logo logo

Erschienen in: Ausgabe #4 vom März 2005



Das Philosophie-Studium, Freiburger Version

von Felisande und Timotheus Schneidegger; Redakteure der Freiburger Philo-Anarcho-Gazette "Lichtwolf - Zeitschrift trotz Philosophie"


Von dem zu groß geratenen Dörflein im Breisgau wird viel geschwärmt: Nördlichste Stadt Italiens, die Sonnen-, Öko- und Fahrradstadt. Freiburg ist ein überschaubares Örtchen, das von der traditionsreichen Uni in ihrem Herzen genauso geprägt wird wie von der bezaubernden Altstadt mit den Bächle, die im Mittelalter Vieh tränkten und Abfälle herausspülten, und von dem Münster, auf dessen Vorplatz die beste Bratwurst der Welt verkauft wird. Wer es heiß, stickig und immer etwas ete-petete mag, kommt sommers in Freiburg voll auf seine Kosten, allen anderen gehen das subtropische Klima und der erzbadische Hang zum Diminuitiv (zum “Diminuitivle”) gehörig auf die Haarwurzeln, von den übrigen Abgründen der hiesigen Mundart ganz zu schweigen (auch wenn Sachsen so manchen abgehärtet haben mag).


bild

Freiburg ist, wie wir auf dieser Postkarte sehen, recht beschaulich. Allerdings zweifelt die EiGENSiNN-Redaktion stark daran, das vor dem Münster die weltbeste Bratwurst verkauft wird.


Der romantische Aberglaube, Freiburg sei eine der letzten Hochburgen für Linke, Ökos und Punks, wird allerdings enttäuscht: Das müffelnde Völkchen, das sich mit einer Palette Maître Philippe aus dem Pennymarkt und seinem Hundezoo am “Denkmal” vor ausgerechnet dem BWLer- und Juristenbunker der Uni aufhält, hat mit Punk in etwa soviel zu tun wie Freiburgs Linke mit Politik oder unsere Ökos mit Umweltschutz: Wer seinen Biomüll in Plastiktüten in die braune Tonne schmeißt, hat wohl einmal zuviel gedünsteten Tofu inhaliert. Und ein grüner Bürgermeister kann genauso Zuwendungen streichen wie ein andersfarbiger. Weil aber doch alles in Freiburg viel harmloser, niedlicher und netter erscheint als anderswo, gehen die paradiesischen Zustände beidseits der Bächle manchmal grotesk in Richtung Disneyland, z.B. als die NPD mit knapp 100 Mann auf 14.000 Gegendemonstranten traf, die den Naziaufmarsch unter einem Stadtfest begruben, oder als der Polizeipräsident höchstpersönlich auf einer Demo für den Erhalt der linken Schlangengrube KTS (Kulturtreff in Selbstverwaltung) mit Flugzetteln um einen friedlichen Ablauf bat und dem Schwarzen Block vor Staunen die Fahne aus der Hand fiel (daß die Polente mit der hiesigen Hausbesetzer- und Alternativenszene auch ganz “traditionell” umspringt, soll dabei nicht verschwiegen werden).


Demonstriert wird trotzdem oft und gerne. Vor allem von den 20.000 Studierenden der Freiburger Uni – nein, natürlich nicht von allen 20.000! Aber doch ist mit einem guten Teil von – gemäß des letzten Spiegel-“Rankings” – Deutschlands zweitbesten Studenten viel mehr anzufangen, als Radfahren, Backgammonspielen und ins Tanztheater gehen, um mal durch die Hintertür den Bezug zu Tocotronics Hymne herzustellen, die hier in jeder der zahlreichen Studentendiskos mindestens einmal am Abend gegröhlt wird. Die Freiburger Uni zieht überdurchschnittlich viele Abituriennten von jenseits der Region an, insbesondere der hohe Anteil von ausländischen Studierenden bringt die Atmosphäre eines internationalen Flughafens von den Freiburger Straßen in die Unigebäude.


Geknechtet werden sie wie Studierende in ganz Deutschland: Nicht nur durch die Philosophie-typische Vereinsamung in der totalen Freiheit, totalen Verantwortung und totalen Aussichtslosigkeit, auch durch die Hochschul-, d.h. Abrichtungs- und Sparpolitik der Landesregierung. Als würde dies die Reife zum mündigen Bürger nicht schon genug erschweren (der entsprechende Absatz ist auch ersatzlos aus dem neuen Landeshochschulgesetz gestrichen worden), sind die ASten in BaWü und Bayern als angebliche Brutzellen des Linksterrorismus seit 1978 landesgesetzlich geknebelt und gefesselt: Sie dürfen sich lediglich zu sportlichen, musischen und sozialen Themen äußern. Dank der personellen und finanziellen Unterversorgung funktionieren Grundleistungen wie Erstsemesterbetreuung und Protestaktionen meistens nur mit Ach und Krach. Freiburg hat es dabei relativ gesehen gut, denn die Zahl der engagierten (d.h. selbstausbeutungswilligen) Studierenden ist groß im Vergleich zu anderen süddeutschen Unis, an denen dort Fatalismus herrscht, wo hier mit viel underdog-Bewußtsein das Beste aus der offiziellen Statistenrolle der Studierenden gemacht wird. –


Die Freiburger ist keine Campus-Uni, doch wie die Leipziger weitgehend im Stadtkern konzentriert, der angehende Philosoph hat in seinem akademischen Alltag also keine weiten Wege in Kauf zu nehmen. Die meisten seiner Veranstaltungen finden im innenstädtischen Kollegiengebäude I (KG I) statt, seine Bücher sucht er in der dortigen Seminarsbibliothek oder auf der gegenüberliegenden Straßenseite in der Uni-Bibliothek. Dieser Standortvorteil wird sich 2007 vorerst erledigt haben, wenn im Zuge des großangelegten Umbaus der gesamte Inhalt der UB in die 15 Minuten entfernte Stadthalle verfrachtet wird. Über die Austattung der Büchereien an Fachbüchern, Zeitschriften, Kommunikations- und Multimediakram ist dabei nicht zu klagen. Der Haupteingang des KG I wird von Homer und Aristoteles gesäumt – das Idyll der vor ihnen in der Sonne verweilenden Jungakademiker darf in keinem Beitrag über die Freiburger Uni fehlen; hier jedoch wird sich auf das wesentliche beschränkt (siehe Bild; ohne Studierende). Zur Zeit wird an selbnämlicher Stelle fleißig gebaut; der Abtransport der beiden Figuren weckte bei vielen zuerst die Erinnerung an die Bilder vom Abriß der Saddamstatuen in Bagdad und dann die damit verbundene Befürchtung, das Ausbildungsministerium wolle nun ernstmachen mit seinem Elitisierungsprogramm, das von Seiten der Studierenden gern mit “Macher und Lenker statt Dichter und Denker” zusammengefasst wird. Die beiden im Volksmund “Max und Moritz” genannten Griechen sollen jedoch bald wieder ihren angestammten werbeträchtigen Platz einnehmen.


bild
Max und Moritz sind z.Z. im Urlaub


Die hoch über dem Portal prangende Inschrift “Dem ewigen Deutschtum” wird seit 1945 im Gegensatz zur Frontaufschrift “Die Wahrheit wird euch frei machen” (Welche Wahrheit? Welche Freiheit? Was hat das mit dem Zugang zum globalen Arbeitsmarkt zu tun?) nicht mehr nachvergoldet, sondern verschämt der Witterung überlassen. Die Mauern des KG I, das dem frühen Albert Speer zur Ehre gereicht hätte, tragen noch heute die Einschußlöcher aus den Tagen, da hier der Volkssturm tobte und Martin Heidegger sein Werk aus der zerbombten Stadt in sein Heimatdörflein Meßkirch schaffte. Vor etwa einem Jahr wurde dem Innern ohne Rücksicht auf Verluste des Geschmackssinns ein Stück Altehrwürdigkeit zurückgegeben, bspw. durch viel Rot und teures Holz in der Aula oder durch popelgrüne Dachpappen an den Flurwänden in Anlehnung an griechische Mauerreliefs. Die Hörsäle indes fallen weiterhin der Sitzreihe nach auseinander.


Als Wirkungsstätte des in jeder Hinsicht letzten großen deutschen Philosophen, Martin Heidegger, tut sich die Freiburger Philosophie nicht schwer mit der Wahl ihres Dreh- und Angelpunkts. Um ihn führt kein Weg herum, sein Name fällt in jeder Veranstaltung mindestens einmal, besonders wenn man sich vollkommen sicher vor ihm wähnt. Wer den “Jargon” (Adorno) erst einmal erlernt hat, will ihn schließlich auch anwenden wann und wo immer es möglich ist. Obwohl sich inzwischen immer mehr Dozenten trauen, auch mal kritische Worte zu verlieren und den “faulig ramschigen Tautologientiefsinn” (Eckhard Henscheid) zumindest in den von Gadamer oder Derrida geleisteten Updates weitertragen, ist Freiburg kein Ort für Studierende, die sich partout nicht mit Heidegger arrangieren können.


Gelehrt wird in Freiburg von zwei Lehrstühlen, zwei Professuren und einer in unserem Fach üblichen Unmenge von Privatdozenten. Relativ frei von Heideggerianismen ist der Lehrstuhl II, der jedoch zum Teil von der katholischen Kirche gesponsert wird und daher nur Theolosophen hält. Seit diesem Semester lehrt von dort aus Maarten J.F.M. Hoenen (sprich: “Huhnen”), der den nicht nur in Freiburg verbreiteten epigonenhaften Personenkult gerne mal aufs Korn nimmt und die Philosophie – trotz oder wegen seines Schwerpunkts Antike, Scholastik, Mittelalter – eher historisch anpackt. Er und sein Troß bringen damit etwas Abwechslung ins Vorlesungsverzeichnis. Gerne wird kolportiert, in früheren Zeiten haben die Inhaber der beiden Lehrstühle lediglich per Hauspost miteinander kommuniziert. Auf dem Lehrstuhl I des Todtnaubergers sitzt heute Günter Figal, der die griechische Antike liebt und Hermeneutik lehrt, was so viel ist wie sich Notizen zu machen und sie zwei Stunden später nicht mehr entziffern zu können. Eine wesentlich von Heideggers Lehrer Edmund Husserl ausgehende Lehre betreibt Hans-Helmuth Gander, der die mit der Leitung des Husserl-Archivs verbundene Professur innehat. Seine Phänomenologie hat zwar einen deutlichen hermeneutischen Drall Richtung Todtnauberg, jedoch bleibt Gander von allen Lehrenden am wenigsten seinen Leisten treu und scheut sich nicht, in bislang unbekannte Themenbereiche vorzustoßen. Die Ethikprofessur wird von der Lore Hühn ausgefüllt, deren Leib- und Magenthema der deutsche Idealismus ist, darin vor allem der in seinem 150. Todesjahr angeblich sträflich vernachlässigte Schelling. Besonders erwähnenswert, neben den außerordentlichen Professoren Regine Kather und Wilhelm Metz, sind Freiburger Urgesteine wie Ute Guzzoni und Friedrich-Wilhelm von Herrmann, die noch von Heidegger höchstpersönlich in die Philosophie geführt wurden und entsprechend – auch lange nach ihrer Emeritierung – hochkarätige Veranstaltungen halten.


Namen, die im Freiburger Philosophiestudium rein statistisch am häufigsten fallen, sind neben den Hausgöttern Heidegger und Husserl die folgenden: Heraklit, Platon, Aristoteles, Kant, Schelling, Hegel, Nietzsche, Carl Schmitt, Adorno, Gadamer. In letzter Zeit liegt Interdisziplinarität (oder Verwischung von Fachbereichsgrenzen) immer stärker im Trend, was den Philosophie-Adepten mit Namen wie Ernst Jünger, Peter Handke und Helmut Berger konfrontiert sowie mit eigentlich jedem Fach ausgenommen Petrochemie, vorrangig aber mit den anderen sog. Kulturwissenschaften. Der Stallgeruch Freiburgs ist unverwechselbar. Während andere noch nach einem hippen Anglizismus für “Profilierung” suchen, der nicht homonym mit einem Fachbegriff der Kriminalistik ist, hat die Freiburger Philosophie mit ihrem Schwerpunkt “Hermeneutik und Phänomenologie” längst Tatsachen geschaffen. Methoden und Inhalte der ansonsten weit verbreiteten Analytischen Philosophie sucht man hier inzwischen vergebens. Symptomatisch dafür ist, daß es seit zwei Jahren unter den Lehrenden niemanden mehr gibt, der sich zutraut, Logik zu unterrichten, weswegen in jedem Wintersemester ein Dozent des “Instituts für mathematische Logik” kommen muß. Leipzig, du hast es besser!


Doch nach wie vor gehört der Logikschein auch hier zu den Obligationen des Grundstudiums. Neben der kleinen Quantorenkunde gilt es auch noch, einen zweisemestrigen (!) Interpretationskurs abzuleisten, eine Veranstaltungsart, die von Oberhermeneut Figal eingeführt wurde und das einjährige Studium eines philosophischen Klassikers bedeutet. Kenntnis mindestens einer alten Sprache ist formal erforderlich, spätestens im Hauptstudium aber sollten aus rein pragmatischen Gründen sowohl in Altgriechisch als auch Latein Grundkenntnisse vorhanden sein, weil an Begriffen wie aletheia, technae, thaumazein, essentia, adaequatio usw.usf. in den Veranstaltungen nicht gespart wird. Die Sprachprüfungen des Oberschulamts (für Lehramtstudenten) sind gnadenlos, die universitären (für alle anderen Abschlüsse) dagegen ein Witz. Nach der Zwischenprüfung, die im Hauptfach eine vierstündige Klausur (vergleichbar dem schriftlichen Abi) und dreißigminütige mündliche Prüfung bedeutet, und drei besuchten Hauptseminaren, deren Anspruch nicht wesentlich höher ist als der der Proseminare, folgen Magisterarbeit oder Staatsexamen. BA/MA-Studiengänge sind noch nicht eingeführt, werden aber bald folgen. Es ist zu befürchten, daß es dann zunächst einmal für einige Semester kräftig im Gebälk des hiesigen Seminars ächzen und krachen wird, sind die Veranstaltungen doch bereits jetzt jenseits der Schmerzgrenze überfüllt. Die Geschäftsleitung versucht der akademischen Überbevölkerung seit diesem Semester mit Numerus Clausus, Zulassungstests und Anmeldelisten Herr zu werden.


Das Freiburger Philosophiestudium ist, zusammengefasst, nicht schlimmer und nicht besser als andernorts. Es hat, ganz wie die Stadt und die Uni, seine Härten und seine lichten Momente. In Zeiten zunehmender Abrichtung auf die ominösen Bedürfnisse einer noch ominöseren Wirtschaft und der Amerikanisierung von Lehrbetrieb und –inhalt ist es aber vor allem eins, nämlich anders. Freiburgs stures Festhalten an der Kontinentalphilosophie macht es zu einem kleinen Reservat in der postmetaphysischen Landschaft. Das gilt es zu bedenken, im Guten wie im Schlechten. Als erste Anlaufstelle für näher Interessierte sei die Fachschaft Philosophie mit ihrer Homepage www.philo-freiburg.de und ihrer Erstsemesterbroschüre “Lichtung” empfohlen. In der kommenden Ausgabe 1/2005 der Zeitschrift “Information Philosophie” wird es voraussichtlich einen ausführlichen Beitrag zur Neuausrichtung der Freiburger Philosophie geben, die natürlich auch, aber nicht nur in jeder Ausgabe der vierteljährlich erscheinenden Untergrundzeitschrift Lichtwolf (www.lichtwolf.de) abgehandelt wird.