Im Interview: Richard Raatzsch
EiGENSiNN: Wir haben im Internet eine kurze Biographie von Ihnen
gefunden, in der
erwähnt wird, dass Sie, bevor Sie studiert
haben, eine Eisengießerlehre gemacht haben. Das ist
ja nun
nicht gerade die klassische Vorbildung für einen Philosophen.
Wie sind Sie
von dort eigentlich zur Philosophie gekommen? Oder
hat das vielleicht überhaupt nichts miteinander zu
tun?
RAATZSCH: Die Frage ließe sich dadurch beantworten,
dass ich Ihnen
jetzt mein Biographie erzähle. Das werde ich
aber nicht tun, weil das einfach zu lange dauert. Man
kann sie auch
dadurch beantworten, dass man sagt: Was lag in jener Tätigkeit,
was es
verständlich macht, dass man dann zu dieser Tätigkeit
übergegangen ist? Und da mag es
irgendwelche Dinge geben, die
man tatsächlich anführen kann. Aber soweit mir da welche
vorschweben, sind mir die zu weit hergeholt. Und ein dritter Weg
ist der, dass man einfach sagt: Was
war in dieser Person, die damals
Former und Gießer war, was dazu führte, dass sie später
versucht hat, Philosoph zu werden? Und da würde ich sagen,
das, was da in dieser
Person war, war - wie mein Lehrer gesagt hat
- Michael Kohlhaas.
EiGENSiNN: Gab
es da irgendein ausschlaggebendes Erlebnis,
so dass Sie sich sagten, jetzt muss es doch Philosophie
sein?
RAATZSCH: Ich habe schon als Schüler bestimmte
Sachen gelesen, die
mit Philosophie zu tun hatten. Aber dann später,
was direkt dazu geführt hat, war der Unterricht,
den ich bei
jemanden hatte an der Universität, der Philosoph war, sich
hauptsächlich mit Hegels Philosophie der Mathematik und dem
Marquis de Sade befasste, und Peter Wermes
hieß. Er lebt leider
nicht mehr. Bei dem hatte ich das Gefühl, das ist das, was
ich auch machen wollte. Sachen, mit denen ich mich vorher beschäftigt
und die ich gelesen hatte, die
Form, wie ich diskutiert hatte, die
hätte ich selber nicht auf den Begriff Philosophie bringen
können, weil ich einfach nicht wusste, dass man das Philosophie
nennt, was ich da mache und
was ich da lese und wie ich da rede.
Aber als ich dann bei ihm einen Kurs besuchte, hatte ich das
Gefühl:
Das ist es. Also zufällig vielleicht.
Richard Raatzsch
EiGENSiNN: Sie haben vorher etwas anderes studiert.
Was war das?
RAATZSCH: Lehrer für Staatsbürgerkunde und
Geschichte (lautes Lachen). Das ist
wirklich der größte
Schwachsinn, den man sich vorstellen kann. Also Geschichte natürlich
nicht. Aber Lehrer für Staatsbürgerkunde, das ist wirklich
der
größte Unsinn.
EiGENSiNN: Sie sprechen manchmal von „Ihrem
großen Lehrer“. War das der Peter Wermes, von dem Sie
gerade sprachen?
RAATZSCH: Nein. Mein Lehrer ist Peter Philipp ...
Den kennt niemand groß. (Und ich
kann mich nicht erinnern,
jemals von meinem „großen Lehrer“ gesprochen zu
haben! Der war ja man mit Mühe und Not 1 Meter 65.)
EiGENSiNN: Was war das für ein
Mensch?
RAATZSCH: Er war Logiker und Philosoph. In der Logik
hat er sich vor
allem mit Modallogik und deontischer Logik –
der Logik der Normsätze – beschäftigt.
Der philosophische
Standpunkt, den er eingenommen, und den er auch versucht hat, in
die
Betrachtung der Logik einzubringen, war geformt oder abgeleitet
vom späten Wittgenstein. Durch ihn bin
ich auch an Wittgenstein
gekommen. Wie das halt bei Leuten, die nicht selber denken, ist:
dass man jemanden findet, der einen beeindruckt; und dazu muss man
möglicherweise ein bisschen selber
denken, um beeindruckt zu
sein. Dass man dem Rat dessen, der einen beeindruckt, folgt. Was,
wie ich glaube, eine begriffliche Wahrheit ist, zumindest zum Teil,
weil, wenn man ihm nicht folgen
würde, wäre es sehr fraglich,
ob man wirklich beeindruckt ist. So kommen Leute – am Anfang
jedenfalls – dazu, dass sie in diese oder jene Richtung laufen.
Und dann
müssen sie von selber weitergehen.
EiGENSiNN: Was hat Sie an Ihrem Lehrer so sehr
beeindruckt?
RAATZSCH: Zuerst wohl einfach seine Klugheit, im Sinne
von
Scharfsinnigkeit. Er war einer der scharfsinnigsten Leute, die
ich überhaupt jemals kennen gelernt
habe. Dann eine große
intellektuelle Redlichkeit. Einen ganz tiefen Humor. Ein großes
Verständnis für alles Menschliche, auch alle Schwächen,
verbunden mit Strenge gegen
sich selbst und die, die ihm nahe standen.
Zu viel Strenge gegen sich selbst, wenn ich das sagen darf. Aber
er war auch voller Lebensfreude und ein sehr leidenschaftlicher
Mensch, mit ungeheurer
Willensstärke, die Leidenschaften im
Zaum zu halten. Ein unbedingtes Streben nach Klarheit. Ein
phänomenales
Vermögen, komplizierte Dinge plausibel zu machen, anschaulich
zu
machen, zu erklären. Er konnte unglaublich gut erklären.
EiGENSiNN: Rührt daher
Ihre Vorliebe für
Beispiele?
RAATZSCH: Das weiß ich nicht genau, ob
das daher
kommt, oder ob ich die schon mitgebracht habe. Ich glaube, die rührt
eher
nicht von ihm. Es ging ihm bei mir manchmal sogar zu weit.
EiGENSiNN: Gibt es ansonsten noch
Leute, die Sie sehr
beeindruckt haben, von denen Sie glauben, viel gelernt zu haben?
RAATZSCH: In meinem Lebensweg bin ich zuerst beeinflusst
worden von einem Logiker aus
Halle, Günter Schenk, mit dem
ich zunächst durch äußere Umstände zusammen
gebracht wurde. Wir mussten zusammen arbeiten, wir waren dazu verdammt
worden, zusammen zu
arbeiten. Er hatte eine Strafe bekommen, weil
er etwas politisches Unkorrektes gemacht hatte. Und ein Teil
dieser
Strafe war, dass er als wissenschaftlicher Berater eines studentischen
Forschungsprojektes fungieren musste; was man nicht so gerne machte,
weil man lieber seine eigene Forschung
gemacht hat. Ich war dort
der studentische Leiter, sozusagen der studentische Häuptling.
Ich habe den Hut aufgesetzt bekommen von den Studenten, und er hat
den Hut aufgesetzt bekommen von der
staatlichen Seite. Dadurch saßen
wir auf einmal zusammen im Zelt und mussten uns einigen. Was dazu
führte, das ich ihn näher kennen gelernt habe und er mich
näher kennen
lernte. Das führte dazu, dass wir uns stundenlang
unterhielten. (Das hat er immer gemacht: sich junge
Leute aussuchen
und die unter seine Fittiche nehmen, bis er der Ansicht war, die
können jetzt selber laufen, und dann hat er sich neue Leute
gesucht. In gewissem Sinne die
Verkörperung des Begriffs des
akademischen Lehrers.) Man bleibt dann natürlich nicht bei
dem Thema, worüber man sich unterhalten soll, sondern geht
zu dem, worüber man sich
unterhalten möchte. Das waren
die ersten wichtigen Impulse.
Dann habe ich
noch jemanden gehabt, von dem ich auch einiges gelernt
habe, obwohl das sehr viel schwerer anzugeben ist,
worin das bestand.
Er war in Halle Professor für historischen Materialismus –
Dieter Paseman. Hauptsächlich hat er gearbeitet einerseits
zu Marx, andererseits zu den großen
sozialphilosophisch-soziologischen
Gestalten in der, damals in der DDR so genannten,
spätbürgerlichen
Tradition: Tönnies, Weber, Durkheim, Simmel. Bei dem habe ich
dann auch promoviert. Aber der wollte mich dann nicht behalten,
unter anderem mit dem Argument, ich
hätte meine Dissertation
gar nicht bei ihm geschrieben, sondern bei mir selber. Was stimmt,
aber nicht ganz. Ich hab schon was von ihm gelernt. Und auch von
Ingolf Max, der jetzt hier bei den
Logikern ist und in Halle 2 Jahre
vor mir mit dem Studium angefangen hatte. Von dem habe ich auch
einiges lernen dürfen, was bis heute für mich wichtig
ist. Das waren so die Leute, die
für mich am wichtigsten waren,
bis ich halbwegs auf eigenen Füßen stehen konnte.
EiGENSiNN: Worüber haben Sie promoviert?
RAATZSCH:Über
Traditionsbegriffe in ausgewählten
Einzelwissenschaften und in der marxistisch-leninistischen
Philosophie.
EiGENSiNN: Wenn Sie eine Handbibliothek mit nur sehr
wenigen Büchern bestücken sollten, und sehr lange nur
mit dieser Bibliothek auskommen
müssten, was würde das
alles drinstehen?
RAATZSCH: Wenn es sechs
Bücher sein dürften,
würde ich wahrscheinlich drei belletristische und drei philosophische
Sachen mitnehmen. Bei den belletristischen würde ich neben
„Catch 22“
von Joseph Heller, einen Band sämtlicher
Gedichte von Goethe und wahrscheinlich von Berthold Brecht
das „Arbeitsjournal“
mitnehmen, was ja schon nicht mehr wirklich Belletristik ist. Bei
den philosophischen wären es wahrscheinlich die Predigten und
Traktate von Meister Eckhart,
die manche vielleicht als noch nicht
richtig philosophisch ansehen würden, von Frege die
„Logischen
Untersuchungen“ oder die „Grundlagen der Arithmetik“,
wahrscheinlich aber die „Logischen Untersuchungen“,
und von Wittgenstein den ersten Band der
Werkausgabe.
solche Sachen würden wir, unter anderen, in der Handbibliothek von Richard Raatzsch wiederfinden
EiGENSiNN: Wenn zu Beginn des Studiums jemand zu Ihnen käme,
um
Sie zu fragen, wie er am besten Philosophie studieren sollte,
was würden Sie da antworten?
RAATZSCH.: Folge deinem Instinkt, und deinem Gewissen.
EiGENSiNN: Und deinem
Lehrer?
RAATZSCH: Nein, das ist die Konsequenz daraus, eine mögliche
Konsequenz. Oder es bedeutet dasselbe, nur von der anderen Seite
betrachtet. Aber es kann durchaus sein,
dass jemand keinen Lehrer
findet, es kann durchaus sein, dass man durch Umstände oder
irgendetwas anderes nicht dazu kommt, irgendjemanden als seinen
Lehrer zu identifizieren. Was ich in den
meisten Fällen für
schade halte. Aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass sich Leute
zu sehr interessanten Persönlichkeiten entwickeln, ohne jemals
einen wirklichen Lehrer zu
haben. Ich weiß zum Beispiel nicht,
ob Kant einen Lehrer hatte. Das heißt, ich kann mir
durchaus
vorstellen, dass jemand so wird wie Kant, ohne jemals einen Lehrer
gehabt zu
haben. Da ich in dieser Hinsicht nichts über Kant
weiß, würde das bedeuten, dass, wenn es
nicht anders
ginge, ich Kant nicht für eine bedeutende Figur halten könnte.
Das
ist natürlich Unsinn. Ich weiß auch nichts über
die Lehrer von Leibniz oder Meister
Eckhart. Meine persönliche
Erfahrung ist jedoch so, dass die meisten Leute, die ich kenne,
irgendeinen Lehrer hatten, und dass man relativ viel über Menschen
weiß, wenn man
weiß, welche Lehrer sie hatten. Möglicherweise
auch, von wem sie selber die Lehrer sind. So wie
man die Moral eines
Menschen zum Teil daran erkennen kann, wen er schätzt und wen
er
nicht schätzt, so kann man auch das intellektuelle Relief
erfahren dadurch, dass man weiß, wer
seine Lehrer und wer
seine Schüler sind, und natürlich auch weiß, wie
die
Beziehung ist. Es kann sein, dass ich jemanden als Lehrer habe,
mich aber hauptsächlich gegen ihn
wende. Deshalb muss man schon
wissen, ob das eine Schüler-Lehrer-Beziehung dieser Art oder
jener Art ist. Aber ich kann mir auch vorstellen, dass es Leute
gibt, die keinen Lehrer haben, die
sich sozusagen selber am eigenen
Schopf aus dem Sumpf ziehen.
EiGENSiNN:: Ich
formuliere die Frage noch einmal ein wenig anders:
Sebastian Rödl hat einmal sinngemäß
gesagt, dass
es zwei verschiedene Arten gibt, Philosophie zu studieren: entweder
man
liest sehr viel in die Breite und spezialisiert sich möglicherweise
gar nicht oder nur sehr spät,
oder aber man fängt an,
indem man sich an einer Stelle sehr tief in die Tiefe bohrt. Was
würden Sie für sinnvoller halten?
RAATZSCH: Zuerst einmal denke ich, dass es mehr
Arten gibt als
nur diese beiden. Oder, genauer, das Schema ist zu einfach. Wenn
ich mich
dazwischen entscheide müsste, würde ich wahrscheinlich
sagen, das zweite ist besser. Aber es ist
nicht ganz klar. Wenn
Sie so ein Werk nehmen wie „Varieties of Religious Experience“
von William James: das ist ein Buch, das durch die Breite des dargestellten
Materials und die Form,
in der es dargestellt wird, wirkt. Und man
könnte sagen, dass einem dieses Buch durch die Breite des
Materials,
in der Anordnung, in der es präsentiert wird, einen tiefen
Einblick in
das Wesen der Religion gibt. Wenn das richtig ist, dann
müsste der Unterschied zwischen Breite und
Tiefe nicht nur
zu wenig sein, in dem Sinne, dass es noch mehr Sachen geben kann,
sondern
dass es keine wirkliche Alternative ist; oder möglicherweise
nicht immer eine Alternative.
Vorausgesetzt, es ist eine Alternative
– also man schließt den Fall von William James aus
–
dann muss man sich entscheiden. Das ist schon eine starke Einschränkung.
Dann würde ich mich wahrscheinlich für die Tiefe entscheiden,
aber ich könnte nicht klar
begründen, warum. Und dass
ich nicht klar begründen kann, warum, hängt damit zusammen,
dass ich glaube, dass es nicht nur diese beiden Wege gibt. Angenommen,
man hat eine Ebene vor
sich hat, und entweder man baut Bungalows
in die Fläche oder man baut ein Hochhaus. In diesem Fall ist
die Alternative, willst du lieber in die Horizontale oder in die
Vertikale gehen, ein
klarer Fall, wo wir sagen können: hier
müssen wir uns entscheiden. Man kann nicht beides
gleichzeitig
machen. Höchstens in dem Sinne, dass man viele Hochhäuser
nebeneinander stellt. Aber es geht nicht beides gleichzeitig in
einem Haus. Ich bin mir nicht sicher
darüber, ob dieses Gleichnis
sich einfach so nahtlos auf die Philosophie übertragen lässt.
Mir erscheint es zu einfach. Das war erstens. Zweitens, oder vielleicht
immer noch
dasselbe, nur anders ausgedrückt, denke ich, es
gibt alle möglichen Arten von Philosophen. Was
ist mit jemandem
wie Montaigne? Geht der in die Breite, geht der in die Tiefe? Oder
macht
der etwas Drittes? Was ist mit jemandem wie Meister Eckhart?
Was ist mit jemandem wie Kierkegaard?
Wittgenstein meinte, Kierkegaard
sei der bei weitem tiefste Denker des 19. Jahrhunderts. Aber welche
Gebiete hat er nicht alles abgedeckt, zu welchen Themen sich nicht
alles geäußert!
Ist in den Leuten, die man interessant
findet, nur eine Form zu merken oder nicht? Nehmen wir einmal an,
Kant wäre jemand, von dem man sagen würde, mit der „Kritik
der reinen
Vernunft“ hat er ein tiefes Werk geschaffen. Nichts
ist natürlicher, als das zu sagen. Man
könnte philosophische
Tiefe fast definieren, indem man auf dieses Buch weist und sagt:
„Das da ist tief.“ Und insofern man Kant als Muster
des Philosophen schlechthin nehmen kann,
läge es im Begriff
der Philosophie, oder doch in dem großen Teil des Begriffs,
für den er das Muster abgibt, dass die Philosophie in die Tiefe
geht. Dann aber kann man gar nicht
Philosophie studieren, indem
man in die Breite geht. Aber geht diese Kritik nicht auch in die
Breite? Und, als Kant dann die „Kritik der praktischen Vernunft“
und die anderen Sachen
hinzugefügt hat, ist er da endlich in
die Breite gegangen oder noch weiter in die Tiefe? Oder hat er
einen
Nebenstollen gebohrt? Und wäre Kant derselbe, wenn er nur die
erste Kritik
geschrieben hätte? Oder besteht die Größe
von Kant, die Wichtigkeit, die Bedeutsamkeit
unter anderem auch
darin, dass er mehr als nur die Kritik der reinen Vernunft geschrieben
hat und uns ein viel größeres Panorama hinterlassen hat,
soweit diese nicht selbst schon ein
solches ist? Wie ist es mit
Philosophen, wie eben William James zum Beispiel, die manchmal in
einer Weise schreiben, die einen, wenn man so will, direkt ans Herz
greift? Ist das Tiefe, Breite?
Völlig unklar! Ist Philosophie
eine rein intellektuelle Tätigkeit oder hat sie etwas mit dem
Willen zu tun? Heißt Philosophieren den Intellekt ansprechen
oder heißt es den
Charakter ins Spiel bringen? Oder ist es
beides? Und wenn es beides ist, wie steht der Charakter im
Verhältnis
zu Tiefe und Breite? Das scheint mir alles völlig unklar zu
sein.
Jedenfalls scheint mir nicht klar zu sein, dass es hierauf
eine leichte Antwort gibt. Deswegen würde
ich sozusagen versuchen,
um diese einfache Art von Frage herum zu kommen: Würdest du
lieber empfehlen in die Tiefe oder in die Breite zu gehen? Nur wenn
ich gezwungen wäre, mich zu
entscheiden, würde ich sagen:
versuche es lieber mit der Tiefe. Und das würde hier nur bedeuten:
versuche dir vollständige Klarheit über eine Sache zu
verschaffen, bevor du zur
nächsten übergehst. Das andere
ergibt sich dann schon. Man wird merken, dass einen das Streben
nach Tiefe von allein in die Breite treibt. Aber am liebsten würde
ich es vermeiden,
weil ich denke, dass es zu einfach ist. Das einzige,
was ich, wie gesagt, als Regel geben könnte,
wäre wirklich:
Folge deinem Instinkt, und höre auf dein Gewissen. Alles andere
bringt auf die Dauer nichts.
EiGENSiNN: Die nächste Frage ist wahrscheinlich genauso schwer
zu beantworten – die Gretchenfrage sozusagen. Was würden
Sie sagen, was es
eigentlich ist, was man tut, wenn man philosophiert?
Oder was ist es, was Sie tun, wenn Sie philosophieren?
RAATZSCH: Was ich tue, wenn ich philosophiere? Das kommt darauf
an, denke ich.
In vielen Fällen versuche ich einfach, mir über
bestimmte Sachen klar zu werden. Bei mir sieht es
häufig so
aus, dass ich versuche, das, was unklar ist, in einer Weise zu formulieren,
dass ich einerseits das Gefühl habe, ich habe das, was unklar
ist, tatsächlich ausgedrückt,
auf der anderen Seite aber
die Unklarheiten beseitigt. So dass ich sagen kann: Auf Grund der
und der Verwechslungen, Täuschungen, Unachtsamkeiten, Oberflächlichkeiten
habe ich geglaubt,
es gäbe dies und dies Problem. In dem Augenblick,
wo ich sagen kann: „Auf Grund der und der
Unachtsamkeiten,
Verwechslungen uns so weiter“ sind die Unachtsamkeiten und
Verwechslungen ja beseitigt. Also ist das Problem verschwunden.
EiGENSiNN: Lassen
sich so alle Probleme beseitigen?
RAATZSCH: Nein. Manchmal hat man eine Sichtweise auf die Dinge
gefunden, die muss man dann einfach darstellen und zeigen, was man
mit ihrer Einnahme
sehen kann, was man sonst nicht sehen würde.
„Der Mensch glaubt nur, der Autor seiner Handlungen
zu sein
– in Wirklichkeit folgt er bloß augenblicklichen Neigungen,
und es
ist nur der Gnade des Schicksals oder der Güte Gottes
zu danken, dass seine Neigungen nicht so stark
schwanken, dass nie
der Schein entstehen könnte, der Mensch würde Pläne
machen und ausführen können!“ – So sieht Montaigne
den Menschen, oder er erwägt
diese Betrachtung. Wird hier ein
Problem aufgelöst? Vielleicht, aber in erster Linie wohl eine
Sichtweise angeboten. Die kann dann Probleme mit sich bringen, die
aufzulösen sind. Usw. ---
Das nächste, was ich sagen wollte,
ist, dass ich manchmal auch Sachen schreibe, die mir einfach
wichtig
sind, wo ich glaube, dass es aus irgendwelchen Gründen gesagt
werden sollte.
Obwohl es mir nicht unklar war, worüber ich
da rede. Wo es nicht darum geht, dass ich etwas schreibe,
weil ich
mir selbst im Unklaren darüber bin. Wo ich statt dessen versuche,
in
bestimmter Weise in den Lauf der Dinge einzugreifen. Das ist
wahrscheinlich eigentlich schlecht, aber Sie
haben ja gefragt, was
ich tue, nicht, ob ich das, was ich tue, tun sollte. Ich habe mal
eine Rezension zu einem Buch geschrieben, das mir sehr gut gefallen
hat, obwohl ich durchaus auch kritisch
dazu stand, wo ich einiges
gelernt habe, aber wo ich vor allem das Gefühl hatte, dass
man dem Buch möglicherweise nicht ansieht, was man alles von
ihm lernen kann. Und deshalb dachte ich:
Wenn es dir gelingt, eine
umfangreiche Rezension zu schreiben und diese in einer Zeitschrift
unterzubringen, die relativ viele Leute lesen, könnte der Effekt
sein, dass viele Leute das Buch
lesen. Wenn es dir gelingt, eine
Rezension zu schreiben, in der du dem Leser plausibel machen kannst,
dass es interessant und spannend ist, was darin steht. Da ging es
nicht so sehr darum,
Unklarheiten zu beseitigen, sondern darum,
Werbung zu machen für jemanden, den ich im übrigen
nicht
kannte und bis heute nicht kenne. Aber durchaus in einer kritischen
Weise. Nicht,
indem ich ihn gelobt habe, sondern indem ich ihn kritisiert
habe. (Gelobt habe ich ihn auch, aber
primär mit ihm gestritten.)
Ich habe versucht zu sagen, warum ich nicht mit ihm einverstanden
bin, warum es also nicht stimmt, was er sagt, und versucht zu erklären,
warum es trotzdem
nahe liegt, so zu reden, wie er redet, welches
Problem meiner Meinung nach darin steckt. Werbung durch
Streit,
wenn man so will. Aber das sollte man wahrscheinlich aber nicht
machen. Sonst
fällt mir im Augenblick nichts ein, warum ich
schreibe, warum ich Philosophie mache. Ich finde
irgendetwas spannend
und dann versuche ich rauszufinden, was da schief geht. Wenn ich
dann Glück habe, fügen sich einzelne Sachen zu was Größerem
zusammen. Wenn nicht, dann
eben nicht. Die Sachen haben zwar die
Tendenz zum System – weil alles irgendwie mit allem
zusammenhängt
–, aber sie haben auch ihre Selbständigkeit, gerade weil
sie selbst nicht das System sind, falls es überhaupt eines
gibt. Ich komme aber meist eher vom
Einzelnen her, vom Problem,
nicht von dem, was, angeblich, die Lösung sein muss.
EiGENSiNN: Wenn es vor allem die zweite Variante ist, auf die Sie
abzielen, nämlich
diejenige, sich selbst über Dinge klar
zu werden, und nicht vordergründig die, in den Lauf der
Dinge
einzugreifen, was sind dann die Gründe dafür, dass man
Sie als Philosoph
bezahlen sollte?
RAATZSCH: Das ist eine gute Frage. Es ist nicht klar, dass man
dafür bezahlt werden sollte. Allerdings ist klar, dass, soweit
ich Unterricht gebe, ich dort das Recht
habe zu sagen, dort werde
ich bezahlt wie jeder andere akademische Lehrer auch. Ich könnte
natürlich fragen: Kann man Philosophie eigentlich lehren? Das
ist auch ein schwieriges Problem.
Aber nicht so schwierig, dass
man nicht sagen könnte, dass man es zumindest bis zu einem
bestimmten Grad lehren kann. Und ich hoffe, dass es Ihnen so geht,
dass Sie wissen, dass das richtig
ist. Dass es also Leute gibt,
von denen Sie glauben, dass Sie etwas lernen können und dass
die Ihnen eine Menge Arbeit abnehmen, dadurch dass sie Ihnen was
beibringen, sozusagen im
wortwörtlichen Sinn. Insofern habe
ich damit kein Problem. Aber ob man überhaupt als Philosoph
bezahlt werden sollte, weiß ich nicht. Ich weiß auch
nicht, ob es eine gute
Begründung ist zu sagen, natürlich
sollte man als Philosoph bezahlt werden, weil es Leute gibt,
die
noch viel schlimmer sind, noch viel nutzloser. Aber es ist klar,
dass da ein Problem
liegt. Man kann ziemlich gut sagen, warum Ärzte
bezahlt werden an der Universität. Obwohl man
natürlich
darüber streiten kann, ob sie richtig bezahlt werden, wie sie
bezahlt
werden, kann, denke ich, kein Zweifel darüber bestehen,
dass man diese Art, wie wir leben, nicht
aufrecht erhalten könnte,
wenn wir nicht so etwas ähnliches wie dieses medizinische System
hätten, das wir haben. (Einmal ganz abgesehen von den Leiden,
die Ärzte mildern.) Wenn
das vorherige stimmt, muss man auch
sicher stellen, dass eine Generation nach der nächsten in dieses
System hinein wächst und dieses System weiterträgt. Und
dafür sind die
Leute bereit, die nicht im Gesundheitswesen
arbeiten, einen Teil ihres Geldes abzuzweigen. Das scheint mir
ein
Muster dessen zu sein, was man berechtigte akademische Existenz
nennen kann. Bei
Philosophie ist das natürlich sehr viel schwieriger.
Bei Philosophie ist nicht klar, welchen
gesellschaftlichen Nutzen
das hat. Und wie gesagt, die Tatsache, dass andererseits relativ
klar ist, welchen gesellschaftlichen Schaden manche so genannte
Wissenschaften anrichten können,
macht es nicht unbedingt besser
für die Philosophie. Aber vielleicht muss nicht alles einen
messbaren Nutzen haben, bei dem man das Gefühl haben darf,
man sei kein Schmarotzer, wenn man
dafür bezahlt wird, dass
man es tut. Aber das ist vermutlich schon eine philosophische Frage.
Und da liegt dann die Paradoxie fast schon wieder offen da.
EiGENSiNN: Vielen Dank
für dieses Interview.
Das Gespräch führten Eva Mahnke und Christian
Kietzmann
Dr. Raatzsch ist Dozent am Institut für Philosophie in Leipzig