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Erschienen in: Ausgabe #4 vom März 2005



Im Interview: Richard Raatzsch

EiGENSiNN: Wir haben im Internet eine kurze Biographie von Ihnen gefunden, in der erwähnt wird, dass Sie, bevor Sie studiert haben, eine Eisengießerlehre gemacht haben. Das ist ja nun nicht gerade die klassische Vorbildung für einen Philosophen. Wie sind Sie von dort eigentlich zur Philosophie gekommen? Oder hat das vielleicht überhaupt nichts miteinander zu tun?

RAATZSCH: Die Frage ließe sich dadurch beantworten, dass ich Ihnen jetzt mein Biographie erzähle. Das werde ich aber nicht tun, weil das einfach zu lange dauert. Man kann sie auch dadurch beantworten, dass man sagt: Was lag in jener Tätigkeit, was es verständlich macht, dass man dann zu dieser Tätigkeit übergegangen ist? Und da mag es irgendwelche Dinge geben, die man tatsächlich anführen kann. Aber soweit mir da welche vorschweben, sind mir die zu weit hergeholt. Und ein dritter Weg ist der, dass man einfach sagt: Was war in dieser Person, die damals Former und Gießer war, was dazu führte, dass sie später versucht hat, Philosoph zu werden? Und da würde ich sagen, das, was da in dieser Person war, war - wie mein Lehrer gesagt hat - Michael Kohlhaas.

EiGENSiNN: Gab es da irgendein ausschlaggebendes Erlebnis, so dass Sie sich sagten, jetzt muss es doch Philosophie sein?

RAATZSCH: Ich habe schon als Schüler bestimmte Sachen gelesen, die mit Philosophie zu tun hatten. Aber dann später, was direkt dazu geführt hat, war der Unterricht, den ich bei jemanden hatte an der Universität, der Philosoph war, sich hauptsächlich mit Hegels Philosophie der Mathematik und dem Marquis de Sade befasste, und Peter Wermes hieß. Er lebt leider nicht mehr. Bei dem hatte ich das Gefühl, das ist das, was ich auch machen wollte. Sachen, mit denen ich mich vorher beschäftigt und die ich gelesen hatte, die Form, wie ich diskutiert hatte, die hätte ich selber nicht auf den Begriff Philosophie bringen können, weil ich einfach nicht wusste, dass man das Philosophie nennt, was ich da mache und was ich da lese und wie ich da rede. Aber als ich dann bei ihm einen Kurs besuchte, hatte ich das Gefühl: Das ist es. Also zufällig vielleicht.

Richard Raatzsch
Richard Raatzsch

EiGENSiNN: Sie haben vorher etwas anderes studiert. Was war das?

RAATZSCH: Lehrer für Staatsbürgerkunde und Geschichte (lautes Lachen). Das ist wirklich der größte Schwachsinn, den man sich vorstellen kann. Also Geschichte natürlich nicht. Aber Lehrer für Staatsbürgerkunde, das ist wirklich der größte Unsinn.

EiGENSiNN: Sie sprechen manchmal von „Ihrem großen Lehrer“. War das der Peter Wermes, von dem Sie gerade sprachen?

RAATZSCH: Nein. Mein Lehrer ist Peter Philipp ... Den kennt niemand groß. (Und ich kann mich nicht erinnern, jemals von meinem „großen Lehrer“ gesprochen zu haben! Der war ja man mit Mühe und Not 1 Meter 65.)

EiGENSiNN: Was war das für ein Mensch?

RAATZSCH: Er war Logiker und Philosoph. In der Logik hat er sich vor allem mit Modallogik und deontischer Logik – der Logik der Normsätze – beschäftigt. Der philosophische Standpunkt, den er eingenommen, und den er auch versucht hat, in die Betrachtung der Logik einzubringen, war geformt oder abgeleitet vom späten Wittgenstein. Durch ihn bin ich auch an Wittgenstein gekommen. Wie das halt bei Leuten, die nicht selber denken, ist: dass man jemanden findet, der einen beeindruckt; und dazu muss man möglicherweise ein bisschen selber denken, um beeindruckt zu sein. Dass man dem Rat dessen, der einen beeindruckt, folgt. Was, wie ich glaube, eine begriffliche Wahrheit ist, zumindest zum Teil, weil, wenn man ihm nicht folgen würde, wäre es sehr fraglich, ob man wirklich beeindruckt ist. So kommen Leute – am Anfang jedenfalls – dazu, dass sie in diese oder jene Richtung laufen. Und dann müssen sie von selber weitergehen.

EiGENSiNN: Was hat Sie an Ihrem Lehrer so sehr beeindruckt?

RAATZSCH: Zuerst wohl einfach seine Klugheit, im Sinne von Scharfsinnigkeit. Er war einer der scharfsinnigsten Leute, die ich überhaupt jemals kennen gelernt habe. Dann eine große intellektuelle Redlichkeit. Einen ganz tiefen Humor. Ein großes Verständnis für alles Menschliche, auch alle Schwächen, verbunden mit Strenge gegen sich selbst und die, die ihm nahe standen. Zu viel Strenge gegen sich selbst, wenn ich das sagen darf. Aber er war auch voller Lebensfreude und ein sehr leidenschaftlicher Mensch, mit ungeheurer Willensstärke, die Leidenschaften im Zaum zu halten. Ein unbedingtes Streben nach Klarheit. Ein phänomenales Vermögen, komplizierte Dinge plausibel zu machen, anschaulich zu machen, zu erklären. Er konnte unglaublich gut erklären.

EiGENSiNN: Rührt daher Ihre Vorliebe für Beispiele?

RAATZSCH: Das weiß ich nicht genau, ob das daher kommt, oder ob ich die schon mitgebracht habe. Ich glaube, die rührt eher nicht von ihm. Es ging ihm bei mir manchmal sogar zu weit.

EiGENSiNN: Gibt es ansonsten noch Leute, die Sie sehr beeindruckt haben, von denen Sie glauben, viel gelernt zu haben?

RAATZSCH: In meinem Lebensweg bin ich zuerst beeinflusst worden von einem Logiker aus Halle, Günter Schenk, mit dem ich zunächst durch äußere Umstände zusammen gebracht wurde. Wir mussten zusammen arbeiten, wir waren dazu verdammt worden, zusammen zu arbeiten. Er hatte eine Strafe bekommen, weil er etwas politisches Unkorrektes gemacht hatte. Und ein Teil dieser Strafe war, dass er als wissenschaftlicher Berater eines studentischen Forschungsprojektes fungieren musste; was man nicht so gerne machte, weil man lieber seine eigene Forschung gemacht hat. Ich war dort der studentische Leiter, sozusagen der studentische Häuptling. Ich habe den Hut aufgesetzt bekommen von den Studenten, und er hat den Hut aufgesetzt bekommen von der staatlichen Seite. Dadurch saßen wir auf einmal zusammen im Zelt und mussten uns einigen. Was dazu führte, das ich ihn näher kennen gelernt habe und er mich näher kennen lernte. Das führte dazu, dass wir uns stundenlang unterhielten. (Das hat er immer gemacht: sich junge Leute aussuchen und die unter seine Fittiche nehmen, bis er der Ansicht war, die können jetzt selber laufen, und dann hat er sich neue Leute gesucht. In gewissem Sinne die Verkörperung des Begriffs des akademischen Lehrers.) Man bleibt dann natürlich nicht bei dem Thema, worüber man sich unterhalten soll, sondern geht zu dem, worüber man sich unterhalten möchte. Das waren die ersten wichtigen Impulse.

Dann habe ich noch jemanden gehabt, von dem ich auch einiges gelernt habe, obwohl das sehr viel schwerer anzugeben ist, worin das bestand. Er war in Halle Professor für historischen Materialismus – Dieter Paseman. Hauptsächlich hat er gearbeitet einerseits zu Marx, andererseits zu den großen sozialphilosophisch-soziologischen Gestalten in der, damals in der DDR so genannten, spätbürgerlichen Tradition: Tönnies, Weber, Durkheim, Simmel. Bei dem habe ich dann auch promoviert. Aber der wollte mich dann nicht behalten, unter anderem mit dem Argument, ich hätte meine Dissertation gar nicht bei ihm geschrieben, sondern bei mir selber. Was stimmt, aber nicht ganz. Ich hab schon was von ihm gelernt. Und auch von Ingolf Max, der jetzt hier bei den Logikern ist und in Halle 2 Jahre vor mir mit dem Studium angefangen hatte. Von dem habe ich auch einiges lernen dürfen, was bis heute für mich wichtig ist. Das waren so die Leute, die für mich am wichtigsten waren, bis ich halbwegs auf eigenen Füßen stehen konnte.

EiGENSiNN: Worüber haben Sie promoviert?

RAATZSCH:Über Traditionsbegriffe in ausgewählten Einzelwissenschaften und in der marxistisch-leninistischen Philosophie.

EiGENSiNN: Wenn Sie eine Handbibliothek mit nur sehr wenigen Büchern bestücken sollten, und sehr lange nur mit dieser Bibliothek auskommen müssten, was würde das alles drinstehen?

RAATZSCH: Wenn es sechs Bücher sein dürften, würde ich wahrscheinlich drei belletristische und drei philosophische Sachen mitnehmen. Bei den belletristischen würde ich neben „Catch 22“ von Joseph Heller, einen Band sämtlicher Gedichte von Goethe und wahrscheinlich von Berthold Brecht das „Arbeitsjournal“ mitnehmen, was ja schon nicht mehr wirklich Belletristik ist. Bei den philosophischen wären es wahrscheinlich die Predigten und Traktate von Meister Eckhart, die manche vielleicht als noch nicht richtig philosophisch ansehen würden, von Frege die „Logischen Untersuchungen“ oder die „Grundlagen der Arithmetik“, wahrscheinlich aber die „Logischen Untersuchungen“, und von Wittgenstein den ersten Band der Werkausgabe.

Goethes 

Gedichte    Catch 22    Traktate    Wittgenstein Werkausgabe
solche Sachen würden wir, unter anderen, in der Handbibliothek von Richard Raatzsch wiederfinden

EiGENSiNN: Wenn zu Beginn des Studiums jemand zu Ihnen käme, um Sie zu fragen, wie er am besten Philosophie studieren sollte, was würden Sie da antworten?

RAATZSCH.: Folge deinem Instinkt, und deinem Gewissen.

EiGENSiNN: Und deinem Lehrer?

RAATZSCH: Nein, das ist die Konsequenz daraus, eine mögliche Konsequenz. Oder es bedeutet dasselbe, nur von der anderen Seite betrachtet. Aber es kann durchaus sein, dass jemand keinen Lehrer findet, es kann durchaus sein, dass man durch Umstände oder irgendetwas anderes nicht dazu kommt, irgendjemanden als seinen Lehrer zu identifizieren. Was ich in den meisten Fällen für schade halte. Aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass sich Leute zu sehr interessanten Persönlichkeiten entwickeln, ohne jemals einen wirklichen Lehrer zu haben. Ich weiß zum Beispiel nicht, ob Kant einen Lehrer hatte. Das heißt, ich kann mir durchaus vorstellen, dass jemand so wird wie Kant, ohne jemals einen Lehrer gehabt zu haben. Da ich in dieser Hinsicht nichts über Kant weiß, würde das bedeuten, dass, wenn es nicht anders ginge, ich Kant nicht für eine bedeutende Figur halten könnte. Das ist natürlich Unsinn. Ich weiß auch nichts über die Lehrer von Leibniz oder Meister Eckhart. Meine persönliche Erfahrung ist jedoch so, dass die meisten Leute, die ich kenne, irgendeinen Lehrer hatten, und dass man relativ viel über Menschen weiß, wenn man weiß, welche Lehrer sie hatten. Möglicherweise auch, von wem sie selber die Lehrer sind. So wie man die Moral eines Menschen zum Teil daran erkennen kann, wen er schätzt und wen er nicht schätzt, so kann man auch das intellektuelle Relief erfahren dadurch, dass man weiß, wer seine Lehrer und wer seine Schüler sind, und natürlich auch weiß, wie die Beziehung ist. Es kann sein, dass ich jemanden als Lehrer habe, mich aber hauptsächlich gegen ihn wende. Deshalb muss man schon wissen, ob das eine Schüler-Lehrer-Beziehung dieser Art oder jener Art ist. Aber ich kann mir auch vorstellen, dass es Leute gibt, die keinen Lehrer haben, die sich sozusagen selber am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen.

EiGENSiNN:: Ich formuliere die Frage noch einmal ein wenig anders: Sebastian Rödl hat einmal sinngemäß gesagt, dass es zwei verschiedene Arten gibt, Philosophie zu studieren: entweder man liest sehr viel in die Breite und spezialisiert sich möglicherweise gar nicht oder nur sehr spät, oder aber man fängt an, indem man sich an einer Stelle sehr tief in die Tiefe bohrt. Was würden Sie für sinnvoller halten?

RAATZSCH: Zuerst einmal denke ich, dass es mehr Arten gibt als nur diese beiden. Oder, genauer, das Schema ist zu einfach. Wenn ich mich dazwischen entscheide müsste, würde ich wahrscheinlich sagen, das zweite ist besser. Aber es ist nicht ganz klar. Wenn Sie so ein Werk nehmen wie „Varieties of Religious Experience“ von William James: das ist ein Buch, das durch die Breite des dargestellten Materials und die Form, in der es dargestellt wird, wirkt. Und man könnte sagen, dass einem dieses Buch durch die Breite des Materials, in der Anordnung, in der es präsentiert wird, einen tiefen Einblick in das Wesen der Religion gibt. Wenn das richtig ist, dann müsste der Unterschied zwischen Breite und Tiefe nicht nur zu wenig sein, in dem Sinne, dass es noch mehr Sachen geben kann, sondern dass es keine wirkliche Alternative ist; oder möglicherweise nicht immer eine Alternative. Vorausgesetzt, es ist eine Alternative – also man schließt den Fall von William James aus – dann muss man sich entscheiden. Das ist schon eine starke Einschränkung. Dann würde ich mich wahrscheinlich für die Tiefe entscheiden, aber ich könnte nicht klar begründen, warum. Und dass ich nicht klar begründen kann, warum, hängt damit zusammen, dass ich glaube, dass es nicht nur diese beiden Wege gibt. Angenommen, man hat eine Ebene vor sich hat, und entweder man baut Bungalows in die Fläche oder man baut ein Hochhaus. In diesem Fall ist die Alternative, willst du lieber in die Horizontale oder in die Vertikale gehen, ein klarer Fall, wo wir sagen können: hier müssen wir uns entscheiden. Man kann nicht beides gleichzeitig machen. Höchstens in dem Sinne, dass man viele Hochhäuser nebeneinander stellt. Aber es geht nicht beides gleichzeitig in einem Haus. Ich bin mir nicht sicher darüber, ob dieses Gleichnis sich einfach so nahtlos auf die Philosophie übertragen lässt. Mir erscheint es zu einfach. Das war erstens. Zweitens, oder vielleicht immer noch dasselbe, nur anders ausgedrückt, denke ich, es gibt alle möglichen Arten von Philosophen. Was ist mit jemandem wie Montaigne? Geht der in die Breite, geht der in die Tiefe? Oder macht der etwas Drittes? Was ist mit jemandem wie Meister Eckhart? Was ist mit jemandem wie Kierkegaard? Wittgenstein meinte, Kierkegaard sei der bei weitem tiefste Denker des 19. Jahrhunderts. Aber welche Gebiete hat er nicht alles abgedeckt, zu welchen Themen sich nicht alles geäußert! Ist in den Leuten, die man interessant findet, nur eine Form zu merken oder nicht? Nehmen wir einmal an, Kant wäre jemand, von dem man sagen würde, mit der „Kritik der reinen Vernunft“ hat er ein tiefes Werk geschaffen. Nichts ist natürlicher, als das zu sagen. Man könnte philosophische Tiefe fast definieren, indem man auf dieses Buch weist und sagt: „Das da ist tief.“ Und insofern man Kant als Muster des Philosophen schlechthin nehmen kann, läge es im Begriff der Philosophie, oder doch in dem großen Teil des Begriffs, für den er das Muster abgibt, dass die Philosophie in die Tiefe geht. Dann aber kann man gar nicht Philosophie studieren, indem man in die Breite geht. Aber geht diese Kritik nicht auch in die Breite? Und, als Kant dann die „Kritik der praktischen Vernunft“ und die anderen Sachen hinzugefügt hat, ist er da endlich in die Breite gegangen oder noch weiter in die Tiefe? Oder hat er einen Nebenstollen gebohrt? Und wäre Kant derselbe, wenn er nur die erste Kritik geschrieben hätte? Oder besteht die Größe von Kant, die Wichtigkeit, die Bedeutsamkeit unter anderem auch darin, dass er mehr als nur die Kritik der reinen Vernunft geschrieben hat und uns ein viel größeres Panorama hinterlassen hat, soweit diese nicht selbst schon ein solches ist? Wie ist es mit Philosophen, wie eben William James zum Beispiel, die manchmal in einer Weise schreiben, die einen, wenn man so will, direkt ans Herz greift? Ist das Tiefe, Breite? Völlig unklar! Ist Philosophie eine rein intellektuelle Tätigkeit oder hat sie etwas mit dem Willen zu tun? Heißt Philosophieren den Intellekt ansprechen oder heißt es den Charakter ins Spiel bringen? Oder ist es beides? Und wenn es beides ist, wie steht der Charakter im Verhältnis zu Tiefe und Breite? Das scheint mir alles völlig unklar zu sein. Jedenfalls scheint mir nicht klar zu sein, dass es hierauf eine leichte Antwort gibt. Deswegen würde ich sozusagen versuchen, um diese einfache Art von Frage herum zu kommen: Würdest du lieber empfehlen in die Tiefe oder in die Breite zu gehen? Nur wenn ich gezwungen wäre, mich zu entscheiden, würde ich sagen: versuche es lieber mit der Tiefe. Und das würde hier nur bedeuten: versuche dir vollständige Klarheit über eine Sache zu verschaffen, bevor du zur nächsten übergehst. Das andere ergibt sich dann schon. Man wird merken, dass einen das Streben nach Tiefe von allein in die Breite treibt. Aber am liebsten würde ich es vermeiden, weil ich denke, dass es zu einfach ist. Das einzige, was ich, wie gesagt, als Regel geben könnte, wäre wirklich: Folge deinem Instinkt, und höre auf dein Gewissen. Alles andere bringt auf die Dauer nichts.

EiGENSiNN: Die nächste Frage ist wahrscheinlich genauso schwer zu beantworten – die Gretchenfrage sozusagen. Was würden Sie sagen, was es eigentlich ist, was man tut, wenn man philosophiert? Oder was ist es, was Sie tun, wenn Sie philosophieren?

RAATZSCH: Was ich tue, wenn ich philosophiere? Das kommt darauf an, denke ich. In vielen Fällen versuche ich einfach, mir über bestimmte Sachen klar zu werden. Bei mir sieht es häufig so aus, dass ich versuche, das, was unklar ist, in einer Weise zu formulieren, dass ich einerseits das Gefühl habe, ich habe das, was unklar ist, tatsächlich ausgedrückt, auf der anderen Seite aber die Unklarheiten beseitigt. So dass ich sagen kann: Auf Grund der und der Verwechslungen, Täuschungen, Unachtsamkeiten, Oberflächlichkeiten habe ich geglaubt, es gäbe dies und dies Problem. In dem Augenblick, wo ich sagen kann: „Auf Grund der und der Unachtsamkeiten, Verwechslungen uns so weiter“ sind die Unachtsamkeiten und Verwechslungen ja beseitigt. Also ist das Problem verschwunden.

EiGENSiNN: Lassen sich so alle Probleme beseitigen?

RAATZSCH: Nein. Manchmal hat man eine Sichtweise auf die Dinge gefunden, die muss man dann einfach darstellen und zeigen, was man mit ihrer Einnahme sehen kann, was man sonst nicht sehen würde. „Der Mensch glaubt nur, der Autor seiner Handlungen zu sein – in Wirklichkeit folgt er bloß augenblicklichen Neigungen, und es ist nur der Gnade des Schicksals oder der Güte Gottes zu danken, dass seine Neigungen nicht so stark schwanken, dass nie der Schein entstehen könnte, der Mensch würde Pläne machen und ausführen können!“ – So sieht Montaigne den Menschen, oder er erwägt diese Betrachtung. Wird hier ein Problem aufgelöst? Vielleicht, aber in erster Linie wohl eine Sichtweise angeboten. Die kann dann Probleme mit sich bringen, die aufzulösen sind. Usw. --- Das nächste, was ich sagen wollte, ist, dass ich manchmal auch Sachen schreibe, die mir einfach wichtig sind, wo ich glaube, dass es aus irgendwelchen Gründen gesagt werden sollte. Obwohl es mir nicht unklar war, worüber ich da rede. Wo es nicht darum geht, dass ich etwas schreibe, weil ich mir selbst im Unklaren darüber bin. Wo ich statt dessen versuche, in bestimmter Weise in den Lauf der Dinge einzugreifen. Das ist wahrscheinlich eigentlich schlecht, aber Sie haben ja gefragt, was ich tue, nicht, ob ich das, was ich tue, tun sollte. Ich habe mal eine Rezension zu einem Buch geschrieben, das mir sehr gut gefallen hat, obwohl ich durchaus auch kritisch dazu stand, wo ich einiges gelernt habe, aber wo ich vor allem das Gefühl hatte, dass man dem Buch möglicherweise nicht ansieht, was man alles von ihm lernen kann. Und deshalb dachte ich: Wenn es dir gelingt, eine umfangreiche Rezension zu schreiben und diese in einer Zeitschrift unterzubringen, die relativ viele Leute lesen, könnte der Effekt sein, dass viele Leute das Buch lesen. Wenn es dir gelingt, eine Rezension zu schreiben, in der du dem Leser plausibel machen kannst, dass es interessant und spannend ist, was darin steht. Da ging es nicht so sehr darum, Unklarheiten zu beseitigen, sondern darum, Werbung zu machen für jemanden, den ich im übrigen nicht kannte und bis heute nicht kenne. Aber durchaus in einer kritischen Weise. Nicht, indem ich ihn gelobt habe, sondern indem ich ihn kritisiert habe. (Gelobt habe ich ihn auch, aber primär mit ihm gestritten.) Ich habe versucht zu sagen, warum ich nicht mit ihm einverstanden bin, warum es also nicht stimmt, was er sagt, und versucht zu erklären, warum es trotzdem nahe liegt, so zu reden, wie er redet, welches Problem meiner Meinung nach darin steckt. Werbung durch Streit, wenn man so will. Aber das sollte man wahrscheinlich aber nicht machen. Sonst fällt mir im Augenblick nichts ein, warum ich schreibe, warum ich Philosophie mache. Ich finde irgendetwas spannend und dann versuche ich rauszufinden, was da schief geht. Wenn ich dann Glück habe, fügen sich einzelne Sachen zu was Größerem zusammen. Wenn nicht, dann eben nicht. Die Sachen haben zwar die Tendenz zum System – weil alles irgendwie mit allem zusammenhängt –, aber sie haben auch ihre Selbständigkeit, gerade weil sie selbst nicht das System sind, falls es überhaupt eines gibt. Ich komme aber meist eher vom Einzelnen her, vom Problem, nicht von dem, was, angeblich, die Lösung sein muss.

EiGENSiNN: Wenn es vor allem die zweite Variante ist, auf die Sie abzielen, nämlich diejenige, sich selbst über Dinge klar zu werden, und nicht vordergründig die, in den Lauf der Dinge einzugreifen, was sind dann die Gründe dafür, dass man Sie als Philosoph bezahlen sollte?

RAATZSCH: Das ist eine gute Frage. Es ist nicht klar, dass man dafür bezahlt werden sollte. Allerdings ist klar, dass, soweit ich Unterricht gebe, ich dort das Recht habe zu sagen, dort werde ich bezahlt wie jeder andere akademische Lehrer auch. Ich könnte natürlich fragen: Kann man Philosophie eigentlich lehren? Das ist auch ein schwieriges Problem. Aber nicht so schwierig, dass man nicht sagen könnte, dass man es zumindest bis zu einem bestimmten Grad lehren kann. Und ich hoffe, dass es Ihnen so geht, dass Sie wissen, dass das richtig ist. Dass es also Leute gibt, von denen Sie glauben, dass Sie etwas lernen können und dass die Ihnen eine Menge Arbeit abnehmen, dadurch dass sie Ihnen was beibringen, sozusagen im wortwörtlichen Sinn. Insofern habe ich damit kein Problem. Aber ob man überhaupt als Philosoph bezahlt werden sollte, weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, ob es eine gute Begründung ist zu sagen, natürlich sollte man als Philosoph bezahlt werden, weil es Leute gibt, die noch viel schlimmer sind, noch viel nutzloser. Aber es ist klar, dass da ein Problem liegt. Man kann ziemlich gut sagen, warum Ärzte bezahlt werden an der Universität. Obwohl man natürlich darüber streiten kann, ob sie richtig bezahlt werden, wie sie bezahlt werden, kann, denke ich, kein Zweifel darüber bestehen, dass man diese Art, wie wir leben, nicht aufrecht erhalten könnte, wenn wir nicht so etwas ähnliches wie dieses medizinische System hätten, das wir haben. (Einmal ganz abgesehen von den Leiden, die Ärzte mildern.) Wenn das vorherige stimmt, muss man auch sicher stellen, dass eine Generation nach der nächsten in dieses System hinein wächst und dieses System weiterträgt. Und dafür sind die Leute bereit, die nicht im Gesundheitswesen arbeiten, einen Teil ihres Geldes abzuzweigen. Das scheint mir ein Muster dessen zu sein, was man berechtigte akademische Existenz nennen kann. Bei Philosophie ist das natürlich sehr viel schwieriger. Bei Philosophie ist nicht klar, welchen gesellschaftlichen Nutzen das hat. Und wie gesagt, die Tatsache, dass andererseits relativ klar ist, welchen gesellschaftlichen Schaden manche so genannte Wissenschaften anrichten können, macht es nicht unbedingt besser für die Philosophie. Aber vielleicht muss nicht alles einen messbaren Nutzen haben, bei dem man das Gefühl haben darf, man sei kein Schmarotzer, wenn man dafür bezahlt wird, dass man es tut. Aber das ist vermutlich schon eine philosophische Frage. Und da liegt dann die Paradoxie fast schon wieder offen da.

EiGENSiNN: Vielen Dank für dieses Interview.

Das Gespräch führten Eva Mahnke und Christian Kietzmann


Dr. Raatzsch ist Dozent am Institut für Philosophie in Leipzig