß
der Welt nicht sinnvoll, so trifft dies gleichermaßen zu für
den Zweifel an der Existenz anderer Geister. Wie die Skeptikerin
an der externen Welt die
eigene Situationalität vergißt,
so ersteigt solch solipsistische Skepsis vor dem
sinnkonstitutiven
Hintergrund sprachlicher Verfaßtheit und zieht dadurch die
eigenen Fundamente in Zweifel. Sprache ist ein soziales Phänomen,
menschliches Sein ist Mitsein
(Heidegger), eine Privatsprache nach
Wittgenstein unmöglich. Menschsein findet sonach statt in einer
Welt, die sprachlich verfaßtes Bezugssystem ist und durch
gemeinsame Praxen
erworben wird. Ist (Welt)-Verständnis kontextuell,
dann müssen kulturelle Organisation und
Sinngebung einer Gesellschaft
Basis und Verständnishorizont für die Frage nach dem Menschen
sein. Aus der Mitte täglicher Praxis heraus liegt der gelingende
Ansatz in der
Beschreibung jener Bedingungen, welche die Möglichkeit
menschlicher Praxen eröffnen und
beschließen. Sprachspiele
sind an Lebensformen gebunden (Wittgenstein), Seinsweisen an Existentiale
(Heidegger). Weil sie ihnen zugrunde liegen, sind diese Formen des
menschlichen Lebens
unhintergehbar. Sie sind Möglichkeitsbedingungen
unseres Seins ohne selbst fundamentiert werden zu
können. Eine
Letztbegründung, ein Tieferes hinter dem Leben, gibt es nicht.
„Es gibt kein Draußen; draußen fehlt die Lebensluft.“
(PU 103) Wir kommen aus den
Grenzen von Leben und Sprache nicht
heraus, wir handeln und fällen Unterscheidungen vor dem
Hintergrund
eines Gesichtskreises, der als Ganzes nicht zu rechtfertigen oder
„gut
begründet“ ist. Ein jeglicher Begründungsdrang
stößt irgendwann an sein Ende,
aber dieses “ist
nicht die unbegründete Voraussetzung, sondern die unbegründete
Handlungsweise.“ (ÜG § 110) Eine transzendente Sicherheit
gibt es nicht. Dieser
Unverfügbarkeit von Sinn des Daß
sind wir ausgesetzt, menschliches Sein ist grundlos und
abgründig.
Der Mensch hat, um es mit Stirner zu sagen, sein’ Sach’
auf
Nichts gestellt.
Ludwig
Wittgenstein
Menschliches Leben ist kontingent, endlich,
kontextualisiert. Dasein
vollzieht sich in einer Welt intersubjektiver Bedeutungen und Sprache
ist Trägerin dieser. Die Hervorhebung der sozialen Kategorie
durch Wittgenstein und Heidegger
trägt diesem Rechnung. Das
darf allerdings nicht gedeutet werden als empirischer Pragmatismus
oder die Reduktion philosophischen Fragens auf die Soziologie. Denn
die Rede führt
ausschließlich über die Möglichkeitsbedingungen
menschlichen Seins, deren ontischen
(tatsächlichen) Manifestationen
sich die Einzelwissenschaften widmen. Sogleich zeigt das Apriori
der Situationalität einen wissenschaftskritischen Zug. Entgegen
der selbstproklamierten
Distanz ist auch die naturwissenschaftliche
Betrachtungsweise eingebettet in praktische Lebensbezüge
und
ist somit nur ein Zugang und nicht der privilegierte zur Welt; lebensleitender
Status
kommt ihr nicht zu. Die eindimensionale Erzählung vom
Menschen kann zugunsten eines Perspektivismus
aufgeben werden, ohne
dem Vorwurf des Relativismus zu erliegen. Ferner muß der Grundlosigkeit
des Daseins keine Verzweiflung folgen, denn die Unfundiertheit läßt
sich auch als das
Offenstehen für den Selbstentwurf lesen.
Ist Philosophie die Infragestellung des bislang
Selbstverständlichen,
so wäre es für sie an der Zeit sein, den Drang nach
Letztbegründung
zu hintergehen und zu erkennen, daß sie wie jegliche Praktiken
der Lebenspraxis erwächst. So wird Denken zur Therapie gegen
das Verstelltsein unseres
Verständnishorizonts durch irrtümliche
Bilder objektivierter Rede. Unsere Einbettung in das
Gewebe von
Sprache, Welt und Sein rückt näher ins Gesichtsfeld und
das Staunen
vor der Welt ließe sich erneut affirmieren. Denn:
„Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische,
sondern daß
sie ist.“ (TLP 6.44)
Literatur
Apel, Karl-Otto: Transformation
der Philosophie 1 – Sprachanalytik, Semiotik, Hermeneutik;
Frankfurt / Main 1973.
‘Wittgenstein
and Heidegger’; in: Christopher Macann (hrg.): Martin Heidegger
– Critical Assessments; Vol. III; London & New York 1992;
S. 341-374.
Dreyfus, Hubert L.: Being-in-the-world;
Cambridge / Massachusetts & London 61995.
Guignon, Charles:‘Philosophy
after Wittgenstein and Heidegger’; in: Philosophy
and Phenomenological
Research; Vol. 1; # 4; June 1990.
Heidegger, Martin:
Sein und
Zeit; Tübingen 182001. [SZ] Was ist Metaphysik;
Frankfurt 111975.
[WM]
Rentsch, Thomas: Wittgenstein
und Heidegger – Existential- und
Sprachanalysen zu den Grundlagen
Philosophischer Anthropologie; Stuttgart 1985.
Stegmüller, Wolfgang: Hauptströmungen
der Gegenwartsphilosophie; Stuttgart
41968.
Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosopicus;
in: Schriften
1; Frankfurt / Main 1969. [TLP] Philosophische Untersuchungen;
in: Schriften 1; Frankfurt / Main 1969. [PU]
'Zu Heidegger’; in: Friedrich Waismann: Wittgenstein und der
Wiener Kreis;
Frankfurt 1967; S. 68f. Über
Gewißheit; Frankfurt / Main 1971. [ÜG]