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Erschienen in: Ausgabe #2 vom Januar 2004


von Sven-Uwe Janietz

Matrix Review - Virtualität und Ethik

Mit vergleichsweise bescheidener Werbung im Vorfeld fand im Herbst 2003 die Matrix-Trilogie der Wachowski-Brüder ihr Ende in einem Spezialeffekt-Action-Spektakel, das kaum noch jemanden so recht erfreuen wollte. Dennoch waren die Filme nicht nur an den Kinokassen erfolgreich, sondern gelten als philosophisch interessant. Im ersten Teil werden nämlich, mittels Szenarien virtueller Realität, einige tiefgehende Fragen gestellt, die nicht nur eine außerordentliche Resonanz des Publikums, sondern auch eine beachtliche Liste mit Beiträgen akademischer Philosophen zur Folge hatten. Die augenscheinliche Problemstellung scheint eine erkenntnistheoretische zu sein, eine Variante des cartesischen Zweifels am Wissen um die Existenz der äußeren Welt. Andere Philosophen meinen jedoch, dass unser erheblichstes Problem mit der Matrix nicht erkenntnistheoretischer, sondern ethischer Natur sei.

Matrix
Smiths - die Vertreter der Exekutive in der Matrix

Vermutlich kann man die Untersuchung des ethischen Problems nicht gut von dem erkenntnistheoretischen abkoppeln, doch zumindest ist es wohl möglich den Akzent auf ersteres zu setzen, wie es auch in etlichen Aufsätzen der „Matrix-Philosophen“ geschehen ist. Zu diesem Zwecke sollen die, teils höchst problematischen, Voraussetzungen des Films erst einmal anerkannt werden – das sind zunächst diese:

Die Menschheit führte einen Krieg mit einer anderen Intelligenz - den Maschinen. Die Maschinen gewannen die Vorherrschaft über die Erde, deren Himmel jedoch zuvor von den Menschen, in der Absicht dem Feind die Energieversorgung abzuschneiden, verdunkelt worden war. Es halfen sich die Maschinen damit, dass sie den Menschen selbst zu ihrer Energiequelle machten, zur Biobatterie sozusagen. Während also aktuell nur noch eine kleine Population von Menschen sich in der Untergrundfestung Zion verschanzt, schlafen zahllose andere ihr Leben lang künstlich ernährt in Kapseln und werden von den Maschinen mit einer eingegebenen Traumrealität versorgt, in der sie ihr gesamtes Leben verbringen – der Matrix.

Der Philosoph Richard Hanley [2] stellt fest, dass die Matrix eine interaktive, virtuelle Umgebung, die systematische, globale Vortäuschung einer Welt ist. Die virtuelle Interaktivität reicht dabei genau soweit, wie die Umgebung auf Aktionen der Teilnehmer reagiert. Echte Interaktion hingegen ist die Interaktion mit anderen, solchen, mit denen wir diese virtuelle Realität teilen. Damit ergeben sich zwei mögliche Arten der Matrix, zum einen eine gemeinschaftliche Matrix, in der mehrere Teilnehmer vernetzt sind und in einer gemeinsamen Realität echte Interaktionen stattfinden. Zum anderen wäre aber auch eine private Matrix (solitary Matrix) denkbar, in der zwar Interaktion, aber keine echte menschliche zu finden ist. Die Matrix im Film ist eine einzige, große, gemeinschaftliche Matrix.

Cypher, einer jener Menschen, die nicht mehr in der Kapsel schlafen, kennt beide Realitäten, die - von aussen betrachtet - virtuelle der Matrix, und die vermeintlich echte, in der die Maschinen herrschen. Die Matrixrealität ist praktischerweise unserer Welt der Gegenwart sehr ähnlich, so dass der Zuschauer sie ganz gut beurteilen kann. Die ‚echte’ Realität ist hingegen reichlich ungemütlich: permanent auf der lebensgefährlichen Flucht vor Maschinenwächtern, in lumpigen Kleidern, versorgt mit fadem, unleckerem Essen und abgeschnitten von jeglichem Tageslicht müssen die Menschen auf schmuddeligen Fortbewegungsmitteln einen aussichtslosen Krieg führen. Cypher findet die Vorzüglichkeit des Lebens in der 'echten’ Realität nicht überzeugend und begeht einen Verrat an seinen Gefährten, um in die Matrix reintegriert zu werden. Dem feindlichen Agenten, mit dem er zu diesem Zwecke verhandelt sagt er: „You know, I know that this steak doesn’t exist. I know when I put it in my mouth, the Matrix is telling my brain that it is juicy and delicious. After nine years, do you know what I’ve realized ? ... Ignorance is bliss ... I don’t want to remember nothing. Nothing ! You understand ? And I want to be rich. Someone important. Like an actor. You can do that, right ? “

Der Wert der echten Realität

Zweifellos ist Cyphers Tat unmoralisch, nimmt er doch schliesslich den hochwahrscheinlichen Tod seiner Kameraden und - aus seiner Sicht - vermutlich den sämtlicher Bewohner Zions in Kauf, nur um wieder saftige Steaks essen zu können. Aber nicht allein diese Umstände machen seine Tat ethisch [3] verdächtig, sondern schon der blosse Wille, sich wieder in die Matrix reintegrieren zu lassen, ja sogar das Verweilen in der Matrix mit dem Wissen, dass sie in einer umfassenderen Realität von anderen "eingegeben" ist, wird als schlecht bewertet - wie sonst könnten die Helden des Films eine so starke Überzeugung gewonnen haben, dass es richtig und gut sei, ihre Artgenossen zu erwecken. Welche Gründe aber haben sie für diese überaus schlechte Meinung von dem Leben der Menschen in der Matrix ? Was könnten sie Cypher erwidern, wenn dieser das saftige Steak in der Matrix dem pappigen Haferschleim Zions vorzuziehen gedenkt ?

Genau das fragt sich, in einem ganz ähnlichen Gedankenexperiment (das vielleicht sogar eine entscheidende Inspiration für die Autoren von Matrix gewesen sein könnte) der amerikanische Philosoph Robert Nozick [4]. Er stellt sich eine experience machine vor: diese würde demjenigen der angeschlossen ist Erfahrungen durch entsprechende Gehirnstimulation eingeben können, so dass der Angeschlossene denkt und fühlt er würde beispielsweise eine schöne Geschichte schreiben, Freunde treffen oder ein Buch lesen, während er 'in Wirklichkeit' in einem Tank liegt und Elektroden am Kopf trägt. Die experience machine kann jede mögliche Erfahrung anbieten - auch Snowboarden in Patagonien oder Tango-Tanzen in einer Düsseldorfer Bar - und ist wartungsfrei - alle können sich gleichzeitig anschliessen. Nach zwei Jahren erwacht man dann für kurze Zeit, um die Erfahrungen für die kommenden beiden auszuwählen.

Die gewöhnliche Reaktion auf das Gedankenexperiment, die Abneigung gegen die experience machine, soll zeigen, dass nicht allein die gemachte Erfahrung für uns zählt, also nicht nur, dass wir uns 'gut fühlen' - und so untersucht Nozick unter den beschriebenen Voraussetzungen "What else can matter to us, other than how our lives feel from inside?" [5]. Er findet drei Dinge, die für uns über die gemachte Erfahrung hinaus Wert haben:

N1) Wir wollen die Dinge tun und nicht nur die Empfindungen haben, die wir normalerweise haben, wenn wir diese bestimmten Dinge tun.

N2) Wir wollen eine bestimmte Person sein und nicht nur die Empfindungen haben, die wir normalerweise haben, wenn wir diese bestimmte Person sind; jemand der an der experience machine angeschlossen ist, begeht damit in gewissem Sinne Selbstmord, denn er ist gar keine Person mehr.

N3) Der Kontakt mit der Realität selbst ist an sich wertvoll, da in ihm die Möglichkeit tiefergehender Erfahrung liegt, im Gegensatz zu der an Tiefe vorfestgelegten, menschengemachten virtuellen Realität der experience machine .

Nozick schlussfolgert, dass wir am experience machine Beispiel sehen, dass für jemanden nicht nur seine Erfahrungen zählen, und meint auch, dass wir die Maschine faktisch nicht benutzen würden.

Nun ja, die Hypothese, dass wir faktisch von der Maschine abliessen, sagt ja, selbst wenn sie wahr wäre, bekanntlich nicht so viel darüber aus, ob wir es auch sollten - und nur das wäre ein Grund, den wir Cypher entgegnen könnten, denn der will ja nun offensichtlich nicht auf den Gebrauch eingegebener Erfahrungen verzichten.

Auch ist Nozicks experience machine keine ganz passende Analogie zur Matrix, denn es gibt wesentliche Unterschiede. Nozicks vage Beschreibung der experience machine legt nahe, dass der Angeschlossene zum passiven Rezipienten vorprogrammierter Erfahrungen wird (der einzige Moment, wo er aktiv entscheidet, wäre dann die Zeit seines kurzen Erwachens um das neue Programm zu wählen – man könnte es vielleicht mit dem Fernsehen vergleichen, wo der Zuschauer passiv das Programm wahrnimmt, ab und zu aber die Entscheidung trifft umzuschalten um darauf wieder passiv aufzunehmen). Die Matrix hingegen wird in gewissem Sinne dem freien Willen und der Entscheidungskraft ihrer Teilnehmer gerecht. Man könnte wohl auch sagen, dass es bei der experience machine keine Interaktion gibt, und wo es keine solche gibt, werden auch keine so zu nennenden Entscheidungen getroffen. Die Matrix bietet Platz für eigene Entscheidungen und die Interaktion in ihr ist, wie wir bereits festgestellt haben, sogar eine echte Zwischenmenschliche. Zudem hat der Matrixteilnehmer kein 'Persönlichkeitsproblem', da er nie aufwacht und bemerkt, dass er garnicht der ist, dessen Erfahrungen er gemacht hat (dass er beispielsweise den Körper eines dicken Programmierers hat und nicht den von Keanu Reeves). Die Funktionsweise der Matrix scheint zumindest die ersten beiden Argumente von Nozick etwas abzuschwächen. Denn wir tun ein bisschen mehr die Dinge, die zu tun wir erfahren und sind ein bisschen mehr die Person, die wir zu sein erfahren, wenn wir durch Entscheidungen mit der Umwelt interagieren. Letztlich scheint es ja auch nicht mehr zu sein, was wir von unserer 'echten Realität' erwarten können, als uns selbst für die Dinge, die wir anschliessend tun, zu entscheiden und dadurch die Person zu sein, die wir schliesslich sind. Nozicks drittes Argument wird aber dadurch nicht betroffen oder widerlegt.

Christopher Grau [6] überlegt in seinem Essay sogar, ob der hohe Wert, der der 'echten Welt’ für gewöhnlich zugebilligt wird, daher kommt, dass sie sich regelmässig als gut geeignet erweist, darin 'gute Erfahrungen’ zu erlangen. Unter diesen Umständen wäre es, so Grau, wie die Karre vor das Pferd zu spannen, wenn wir der 'echten Realität’ intrinsischen Wert zuzuschreiben – und das Pferd, die eigentliche Triebkraft, ist die 'gute Erfahrung’. Cypher könnte dann einfach fragen was denn so toll sein soll an der Realität, wenn sie uns nicht ermöglicht, irgend etwas Gutes oder Schönes zu erfahren.

Peter Unger [7] hält eine Sicht wie die Cyphers auf das, was gut sein soll, für zu simpel, und meint, dass unsere Werte tatsächlich von einer wesentlich komplexeren Art sind, als schlicht auf 'gute Erfahrung’ abzustellen. Er führt folgendes Beispiel an: Jemand, der an seine nächsten Verwandten denkt und eine Lebensversicherung abschliesst, hat, sofern er denn plötzlich stirbt keine Gelegenheit mehr, 'gute Erfahrungen’ damit zu machen (die Möglichkeit, dass er seine geliebten Verwandten aus dem Jenseits beobachten kann und sich dann dort gut fühlt, sei aussen vorgelassen). Das, was zum Abschliessen der Lebensversicherung motiviert, so Unger, ist unser grosses Interesse an der Zukunft unserer Verwandten, ob wir sie erleben oder nicht. Dieses und andere Beispiele zeigen zumindest die alltägliche Präsenz von Bewertungen, die offenbar nicht alleine mit den eigenen Erfahrungen zu begründen sind.

Restlos überzeugend scheint Ungers Argument aber dennoch nicht zu sein. Wie weiter oben festgestellt, könnte man ja demjenigen, der Entscheidungsfreiheit für intrinsisch wertvoll hält, entgegnen, dass er damit nur seine Ahnung ausdrückt, dass er sich entscheidungsfrei eben besser fühlt und zwar deshalb, weil er die Erfahrungen, die er unter entscheidungsfreien Umständen macht, tendenziell besser bewertet als die unter unfreien – das Kriterium sind bewusst gemachte Erfahrungen und ihre Bewertung. Mit einer gewissen Analogie könnte das Lebensversicherungs-Beispiel behandelt werden: das, was du gut bewertest ist nicht die - gegenwärtig inexistente - Zukunft deiner Verwanden, sondern die existente gute Erfahrung deiner Vorstellung, dass es ihnen einmal besser gehen könnte als ohne Lebensversicherung – das Kriterium ist wieder die gemachte Erfahrung.

Alles in allem entsteht der Eindruck, dass der Nachweis von ethisch Relevantem jenseits subjektiver Erfahrung durchaus problematisch ist, und es könnte vielleicht hilfreich sein, noch andere Perspektiven auf das Matrix-Problem einzubeziehen.

Die Verwerflichkeit der Instrumentalisierung

Morpheus meint, dass all die Menschen, die an die Matrix angeschlossen sind, Sklaven seien, denen die Wahrheit vorenthalten werde. Seine Bedenken richten sich also gegen Täuschung und Versklavung. Iakovor Vasiliou [8] fragt sich, inwiefern hinsichtlich dieser Vorwürfe ein Unterschied zwischen Matrix- und echter Realität besteht.

Versklavung bedeutet hauptsächlich den Zwang, Dinge zu tun, die man eigentlich nicht tun will, es ist eine Einschränkung der Handlungsfreiheit. Wir in unserer echten Realität sind zu vielen Sachen bei Todesstrafe gezwungen: zum Essen, zum Trinken, zum Schlafen. Auch kann man beispielsweise nicht durch seine bloße Entscheidung den Vollmond, weil einem seine runde Form nicht gefällt, quadratisch sehen. Und schliesslich werden wohl sehr viele von uns innerhalb der nächsten hundert Jahre sterben ohne es zu wollen – für uns alle gelten die Naturgesetze, ohne dass wir diesen etwa zugestimmt hätten. Versklavung ist aber nicht nur Einschränkung von jemandem, sonder wird gewöhnlich so verwendet, als das es auch jemandes bedürfte, der den Zwang ausübt (und der womöglich selbst Nutzen davon hat). Wem aber können wir die Naturgesetze, die uns ständig zwingen, zurechnen? sind sie Eigenschaften der Realität, für die niemand verantwortlich ist, oder hat sie uns ein Gott gegeben? (und wenn letzteres der Fall ist, sind wir dann nicht seine Sklaven?)

Täuschungen kamen und kommen in der echten Realität häufig vor, etwa in der Frage, wer von Sonne und Erde sich um wen dreht, oder anderen 'überholten’ wissenschaftlichen Thesen. Um der Täuschung einen ethisch schlechten Status zu geben, braucht es aber wieder jemanden der absichtlich täuscht. Gott oder die Natur selbst ?

Vasiliou kommt zu dem Ergebnis, dass wir, aufgrund unserer besonderen Position als Zuschauer des Films (gods-eye-perspective: wir können die Welt in und ausserhalb der Matrix sehen) erkennen, dass weder ein allgütiger Gott zu wunderbaren Zwecken noch die unpersönlichen Naturgesetze die Menschen in der Matrix täuschen und zwingen, sondern die Maschinen, und zwar in höchst eigennütziger Weise – und dass es das ist, was wir ablehnen.

Darauf folgt ein Gedankenexperiment: Nach einer selbstverschuldeten Klimakatastrophe und unerträglicher UV-Strahlung ist das Leben der Menschen auf der Erde quasi unmöglich geworden. Wissenschaftler haben aber vorher noch eine gewaltige, automatische und fortwährend laufende Maschine gebaut, die exakt das gleiche leistet wie die Matrix (betrieben durch Solarenergie, Biobatterien werden nicht benötigt). Die Umstände sind so lebensfeindlich, dass die Menschen für viele Generationen nur in Tanks überleben können – aber irgendwann, vielleicht in 100000 Jahren wird sich die Atmosphäre erholt haben und die Menschen müssen nicht mehr länger in den Tanks bleiben; dann wird die Maschine sie wecken.

Die Personen in den Klimaschutztanks befinden sich prinzipiell in der gleichen Situation wie jene in der Matrix: es gibt die Alternativen gute Erfahrungen in einer virtuellen Realität oder miserable Erfahrungen in der echten Realität (Tag für Tag bei Bewusstsein in einem Tank schwimmen, mit ein paar Schläuchen, die am Leben erhalten). Einziger Unterschied: von einer Aussenperspektive werden die Menschen nicht von anderen eigennützigen Intelligenzen ausgebeutet, sondern sie machen selbst den Versuch, ihr schwieriges Leben so schön wie möglich zu gestalten.

Das Gedankenexperiment zeigt uns, dass einige Zweifel an Nozicks Thesen entstehen können. Nozick müsste wohl darauf bestehen, dass es für die Menschen besser sei, bei vollem Bewusstsein in den Tanks zu schwimmen, weil sie dann wirklich tun, wirklich sind und den möglicherweise tieferen Kontakt mit der echten Realität pflegen. Vielleicht ist die Bewertung des Im-Tank-Schwimmens ja nur eine Frage der Gewohnheit, doch möchte ich die intuitive Behauptung wagen, dass sich sehr viele (die meisten) Menschen im skizzierten Falle für die virtuelle Realität entscheiden würden.[9] (Der Autor entwickelt den Gedanken sogar noch weiter: Wenn einige Leute, wie Morpheus, die Tanks verlassen hätten und feststellten, dass man unter sehr grossen Schwierigkeiten in der klimatisch extremen echten Umwelt überleben kann, sollten sie dann auch alle anderen Menschen 'aufwecken’ ? )

Vasilious Gedankenexperiment verschiebt den Fokus, der Ansatz ist jetzt nicht mehr, dass Erfahrungen der 'echten’ Realität an sich besser sind als Erfahrungen virtueller Realität, sondern: V2) Das Verweilen in der Matrix ist deswegen ethisch schlecht, weil wir damit von anderen instrumentalisiert werden.

Cypher?

Mir scheinen weder die Instrumentalisierungs-These noch Nozicks Gründe restlos plausibel, denn ebenso wie ein Wert der echten Realität an sich scheint mir auch die intrinsische Verwerflichkeit der Instrumentalisierung intuitiv nicht überzeugend zu sein. Wenn Morgen nach dem Mittagessen jemand zu mir käme um mir glaubhaft zu versichern, dass die Welt, wie ich sie bisher erfahren habe eine Täuschung der Natur sei und er mich davon befreien könnte (leider verliere ich dabei all meine Freunde, meinen eigenen Körper usw., da sie Teil der Täuschung sind), dann wäre ich ethisch nicht bewegt das zu tun. Selbst, wenn er mir unwiderlegbar aufweist, dass ein vegetarischer Gott mich die ganze Zeit täuscht, weil dadurch seine Salatgurken schneller wachsen, würde ich es nicht für ethisch vorzüglich halten ihm zu folgen.

Folgendes Gespräch könnte zwischen Cypher und den Philosophen stattfinden:

Cypher: „Mir reichts, ich mag keinen Haferschleim, ich lass mich jetzt Reintegrieren und esse ein Steak.“

Nozick: „Wenn du dich renintegrieren lässt, dann brichst du den Kontakt mit der echten Realität ab.“

Vasiliou: „Wenn du dich reintegrieren lässt, dann wirst du vorsätzlich ausgenutzt.“

Cypher: „Das ist mir egal, nach dem Plug-in weiss ich es sowieso nicht mehr.“

Nozick & Vasiliou: „Aber du weisst es jetzt und deshalb ist es jetzt ethisch schlecht von dir so zu handeln.“

Cypher: „ Der Verzicht auf echte Realität oder die Instrumentalisierung sind nach euren Definitionen ethisch schlecht, aber es sind keine gute Gründe so zu handeln, zumindest nicht für alle Menschen bei allen Gelegenheiten, zum Beispiel nicht für mich, wenn ich jetzt ein gutes Steak essen möchte.“

PS: und die Maschinen ?

Eine Perspektive haben wir bisher gänzlich ignoriert, die der Maschinen. Diese sind ja im Film auch intelligente Wesen, und verdienen es eigentlich als Moralsubjekte anerkannt zu werden. Eine so plausible wie erstaunliche Auffassung von der Maschinenperspektive präsentiert Colin McGinn [10]: während des Krieges zwischen Menschen und Maschinen (es ist nicht bekannt, wer eigentlich begonnen hat) versuchten die Menschen, durch die Verdunkelung des Himmels den Gegner verhungern zu lassen – ein geplanter Genozid an den intelligenten Maschinenwesen. Dass die Menschen nun in Tanks schwimmen und als Biobatterien verwendet werden ist ein Akt der Selbstverteidigung. Die notwendige Energiegewinnung wird für die Menschen so schmerzlos wie möglich durchgeführt und es wird keiner getötet. Ja, es wurde den Menschen in der ersten Matrix sogar das reinste Paradies angeboten (was diese ablehnten) und nun machen sie ihr Leben lang so schöne Erfahrungen, wie wir sie auch täglich machen und alles für ein bisschen Bioenergie, die sie sowieso nicht gebrauchen können. Im Vergleich zum menschlichen Umgang mit ihren eigenen 'Energiequellen’, den Kühen, Schweinen und Hühnern etc. (die ja als Moralsubjekte nicht so ganz auszuschliessen sind) scheinen die Maschinen regelrechte Wohltäter zu sein. Agent Smith geht in seinem legendären Monolog vor Morpheus (im ersten Film) sogar noch weiter: die Menschen hätten ihre Zeit gehabt und sich, gleich Viren, überall auf der Welt ausgebreitet und Zerstörung hinterlassen. Aber die Geschichte ist vorangeschritten und hat die Maschinen an die Macht gebracht, die Menschen sind nicht länger die Unterdrücker des Planeten und die Welt ist dadurch eine bessere.

Anmerkungen

[2] Richard Hanley „Never the Twain shall meet: Reflections on the first Matrix“

[3] Ich verwende den Begriff 'Ethik’/ 'ethisch’ so, als ob damit das, was gut ist, für einen Einzelnen gemeint ist (z.B. das, was er für sein gutes Leben hält). Im Gegensatz dazu meine ich mit 'Moral’ / 'moralisch’ das, „was wir wechselseitig voneinander fordern“ (Tugendhat), also das was gut ist in Bezug auf andere.

[4] Robert Nozick "Anarchy, State and Utopia", 1974, Basic Books; Kapitel "The experience machine" S.42

[5] Ebd.

[6] Christopher Grau "The Value of Reality: Cypher & the Experience Machine"

[7] Peter Unger “Identity, Consciousness and Value” 1990, Oxford

[8] Iakovor Vasiuou “Reality, What matters, and the Matrix”, eine ähnliche Auffassung wird auch von James Pryor in “What’s so bad about living in the Matrix” vertreten.

[9] Nozick macht ja auch die unbewiesene empirische Behauptung, dass sich die meisten nicht für die Alternative der von ihm beschriebenen experience machine entscheiden würden.

[10] Colin McGinn „The Matrix of Dreams“