von Sven-Uwe Janietz
Matrix Review - Virtualität und Ethik
Mit vergleichsweise bescheidener Werbung im Vorfeld
fand im Herbst 2003
die Matrix-Trilogie der Wachowski-Brüder
ihr Ende in einem Spezialeffekt-Action-Spektakel, das kaum
noch
jemanden so recht erfreuen wollte. Dennoch waren die Filme nicht
nur an den
Kinokassen erfolgreich, sondern gelten als philosophisch
interessant. Im ersten Teil werden nämlich,
mittels Szenarien
virtueller Realität, einige tiefgehende Fragen gestellt, die
nicht
nur eine außerordentliche Resonanz des Publikums, sondern
auch eine beachtliche Liste mit
Beiträgen akademischer Philosophen
zur Folge hatten. Die augenscheinliche Problemstellung scheint eine
erkenntnistheoretische zu sein, eine Variante des cartesischen Zweifels
am Wissen um die
Existenz der äußeren Welt. Andere Philosophen
meinen jedoch, dass unser erheblichstes Problem
mit der Matrix nicht
erkenntnistheoretischer, sondern ethischer Natur sei.
Smiths - die Vertreter
der Exekutive in der Matrix
Vermutlich kann man die
Untersuchung des ethischen Problems
nicht gut von dem erkenntnistheoretischen abkoppeln, doch zumindest
ist es wohl möglich den Akzent auf ersteres zu setzen, wie
es auch in etlichen
Aufsätzen der „Matrix-Philosophen“
geschehen ist. Zu diesem Zwecke sollen die, teils
höchst problematischen,
Voraussetzungen des Films erst einmal anerkannt werden – das
sind zunächst diese:
Die Menschheit führte einen Krieg mit einer
anderen Intelligenz
- den Maschinen. Die Maschinen gewannen die Vorherrschaft über
die Erde, deren Himmel jedoch zuvor von den Menschen, in der Absicht
dem Feind die Energieversorgung
abzuschneiden, verdunkelt worden
war. Es halfen sich die Maschinen damit, dass sie den Menschen selbst
zu ihrer Energiequelle machten, zur Biobatterie sozusagen. Während
also aktuell nur noch
eine kleine Population von Menschen sich in
der Untergrundfestung Zion verschanzt, schlafen zahllose andere
ihr Leben lang künstlich ernährt in Kapseln und werden
von den Maschinen mit
einer eingegebenen Traumrealität versorgt,
in der sie ihr gesamtes Leben verbringen – der
Matrix.
Der Philosoph Richard Hanley [2] stellt fest, dass die Matrix eine
interaktive, virtuelle Umgebung, die systematische, globale Vortäuschung
einer Welt ist. Die
virtuelle Interaktivität reicht dabei genau
soweit, wie die Umgebung auf Aktionen der Teilnehmer
reagiert. Echte
Interaktion hingegen ist die Interaktion mit anderen, solchen, mit
denen
wir diese virtuelle Realität teilen. Damit ergeben sich
zwei mögliche Arten der Matrix, zum einen
eine gemeinschaftliche
Matrix, in der mehrere Teilnehmer vernetzt sind und in einer gemeinsamen
Realität echte Interaktionen stattfinden. Zum anderen wäre
aber auch eine private Matrix
(solitary Matrix) denkbar,
in der zwar Interaktion, aber keine echte menschliche zu finden
ist. Die Matrix im Film ist eine einzige, große, gemeinschaftliche
Matrix.
Cypher, einer jener Menschen, die nicht mehr in der Kapsel schlafen,
kennt beide
Realitäten, die - von aussen betrachtet - virtuelle
der Matrix, und die vermeintlich echte, in der die
Maschinen herrschen.
Die Matrixrealität ist praktischerweise unserer Welt der Gegenwart
sehr ähnlich, so dass der Zuschauer sie ganz gut beurteilen
kann. Die ‚echte’
Realität ist hingegen reichlich
ungemütlich: permanent auf der lebensgefährlichen Flucht
vor Maschinenwächtern, in lumpigen Kleidern, versorgt mit fadem,
unleckerem Essen
und abgeschnitten von jeglichem Tageslicht müssen
die Menschen auf schmuddeligen Fortbewegungsmitteln
einen aussichtslosen
Krieg führen. Cypher findet die Vorzüglichkeit des Lebens
in der 'echten’ Realität nicht überzeugend und begeht
einen Verrat an seinen
Gefährten, um in die Matrix reintegriert
zu werden. Dem feindlichen Agenten, mit dem er zu diesem
Zwecke
verhandelt sagt er: „You know, I know that this steak
doesn’t
exist. I know when I put it in my mouth, the Matrix
is telling my brain that it is juicy and delicious.
After nine years,
do you know what I’ve realized ? ... Ignorance is bliss ...
I
don’t want to remember nothing. Nothing ! You understand
? And I want to be rich. Someone important.
Like an actor. You can
do that, right ? “
Der Wert der echten Realität
Zweifellos ist Cyphers Tat
unmoralisch, nimmt er doch schliesslich
den hochwahrscheinlichen Tod seiner Kameraden und - aus seiner
Sicht
- vermutlich den sämtlicher Bewohner Zions in Kauf, nur um
wieder saftige
Steaks essen zu können. Aber nicht allein diese
Umstände machen seine Tat ethisch [3]
verdächtig, sondern
schon der blosse Wille, sich wieder in die Matrix reintegrieren
zu lassen, ja sogar das Verweilen in der Matrix mit dem Wissen,
dass sie in einer umfassenderen
Realität von anderen "eingegeben"
ist, wird als schlecht bewertet - wie sonst könnten
die Helden
des Films eine so starke Überzeugung gewonnen haben, dass es
richtig und
gut sei, ihre Artgenossen zu erwecken. Welche Gründe
aber haben sie für diese überaus
schlechte Meinung von
dem Leben der Menschen in der Matrix ? Was könnten sie Cypher
erwidern, wenn dieser das saftige Steak in der Matrix dem pappigen
Haferschleim Zions vorzuziehen gedenkt
?
Genau das fragt sich, in einem ganz ähnlichen Gedankenexperiment
(das vielleicht sogar eine entscheidende Inspiration für die
Autoren von Matrix gewesen sein
könnte) der amerikanische Philosoph
Robert Nozick [4]. Er stellt sich eine experience machine
vor: diese würde demjenigen der angeschlossen ist Erfahrungen
durch entsprechende
Gehirnstimulation eingeben können, so dass
der Angeschlossene denkt und fühlt er würde
beispielsweise
eine schöne Geschichte schreiben, Freunde treffen oder ein
Buch
lesen, während er 'in Wirklichkeit' in einem Tank liegt
und Elektroden am Kopf trägt. Die
experience machine kann jede
mögliche Erfahrung anbieten - auch Snowboarden in Patagonien
oder Tango-Tanzen in einer Düsseldorfer Bar - und ist wartungsfrei
- alle können sich
gleichzeitig anschliessen. Nach zwei Jahren
erwacht man dann für kurze Zeit, um die Erfahrungen
für
die kommenden beiden auszuwählen.
Die
gewöhnliche Reaktion auf das Gedankenexperiment, die Abneigung
gegen die experience machine,
soll zeigen, dass nicht allein
die gemachte Erfahrung für uns zählt, also nicht nur,
dass wir uns 'gut fühlen' - und so untersucht Nozick unter
den beschriebenen Voraussetzungen
"What else can matter
to us, other than how our lives feel from inside?" [5].
Er findet drei Dinge, die für uns über die gemachte Erfahrung
hinaus Wert haben:
N1) Wir wollen die Dinge tun und nicht nur die Empfindungen haben,
die wir
normalerweise haben, wenn wir diese bestimmten Dinge tun.
N2) Wir wollen eine
bestimmte Person sein und nicht nur die Empfindungen
haben, die wir normalerweise haben, wenn wir diese
bestimmte Person
sind; jemand der an der experience machine angeschlossen ist, begeht
damit in gewissem Sinne Selbstmord, denn er ist gar keine Person
mehr.
N3) Der Kontakt mit der Realität selbst ist an sich wertvoll,
da in ihm die
Möglichkeit tiefergehender Erfahrung liegt, im
Gegensatz zu der an Tiefe vorfestgelegten,
menschengemachten virtuellen
Realität der experience machine .
Nozick schlussfolgert, dass wir am experience machine Beispiel
sehen, dass für
jemanden nicht nur seine Erfahrungen zählen,
und meint auch, dass wir die Maschine faktisch nicht
benutzen würden.
Nun ja, die Hypothese, dass wir faktisch von der Maschine
abliessen,
sagt ja, selbst wenn sie wahr wäre, bekanntlich nicht so viel
darüber aus, ob wir es auch sollten - und nur das wäre
ein Grund, den wir Cypher entgegnen
könnten, denn der will
ja nun offensichtlich nicht auf den Gebrauch eingegebener Erfahrungen
verzichten.
Auch ist Nozicks experience machine keine ganz passende Analogie
zur Matrix, denn es gibt wesentliche Unterschiede. Nozicks vage
Beschreibung der
experience machine legt nahe, dass der Angeschlossene
zum passiven Rezipienten vorprogrammierter
Erfahrungen wird (der
einzige Moment, wo er aktiv entscheidet, wäre dann die Zeit
seines kurzen Erwachens um das neue Programm zu wählen –
man könnte es vielleicht mit dem
Fernsehen vergleichen, wo
der Zuschauer passiv das Programm wahrnimmt, ab und zu aber die
Entscheidung trifft umzuschalten um darauf wieder passiv aufzunehmen).
Die Matrix hingegen wird in gewissem
Sinne dem freien Willen und
der Entscheidungskraft ihrer Teilnehmer gerecht. Man könnte
wohl auch sagen, dass es bei der experience machine keine Interaktion
gibt, und wo es keine solche gibt,
werden auch keine so zu nennenden
Entscheidungen getroffen. Die Matrix bietet Platz für eigene
Entscheidungen und die Interaktion in ihr ist, wie wir bereits festgestellt
haben, sogar eine
echte Zwischenmenschliche. Zudem hat der Matrixteilnehmer
kein 'Persönlichkeitsproblem', da er nie
aufwacht und bemerkt,
dass er garnicht der ist, dessen Erfahrungen er gemacht hat (dass
er beispielsweise den Körper eines dicken Programmierers hat
und nicht den von Keanu Reeves). Die
Funktionsweise der Matrix scheint
zumindest die ersten beiden Argumente von Nozick etwas
abzuschwächen.
Denn wir tun ein bisschen mehr die Dinge, die zu tun wir erfahren
und
sind ein bisschen mehr die Person, die wir zu sein erfahren,
wenn wir durch Entscheidungen mit der Umwelt
interagieren. Letztlich
scheint es ja auch nicht mehr zu sein, was wir von unserer 'echten
Realität' erwarten können, als uns selbst für die
Dinge, die wir anschliessend tun, zu
entscheiden und dadurch die
Person zu sein, die wir schliesslich sind. Nozicks drittes Argument
wird aber dadurch nicht betroffen oder widerlegt.
Christopher Grau [6]
überlegt in seinem Essay sogar, ob der
hohe Wert, der der 'echten Welt’ für
gewöhnlich
zugebilligt wird, daher kommt, dass sie sich regelmässig als
gut
geeignet erweist, darin 'gute Erfahrungen’ zu erlangen.
Unter diesen Umständen wäre es, so
Grau, wie die Karre
vor das Pferd zu spannen, wenn wir der 'echten Realität’
intrinsischen Wert zuzuschreiben – und das Pferd, die eigentliche
Triebkraft, ist die 'gute
Erfahrung’. Cypher könnte dann
einfach fragen was denn so toll sein soll an der Realität,
wenn sie uns nicht ermöglicht, irgend etwas Gutes oder Schönes
zu erfahren.
Peter Unger [7] hält eine Sicht wie die Cyphers auf das, was
gut sein soll, für zu simpel, und meint, dass unsere Werte
tatsächlich von einer wesentlich
komplexeren Art sind, als
schlicht auf 'gute Erfahrung’ abzustellen. Er führt folgendes
Beispiel an: Jemand, der an seine nächsten Verwandten denkt
und eine Lebensversicherung
abschliesst, hat, sofern er denn plötzlich
stirbt keine Gelegenheit mehr, 'gute Erfahrungen’
damit zu
machen (die Möglichkeit, dass er seine geliebten Verwandten
aus dem
Jenseits beobachten kann und sich dann dort gut fühlt,
sei aussen vorgelassen). Das, was zum
Abschliessen der Lebensversicherung
motiviert, so Unger, ist unser grosses Interesse an der Zukunft
unserer Verwandten, ob wir sie erleben oder nicht. Dieses und andere
Beispiele zeigen zumindest
die alltägliche Präsenz von
Bewertungen, die offenbar nicht alleine mit den eigenen Erfahrungen
zu begründen sind.
Restlos überzeugend scheint Ungers
Argument aber dennoch nicht
zu sein. Wie weiter oben festgestellt, könnte man ja demjenigen,
der Entscheidungsfreiheit für intrinsisch wertvoll hält,
entgegnen, dass er damit nur
seine Ahnung ausdrückt, dass er
sich entscheidungsfrei eben besser fühlt und zwar deshalb,
weil er die Erfahrungen, die er unter entscheidungsfreien Umständen
macht, tendenziell
besser bewertet als die unter unfreien –
das Kriterium sind bewusst gemachte Erfahrungen und ihre
Bewertung.
Mit einer gewissen Analogie könnte das Lebensversicherungs-Beispiel
behandelt werden: das, was du gut bewertest ist nicht die - gegenwärtig
inexistente - Zukunft deiner
Verwanden, sondern die existente gute
Erfahrung deiner Vorstellung, dass es ihnen einmal besser gehen
könnte als ohne Lebensversicherung – das Kriterium ist
wieder die gemachte
Erfahrung.
Alles in allem entsteht der Eindruck, dass der Nachweis von ethisch
Relevantem jenseits subjektiver Erfahrung durchaus problematisch
ist, und es könnte
vielleicht hilfreich sein, noch andere Perspektiven
auf das Matrix-Problem einzubeziehen.
Die Verwerflichkeit der Instrumentalisierung
Morpheus meint, dass
all die Menschen, die an die Matrix angeschlossen
sind, Sklaven seien, denen die Wahrheit vorenthalten
werde. Seine
Bedenken richten sich also gegen Täuschung und Versklavung.
Iakovor
Vasiliou [8] fragt sich, inwiefern hinsichtlich dieser Vorwürfe
ein Unterschied zwischen Matrix- und
echter Realität besteht.
Versklavung bedeutet hauptsächlich
den Zwang, Dinge zu tun,
die man eigentlich nicht tun will, es ist eine Einschränkung
der Handlungsfreiheit. Wir in unserer echten Realität sind
zu vielen Sachen bei Todesstrafe
gezwungen: zum Essen, zum Trinken,
zum Schlafen. Auch kann man beispielsweise nicht durch seine bloße
Entscheidung den Vollmond, weil einem seine runde Form nicht gefällt,
quadratisch
sehen. Und schliesslich werden wohl sehr viele von uns
innerhalb der nächsten hundert Jahre sterben
ohne es zu wollen
– für uns alle gelten die Naturgesetze, ohne dass wir
diesen
etwa zugestimmt hätten. Versklavung ist aber nicht nur
Einschränkung von jemandem, sonder wird
gewöhnlich so
verwendet, als das es auch jemandes bedürfte, der den Zwang
ausübt (und der womöglich selbst Nutzen davon hat). Wem
aber können wir die Naturgesetze,
die uns ständig zwingen,
zurechnen? sind sie Eigenschaften der Realität, für die
niemand verantwortlich ist, oder hat sie uns ein Gott gegeben? (und
wenn letzteres der Fall ist, sind
wir dann nicht seine Sklaven?)
Täuschungen kamen und kommen in der echten
Realität häufig
vor, etwa in der Frage, wer von Sonne und Erde sich um wen dreht,
oder anderen 'überholten’ wissenschaftlichen Thesen.
Um der Täuschung einen ethisch
schlechten Status zu geben,
braucht es aber wieder jemanden der absichtlich täuscht. Gott
oder die Natur selbst ?
Vasiliou kommt zu dem Ergebnis, dass wir, aufgrund
unserer besonderen
Position als Zuschauer des Films (gods-eye-perspective: wir können
die Welt in und ausserhalb der Matrix sehen) erkennen, dass weder
ein allgütiger Gott zu wunderbaren
Zwecken noch die unpersönlichen
Naturgesetze die Menschen in der Matrix täuschen und zwingen,
sondern die Maschinen, und zwar in höchst eigennütziger
Weise – und dass
es das ist, was wir ablehnen.
Darauf folgt ein Gedankenexperiment: Nach einer
selbstverschuldeten
Klimakatastrophe und unerträglicher UV-Strahlung ist das Leben
der Menschen auf der Erde quasi unmöglich geworden. Wissenschaftler
haben aber vorher noch eine
gewaltige, automatische und fortwährend
laufende Maschine gebaut, die exakt das gleiche leistet wie
die
Matrix (betrieben durch Solarenergie, Biobatterien werden nicht
benötigt). Die
Umstände sind so lebensfeindlich, dass
die Menschen für viele Generationen nur in Tanks
überleben
können – aber irgendwann, vielleicht in 100000 Jahren
wird sich
die Atmosphäre erholt haben und die Menschen müssen
nicht mehr länger in den Tanks bleiben;
dann wird die Maschine
sie wecken.
Die Personen in den
Klimaschutztanks befinden sich prinzipiell
in der gleichen Situation wie jene in der Matrix: es gibt die
Alternativen
gute Erfahrungen in einer virtuellen Realität oder miserable
Erfahrungen in der echten Realität (Tag für Tag bei Bewusstsein
in einem Tank schwimmen, mit ein
paar Schläuchen, die am Leben
erhalten). Einziger Unterschied: von einer Aussenperspektive werden
die Menschen nicht von anderen eigennützigen Intelligenzen
ausgebeutet, sondern sie
machen selbst den Versuch, ihr schwieriges
Leben so schön wie möglich zu gestalten.
Das Gedankenexperiment zeigt uns, dass einige Zweifel an Nozicks
Thesen entstehen
können. Nozick müsste wohl darauf bestehen,
dass es für die Menschen besser sei, bei vollem
Bewusstsein
in den Tanks zu schwimmen, weil sie dann wirklich tun, wirklich
sind und den
möglicherweise tieferen Kontakt mit der echten
Realität pflegen. Vielleicht ist die Bewertung des
Im-Tank-Schwimmens
ja nur eine Frage der Gewohnheit, doch möchte ich die intuitive
Behauptung wagen, dass sich sehr viele (die meisten) Menschen im
skizzierten Falle für die virtuelle
Realität entscheiden
würden.[9] (Der Autor entwickelt den Gedanken sogar noch weiter:
Wenn einige Leute, wie Morpheus, die Tanks verlassen hätten
und feststellten, dass man unter
sehr grossen Schwierigkeiten in
der klimatisch extremen echten Umwelt überleben kann, sollten
sie dann auch alle anderen Menschen 'aufwecken’ ? )
Vasilious
Gedankenexperiment verschiebt den Fokus, der Ansatz ist
jetzt nicht mehr, dass Erfahrungen der
'echten’ Realität
an sich besser sind als Erfahrungen virtueller Realität, sondern:
V2) Das Verweilen in der Matrix ist deswegen ethisch schlecht, weil
wir damit von anderen
instrumentalisiert werden.
Cypher?
Mir scheinen
weder die Instrumentalisierungs-These noch Nozicks
Gründe restlos plausibel, denn ebenso wie ein Wert
der echten
Realität an sich scheint mir auch die intrinsische Verwerflichkeit
der
Instrumentalisierung intuitiv nicht überzeugend zu sein.
Wenn Morgen nach dem Mittagessen jemand zu
mir käme um mir
glaubhaft zu versichern, dass die Welt, wie ich sie bisher erfahren
habe eine Täuschung der Natur sei und er mich davon befreien
könnte (leider verliere ich dabei
all meine Freunde, meinen
eigenen Körper usw., da sie Teil der Täuschung sind),
dann wäre ich ethisch nicht bewegt das zu tun. Selbst, wenn
er mir unwiderlegbar aufweist, dass ein
vegetarischer Gott mich
die ganze Zeit täuscht, weil dadurch seine Salatgurken schneller
wachsen, würde ich es nicht für ethisch vorzüglich
halten ihm zu folgen.
Folgendes Gespräch könnte zwischen Cypher und den Philosophen
stattfinden:
Cypher: „Mir reichts, ich mag keinen Haferschleim, ich
lass mich jetzt Reintegrieren und esse ein Steak.“
Nozick:
„Wenn du dich renintegrieren lässt, dann
brichst du den Kontakt mit der echten Realität
ab.“
Vasiliou: „Wenn du dich reintegrieren lässt, dann
wirst du vorsätzlich ausgenutzt.“
Cypher:
„Das ist mir egal, nach dem Plug-in weiss ich
es sowieso nicht mehr.“
Nozick & Vasiliou: „Aber du weisst es jetzt und deshalb
ist es
jetzt ethisch schlecht von dir so zu handeln.“
Cypher:
„ Der Verzicht auf echte Realität oder die
Instrumentalisierung sind nach euren Definitionen
ethisch schlecht,
aber es sind keine gute Gründe so zu handeln, zumindest nicht
für alle Menschen bei allen Gelegenheiten, zum Beispiel nicht
für mich, wenn ich jetzt ein gutes
Steak essen möchte.“
PS: und die Maschinen
?
Eine Perspektive haben wir bisher gänzlich ignoriert, die
der Maschinen. Diese sind ja im Film auch intelligente Wesen, und
verdienen es eigentlich als Moralsubjekte
anerkannt zu werden. Eine
so plausible wie erstaunliche Auffassung von der Maschinenperspektive
präsentiert Colin McGinn [10]: während des Krieges zwischen
Menschen und Maschinen (es ist
nicht bekannt, wer eigentlich begonnen
hat) versuchten die Menschen, durch die Verdunkelung des Himmels
den Gegner verhungern zu lassen – ein geplanter Genozid an
den intelligenten
Maschinenwesen. Dass die Menschen nun in Tanks
schwimmen und als Biobatterien verwendet werden ist ein Akt
der
Selbstverteidigung. Die notwendige Energiegewinnung wird für
die Menschen so
schmerzlos wie möglich durchgeführt und
es wird keiner getötet. Ja, es wurde den Menschen in
der ersten
Matrix sogar das reinste Paradies angeboten (was diese ablehnten)
und nun
machen sie ihr Leben lang so schöne Erfahrungen, wie
wir sie auch täglich machen und alles
für ein bisschen
Bioenergie, die sie sowieso nicht gebrauchen können. Im Vergleich
zum menschlichen Umgang mit ihren eigenen 'Energiequellen’,
den Kühen, Schweinen und
Hühnern etc. (die ja als Moralsubjekte
nicht so ganz auszuschliessen sind) scheinen die Maschinen
regelrechte
Wohltäter zu sein. Agent Smith geht in seinem legendären
Monolog
vor Morpheus (im ersten Film) sogar noch weiter: die Menschen
hätten ihre Zeit gehabt und sich, gleich
Viren, überall
auf der Welt ausgebreitet und Zerstörung hinterlassen. Aber
die
Geschichte ist vorangeschritten und hat die Maschinen an die
Macht gebracht, die Menschen sind nicht
länger die Unterdrücker
des Planeten und die Welt ist dadurch eine bessere.
Anmerkungen
[2]
Richard Hanley „Never the Twain shall meet: Reflections
on the first Matrix“
[3] Ich verwende den Begriff 'Ethik’/ 'ethisch’ so,
als ob damit
das, was gut ist, für einen Einzelnen gemeint
ist (z.B. das, was er für sein gutes Leben
hält). Im Gegensatz
dazu meine ich mit 'Moral’ / 'moralisch’ das, „was
wir wechselseitig voneinander fordern“ (Tugendhat), also das
was gut ist in Bezug auf andere.
[4] Robert Nozick "Anarchy, State and Utopia", 1974,
Basic Books; Kapitel "The experience machine" S.42
[5] Ebd.
[6] Christopher Grau "The Value of Reality: Cypher & the
Experience Machine"
[7] Peter Unger “Identity, Consciousness and
Value”
1990, Oxford
[8] Iakovor Vasiuou “Reality,
What matters, and the Matrix”,
eine ähnliche Auffassung wird auch von James Pryor in
“What’s
so bad about living in the Matrix” vertreten.
[9] Nozick macht ja auch die unbewiesene empirische Behauptung,
dass sich die meisten
nicht für die Alternative der von ihm
beschriebenen experience machine entscheiden
würden.
[10] Colin McGinn „The Matrix of Dreams“